Inachus, der uralte Stammfürst und König der Pe¬ lasger, hatte eine bildschöne Tochter mit Namen Io. Auf sie war der Blick Jupiters, des Olympischen Herrschers gefallen, als sie auf der Wiese von Lerna der Herden ih¬ res Vaters pflegte. Der Gott ward von Liebe zu ihr entzündet, trat zu ihr in Menschengestalt, und fing an, sie mit verführerischen Schmeichelworten zu versuchen: "O Jungfrau, glücklich ist, der dich besitzen wird; doch ist kein Sterblicher deiner werth, und du verdientest des höchsten Jupiter Braut zu seyn! Wisse denn, ich bin Ju¬ piter. Fliehe nicht vor mir. Die Hitze des Mittags brennt heiß. Tritt mit mir in den Schatten des erhabenen Hai¬ nes, der uns dort zur linken in seine Kühle einlädt; was machst du dir in der Gluth des Tages zu schaffen? Fürchte dich doch nicht, den dunkeln Wald und die Schluchten, in welchen das Wild hauset, zu betreten. Bin doch Ich da, dich zu schirmen, der Gott, der den Scepter des Him¬ mels führt, und die zackigen Blitze über den Erdboden versendet." Aber die Jungfrau floh vor dem Versucher mit eiligen Schritten, und sie wäre ihm auf den Flügeln der Angst entkommen, wenn der verfolgende Gott seine Macht nicht mißbraucht, und das ganze Land in dichte Finsterniß gehüllt hätte. Rings umqualmte die Fliehende der Nebel, und bald waren ihre Schritte gehemmt durch die Furcht, an einen Felsen zu rennen, oder in einen Fluß zu stürzen. So kam die unglückliche Jo in die Gewalt des Gottes.
Io.
Inachus, der uralte Stammfürſt und König der Pe¬ lasger, hatte eine bildſchöne Tochter mit Namen Io. Auf ſie war der Blick Jupiters, des Olympiſchen Herrſchers gefallen, als ſie auf der Wieſe von Lerna der Herden ih¬ res Vaters pflegte. Der Gott ward von Liebe zu ihr entzündet, trat zu ihr in Menſchengeſtalt, und fing an, ſie mit verführeriſchen Schmeichelworten zu verſuchen: „O Jungfrau, glücklich iſt, der dich beſitzen wird; doch iſt kein Sterblicher deiner werth, und du verdienteſt des höchſten Jupiter Braut zu ſeyn! Wiſſe denn, ich bin Ju¬ piter. Fliehe nicht vor mir. Die Hitze des Mittags brennt heiß. Tritt mit mir in den Schatten des erhabenen Hai¬ nes, der uns dort zur linken in ſeine Kühle einlädt; was machſt du dir in der Gluth des Tages zu ſchaffen? Fürchte dich doch nicht, den dunkeln Wald und die Schluchten, in welchen das Wild hauſet, zu betreten. Bin doch Ich da, dich zu ſchirmen, der Gott, der den Scepter des Him¬ mels führt, und die zackigen Blitze über den Erdboden verſendet.“ Aber die Jungfrau floh vor dem Verſucher mit eiligen Schritten, und ſie wäre ihm auf den Flügeln der Angſt entkommen, wenn der verfolgende Gott ſeine Macht nicht mißbraucht, und das ganze Land in dichte Finſterniß gehüllt hätte. Rings umqualmte die Fliehende der Nebel, und bald waren ihre Schritte gehemmt durch die Furcht, an einen Felſen zu rennen, oder in einen Fluß zu ſtürzen. So kam die unglückliche Jo in die Gewalt des Gottes.
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Io.
Inachus, der uralte Stammfürſt und König der Pe¬
lasger, hatte eine bildſchöne Tochter mit Namen Io. Auf
ſie war der Blick Jupiters, des Olympiſchen Herrſchers
gefallen, als ſie auf der Wieſe von Lerna der Herden ih¬
res Vaters pflegte. Der Gott ward von Liebe zu ihr
entzündet, trat zu ihr in Menſchengeſtalt, und fing an,
ſie mit verführeriſchen Schmeichelworten zu verſuchen:
„O Jungfrau, glücklich iſt, der dich beſitzen wird; doch
iſt kein Sterblicher deiner werth, und du verdienteſt des
höchſten Jupiter Braut zu ſeyn! Wiſſe denn, ich bin Ju¬
piter. Fliehe nicht vor mir. Die Hitze des Mittags brennt
heiß. Tritt mit mir in den Schatten des erhabenen Hai¬
nes, der uns dort zur linken in ſeine Kühle einlädt; was
machſt du dir in der Gluth des Tages zu ſchaffen? Fürchte
dich doch nicht, den dunkeln Wald und die Schluchten,
in welchen das Wild hauſet, zu betreten. Bin doch Ich
da, dich zu ſchirmen, der Gott, der den Scepter des Him¬
mels führt, und die zackigen Blitze über den Erdboden
verſendet.“ Aber die Jungfrau floh vor dem Verſucher
mit eiligen Schritten, und ſie wäre ihm auf den Flügeln
der Angſt entkommen, wenn der verfolgende Gott ſeine
Macht nicht mißbraucht, und das ganze Land in dichte
Finſterniß gehüllt hätte. Rings umqualmte die Fliehende
der Nebel, und bald waren ihre Schritte gehemmt durch
die Furcht, an einen Felſen zu rennen, oder in einen
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/46>, abgerufen am 24.11.2024.
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