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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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ten, endlich breitete sich auch wieder ebenes Land aus,
und zuletzt war die Erde wieder da.

Deukalion blickte sich um. Das Land war verwü¬
stet und in Grabesstille versenkt. Thränen rollten bei
diesem Anblick über seine Wangen, und er sprach zu sei¬
nem Weibe Pyrrha: "Geliebte, einzige Lebensgenossin!
So weit ich in die Länder schaue, nach allen Weltgegen¬
den hin, kann ich keine lebende Seele entdecken. Wir
zwei bilden mit einander das Volk der Erde, alle andern
sind in der Wasserfluth untergegangen. Aber auch wir
sind unsres Lebens noch nicht mit Gewißheit sicher. Jede
Wolke, die ich sehe, erschreckt meine Seele noch. Und
wenn auch alle Gefahr vorüber ist, was fangen wir
Einsamen auf der verlassenen Erde an? Ach, daß mich
mein Vater Prometheus die Kunst gelernt hätte, Menschen
zu erschaffen und geformtem Thone Geist einzugießen!" So
sprach er, und das verlassene Paar fing an zu weinen;
dann warfen sie vor einem halbzerstörten Altar der Göttin
Themis sich auf die Knie nieder und begannen zu der
Himmlischen zu flehen: "Sag' uns an, o Göttin, durch
welche Kunst stellen wir unser untergegangenes Geschlecht
wieder her! O hilf der versunkenen Welt wieder zum
Leben!"

"Verlasset meinen Altar, tönte die Stimme der Göt¬
tin, umschleiert euer Haupt, löset eure gegürteten Glieder,
und werfet die Gebeine eurer Mutter hinter den Rücken."

Lange verwunderten sich beide über diesen räthsel¬
haften Götterspruch. Pyrrha brach zuerst das Schweigen.
"Verzeih mir, hohe Göttin, sprach sie, wenn ich zusam¬
menschaudre, wenn ich dir nicht gehorsame und meiner
Mutter Schatten nicht durch Zerstreuung ihrer Gebeine

ten, endlich breitete ſich auch wieder ebenes Land aus,
und zuletzt war die Erde wieder da.

Deukalion blickte ſich um. Das Land war verwü¬
ſtet und in Grabesſtille verſenkt. Thränen rollten bei
dieſem Anblick über ſeine Wangen, und er ſprach zu ſei¬
nem Weibe Pyrrha: „Geliebte, einzige Lebensgenoſſin!
So weit ich in die Länder ſchaue, nach allen Weltgegen¬
den hin, kann ich keine lebende Seele entdecken. Wir
zwei bilden mit einander das Volk der Erde, alle andern
ſind in der Waſſerfluth untergegangen. Aber auch wir
ſind unſres Lebens noch nicht mit Gewißheit ſicher. Jede
Wolke, die ich ſehe, erſchreckt meine Seele noch. Und
wenn auch alle Gefahr vorüber iſt, was fangen wir
Einſamen auf der verlaſſenen Erde an? Ach, daß mich
mein Vater Prometheus die Kunſt gelernt hätte, Menſchen
zu erſchaffen und geformtem Thone Geiſt einzugießen!“ So
ſprach er, und das verlaſſene Paar fing an zu weinen;
dann warfen ſie vor einem halbzerſtörten Altar der Göttin
Themis ſich auf die Knie nieder und begannen zu der
Himmliſchen zu flehen: „Sag' uns an, o Göttin, durch
welche Kunſt ſtellen wir unſer untergegangenes Geſchlecht
wieder her! O hilf der verſunkenen Welt wieder zum
Leben!“

„Verlaſſet meinen Altar, tönte die Stimme der Göt¬
tin, umſchleiert euer Haupt, löſet eure gegürteten Glieder,
und werfet die Gebeine eurer Mutter hinter den Rücken.“

Lange verwunderten ſich beide über dieſen räthſel¬
haften Götterſpruch. Pyrrha brach zuerſt das Schweigen.
„Verzeih mir, hohe Göttin, ſprach ſie, wenn ich zuſam¬
menſchaudre, wenn ich dir nicht gehorſame und meiner
Mutter Schatten nicht durch Zerſtreuung ihrer Gebeine

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[18/0044] ten, endlich breitete ſich auch wieder ebenes Land aus, und zuletzt war die Erde wieder da. Deukalion blickte ſich um. Das Land war verwü¬ ſtet und in Grabesſtille verſenkt. Thränen rollten bei dieſem Anblick über ſeine Wangen, und er ſprach zu ſei¬ nem Weibe Pyrrha: „Geliebte, einzige Lebensgenoſſin! So weit ich in die Länder ſchaue, nach allen Weltgegen¬ den hin, kann ich keine lebende Seele entdecken. Wir zwei bilden mit einander das Volk der Erde, alle andern ſind in der Waſſerfluth untergegangen. Aber auch wir ſind unſres Lebens noch nicht mit Gewißheit ſicher. Jede Wolke, die ich ſehe, erſchreckt meine Seele noch. Und wenn auch alle Gefahr vorüber iſt, was fangen wir Einſamen auf der verlaſſenen Erde an? Ach, daß mich mein Vater Prometheus die Kunſt gelernt hätte, Menſchen zu erſchaffen und geformtem Thone Geiſt einzugießen!“ So ſprach er, und das verlaſſene Paar fing an zu weinen; dann warfen ſie vor einem halbzerſtörten Altar der Göttin Themis ſich auf die Knie nieder und begannen zu der Himmliſchen zu flehen: „Sag' uns an, o Göttin, durch welche Kunſt ſtellen wir unſer untergegangenes Geſchlecht wieder her! O hilf der verſunkenen Welt wieder zum Leben!“ „Verlaſſet meinen Altar, tönte die Stimme der Göt¬ tin, umſchleiert euer Haupt, löſet eure gegürteten Glieder, und werfet die Gebeine eurer Mutter hinter den Rücken.“ Lange verwunderten ſich beide über dieſen räthſel¬ haften Götterſpruch. Pyrrha brach zuerſt das Schweigen. „Verzeih mir, hohe Göttin, ſprach ſie, wenn ich zuſam¬ menſchaudre, wenn ich dir nicht gehorſame und meiner Mutter Schatten nicht durch Zerſtreuung ihrer Gebeine

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/44>, abgerufen am 29.03.2024.