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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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lynices aber athmete noch, wandte sein brechendes Auge
nach der Schwester und sprach: "Wie beklage ich dein
Loos, Schwester, wie auch das Loos des todten Bruders,
der aus einem Freunde mein Feind geworden ist. Jetzt
erst, im Tode, empfinde ich, daß ich ihn geliebt habe!
Du aber, liebe Schwester, begrabe mich in meiner Hei¬
math, und versöhne die zürnende Vaterstadt, daß sie mir,
obschon ich der Herrschaft beraubt worden bin, wenig¬
stens so viel gewähre! Drücke mir auch die Augen mit
deiner Hand zu: denn schon breitet die Nacht des Todes
ihre Schatten über mich aus."

So starb auch er in der Schwester Armen. Nun
erhob sich lauter Zwist von beiden Seiten unter der
Menge. Die Thebaner schrieben ihrem Herrn Eteokles
den Sieg zu, die Feinde Jenem. Derselbe Hader war
unter den Anführern und den Freunden der Gefallenen;
"Polynices führte den ersten Lanzenstoß!" hieß es da.
"Aber er war auch der Erste, der unterlegen ist!" scholl's
von der andern Seite entgegen. Unter diesem Streite
wurde zu den Waffen gegriffen; glücklicherweise für die
Thebaner hatten sich diese geordnet und in voller Waf¬
fenrüstung theils vor dem Zweikampfe, theils während
desselben und bei seinem Schlusse eingefunden, während
die Argiver die Waffen abgelegt und, wie des Sieges
gewiß, sorglos zugeschaut hatten. Die Thebaner warfen
sich also plötzlich auf's Argiverheer, ehe dieses sich mit
Rüstungen bedecken konnte. Sie fanden keinen Wider¬
stand; die waffenlosen Feinde füllten in ungeregelter
Flucht die Ebene, das Blut floß in Strömen, denn der
Wurf der Lanzen streckte zu Hunderten die Fliehenden
nieder. Bald war die Umgebung Thebe's von sämmtlichen

lynices aber athmete noch, wandte ſein brechendes Auge
nach der Schweſter und ſprach: „Wie beklage ich dein
Loos, Schweſter, wie auch das Loos des todten Bruders,
der aus einem Freunde mein Feind geworden iſt. Jetzt
erſt, im Tode, empfinde ich, daß ich ihn geliebt habe!
Du aber, liebe Schweſter, begrabe mich in meiner Hei¬
math, und verſöhne die zürnende Vaterſtadt, daß ſie mir,
obſchon ich der Herrſchaft beraubt worden bin, wenig¬
ſtens ſo viel gewähre! Drücke mir auch die Augen mit
deiner Hand zu: denn ſchon breitet die Nacht des Todes
ihre Schatten über mich aus.“

So ſtarb auch er in der Schweſter Armen. Nun
erhob ſich lauter Zwiſt von beiden Seiten unter der
Menge. Die Thebaner ſchrieben ihrem Herrn Eteokles
den Sieg zu, die Feinde Jenem. Derſelbe Hader war
unter den Anführern und den Freunden der Gefallenen;
„Polynices führte den erſten Lanzenſtoß!“ hieß es da.
„Aber er war auch der Erſte, der unterlegen iſt!“ ſcholl's
von der andern Seite entgegen. Unter dieſem Streite
wurde zu den Waffen gegriffen; glücklicherweiſe für die
Thebaner hatten ſich dieſe geordnet und in voller Waf¬
fenrüſtung theils vor dem Zweikampfe, theils während
deſſelben und bei ſeinem Schluſſe eingefunden, während
die Argiver die Waffen abgelegt und, wie des Sieges
gewiß, ſorglos zugeſchaut hatten. Die Thebaner warfen
ſich alſo plötzlich auf's Argiverheer, ehe dieſes ſich mit
Rüſtungen bedecken konnte. Sie fanden keinen Wider¬
ſtand; die waffenloſen Feinde füllten in ungeregelter
Flucht die Ebene, das Blut floß in Strömen, denn der
Wurf der Lanzen ſtreckte zu Hunderten die Fliehenden
nieder. Bald war die Umgebung Thebe's von ſämmtlichen

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[367/0393] lynices aber athmete noch, wandte ſein brechendes Auge nach der Schweſter und ſprach: „Wie beklage ich dein Loos, Schweſter, wie auch das Loos des todten Bruders, der aus einem Freunde mein Feind geworden iſt. Jetzt erſt, im Tode, empfinde ich, daß ich ihn geliebt habe! Du aber, liebe Schweſter, begrabe mich in meiner Hei¬ math, und verſöhne die zürnende Vaterſtadt, daß ſie mir, obſchon ich der Herrſchaft beraubt worden bin, wenig¬ ſtens ſo viel gewähre! Drücke mir auch die Augen mit deiner Hand zu: denn ſchon breitet die Nacht des Todes ihre Schatten über mich aus.“ So ſtarb auch er in der Schweſter Armen. Nun erhob ſich lauter Zwiſt von beiden Seiten unter der Menge. Die Thebaner ſchrieben ihrem Herrn Eteokles den Sieg zu, die Feinde Jenem. Derſelbe Hader war unter den Anführern und den Freunden der Gefallenen; „Polynices führte den erſten Lanzenſtoß!“ hieß es da. „Aber er war auch der Erſte, der unterlegen iſt!“ ſcholl's von der andern Seite entgegen. Unter dieſem Streite wurde zu den Waffen gegriffen; glücklicherweiſe für die Thebaner hatten ſich dieſe geordnet und in voller Waf¬ fenrüſtung theils vor dem Zweikampfe, theils während deſſelben und bei ſeinem Schluſſe eingefunden, während die Argiver die Waffen abgelegt und, wie des Sieges gewiß, ſorglos zugeſchaut hatten. Die Thebaner warfen ſich alſo plötzlich auf's Argiverheer, ehe dieſes ſich mit Rüſtungen bedecken konnte. Sie fanden keinen Wider¬ ſtand; die waffenloſen Feinde füllten in ungeregelter Flucht die Ebene, das Blut floß in Strömen, denn der Wurf der Lanzen ſtreckte zu Hunderten die Fliehenden nieder. Bald war die Umgebung Thebe's von ſämmtlichen

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 367. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/393>, abgerufen am 23.11.2024.