land entlassen!" Theseus befahl ihm zu schweigen, ohne Verzug mit ihm zu gehen und den Aufenthalt der Jung¬ frauen anzuzeigen; und in Kurzem führte er die gerette¬ ten Töchter dem tief gerührten Oedipus in die Arme. Kreon und die Diener waren abgezogen.
Oedipus und Polynices.
Aber noch sollte der arme Oedipus keine Ruhe ha¬ ben. Theseus brachte die Nachricht von seinem kurzen Zuge mit, daß ein naher Blutsverwandter desselben, je¬ doch nicht aus Thebe kommend, Kolonos betreten und sich an dem Altar des benachbarten Neptunustempels, wo Theseus eben geopfert hatte, als Schutzflehender nieder¬ gelassen habe. "Das ist mein hassenswerther Sohn Po¬ lynices," rief Oedipus zürnend aus! "Es wäre mir un¬ erträglich, ihn anhören zu müssen." Doch Antigone, die diesen Bruder als den sanfteren und besseren liebte, wußte die Zornaufwallung des Vaters zu dämpfen und dem Unglücklichen wenigstens Gehör zu verschaffen. Nachdem sich Oedipus auch gegen diesen den Arm seines Beschü¬ tzers ausgebeten hatte, falls er ihn mit Gewalt hinweg¬ führen wollte, ließ er den Sohn vor sich.
Polynices zeigte schon durch sein Auftreten eine ganz andere Gemüthsart, als sein Oheim Kreon, und Anti¬ gone versäumte nicht, ihren blinden Vater darauf auf¬ merksam zu machen. "Ich sehe jenen Fremdling," rief sie, "ohne Begleiter herzureiten! Ihm strömen die Thrä¬ nen aus den Augen." -- "Ist er es," fragte Oedipus und wendete sein Haupt ab. "Ja, Vater," erwiederte
Schwab, das klass. Alterthum. I. 22
land entlaſſen!“ Theſeus befahl ihm zu ſchweigen, ohne Verzug mit ihm zu gehen und den Aufenthalt der Jung¬ frauen anzuzeigen; und in Kurzem führte er die gerette¬ ten Töchter dem tief gerührten Oedipus in die Arme. Kreon und die Diener waren abgezogen.
Oedipus und Polynices.
Aber noch ſollte der arme Oedipus keine Ruhe ha¬ ben. Theſeus brachte die Nachricht von ſeinem kurzen Zuge mit, daß ein naher Blutsverwandter deſſelben, je¬ doch nicht aus Thebe kommend, Kolonos betreten und ſich an dem Altar des benachbarten Neptunustempels, wo Theſeus eben geopfert hatte, als Schutzflehender nieder¬ gelaſſen habe. „Das iſt mein haſſenswerther Sohn Po¬ lynices,“ rief Oedipus zürnend aus! „Es wäre mir un¬ erträglich, ihn anhören zu müſſen.“ Doch Antigone, die dieſen Bruder als den ſanfteren und beſſeren liebte, wußte die Zornaufwallung des Vaters zu dämpfen und dem Unglücklichen wenigſtens Gehör zu verſchaffen. Nachdem ſich Oedipus auch gegen dieſen den Arm ſeines Beſchü¬ tzers ausgebeten hatte, falls er ihn mit Gewalt hinweg¬ führen wollte, ließ er den Sohn vor ſich.
Polynices zeigte ſchon durch ſein Auftreten eine ganz andere Gemüthsart, als ſein Oheim Kreon, und Anti¬ gone verſäumte nicht, ihren blinden Vater darauf auf¬ merkſam zu machen. „Ich ſehe jenen Fremdling,“ rief ſie, „ohne Begleiter herzureiten! Ihm ſtrömen die Thrä¬ nen aus den Augen.“ — „Iſt er es,“ fragte Oedipus und wendete ſein Haupt ab. „Ja, Vater,“ erwiederte
Schwab, das klaſſ. Alterthum. I. 22
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land entlaſſen!“ Theſeus befahl ihm zu ſchweigen, ohne
Verzug mit ihm zu gehen und den Aufenthalt der Jung¬
frauen anzuzeigen; und in Kurzem führte er die gerette¬
ten Töchter dem tief gerührten Oedipus in die Arme.
Kreon und die Diener waren abgezogen.
Oedipus und Polynices .
Aber noch ſollte der arme Oedipus keine Ruhe ha¬
ben. Theſeus brachte die Nachricht von ſeinem kurzen
Zuge mit, daß ein naher Blutsverwandter deſſelben, je¬
doch nicht aus Thebe kommend, Kolonos betreten und ſich
an dem Altar des benachbarten Neptunustempels, wo
Theſeus eben geopfert hatte, als Schutzflehender nieder¬
gelaſſen habe. „Das iſt mein haſſenswerther Sohn Po¬
lynices,“ rief Oedipus zürnend aus! „Es wäre mir un¬
erträglich, ihn anhören zu müſſen.“ Doch Antigone, die
dieſen Bruder als den ſanfteren und beſſeren liebte, wußte
die Zornaufwallung des Vaters zu dämpfen und dem
Unglücklichen wenigſtens Gehör zu verſchaffen. Nachdem
ſich Oedipus auch gegen dieſen den Arm ſeines Beſchü¬
tzers ausgebeten hatte, falls er ihn mit Gewalt hinweg¬
führen wollte, ließ er den Sohn vor ſich.
Polynices zeigte ſchon durch ſein Auftreten eine ganz
andere Gemüthsart, als ſein Oheim Kreon, und Anti¬
gone verſäumte nicht, ihren blinden Vater darauf auf¬
merkſam zu machen. „Ich ſehe jenen Fremdling,“ rief
ſie, „ohne Begleiter herzureiten! Ihm ſtrömen die Thrä¬
nen aus den Augen.“ — „Iſt er es,“ fragte Oedipus
und wendete ſein Haupt ab. „Ja, Vater,“ erwiederte
Schwab, das klaſſ. Alterthum. I. 22
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 337. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/363>, abgerufen am 24.11.2024.
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