wie sollte ich es thun, da du noch dazu mir und mei¬ nem Lande so viel Heil versprichst, und von der Hand der Götter an meinen Herd geleitet worden bist!" Er ließ dem Oedipus hierauf die Wahl, mit ihm nach Athen zu gehen, oder hier in Kolonos als Gast zu bleiben. Dieser wählte das zweite, weil ihm vom Schicksale bestimmt sey, an der Stelle, wo er jetzt eben sich befinde, den Sieg über seine Feinde davon zu tragen und sein Leben rühm¬ lich zu beschließen. Der Athenerkönig versprach ihm den kräftigsten Schutz und kehrte in die Stadt zurück.
Oedipus und Kreon.
Bald darauf drang der König Kreon von Thebe mit Bewaffneten in Kolonos ein, und eilte auf Oedipus zu. "Ihr seyd von meinem Eintritt ins attische Gebiet überrascht," sprach er zu den noch immer versammelten Dorfbewohnern gewendet; "doch sorget und zürnet nicht: ich bin nicht so jung, im Uebermuthe gegen die stärkste Stadt Griechenlands einen Kampf zu unternehmen. Ich bin ein Greis, den seine Mitbürger nur abgesandt haben, diesen Mann hier durch gütliche Ueberredung zu bewe¬ gen, mit mir nach Thebe zurückzukehren." Dann kehrte er sich zu Oedipus und drückte in den ausgesuchtesten Worten eine erheuchelte Theilnahme an seinem und sei¬ ner Töchter Elend aus. Aber Oedipus erhob seinen Stab und streckte ihn aus, zum Zeichen, daß Kreon ihm nicht näher kommen solle. "Schamlosester Betrüger," rief er, "das fehlte noch zu meiner Pein, daß Du kämest und mich gefangen mit dir fortführtest! Hoffe nicht durch mich
wie ſollte ich es thun, da du noch dazu mir und mei¬ nem Lande ſo viel Heil verſprichſt, und von der Hand der Götter an meinen Herd geleitet worden biſt!“ Er ließ dem Oedipus hierauf die Wahl, mit ihm nach Athen zu gehen, oder hier in Kolonos als Gaſt zu bleiben. Dieſer wählte das zweite, weil ihm vom Schickſale beſtimmt ſey, an der Stelle, wo er jetzt eben ſich befinde, den Sieg über ſeine Feinde davon zu tragen und ſein Leben rühm¬ lich zu beſchließen. Der Athenerkönig verſprach ihm den kräftigſten Schutz und kehrte in die Stadt zurück.
Oedipus und Kreon.
Bald darauf drang der König Kreon von Thebe mit Bewaffneten in Kolonos ein, und eilte auf Oedipus zu. „Ihr ſeyd von meinem Eintritt ins attiſche Gebiet überraſcht,“ ſprach er zu den noch immer verſammelten Dorfbewohnern gewendet; „doch ſorget und zürnet nicht: ich bin nicht ſo jung, im Uebermuthe gegen die ſtärkſte Stadt Griechenlands einen Kampf zu unternehmen. Ich bin ein Greis, den ſeine Mitbürger nur abgeſandt haben, dieſen Mann hier durch gütliche Ueberredung zu bewe¬ gen, mit mir nach Thebe zurückzukehren.“ Dann kehrte er ſich zu Oedipus und drückte in den ausgeſuchteſten Worten eine erheuchelte Theilnahme an ſeinem und ſei¬ ner Töchter Elend aus. Aber Oedipus erhob ſeinen Stab und ſtreckte ihn aus, zum Zeichen, daß Kreon ihm nicht näher kommen ſolle. „Schamloſeſter Betrüger,“ rief er, „das fehlte noch zu meiner Pein, daß Du kämeſt und mich gefangen mit dir fortführteſt! Hoffe nicht durch mich
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wie ſollte ich es thun, da du noch dazu mir und mei¬
nem Lande ſo viel Heil verſprichſt, und von der Hand
der Götter an meinen Herd geleitet worden biſt!“ Er
ließ dem Oedipus hierauf die Wahl, mit ihm nach Athen
zu gehen, oder hier in Kolonos als Gaſt zu bleiben. Dieſer
wählte das zweite, weil ihm vom Schickſale beſtimmt ſey,
an der Stelle, wo er jetzt eben ſich befinde, den Sieg
über ſeine Feinde davon zu tragen und ſein Leben rühm¬
lich zu beſchließen. Der Athenerkönig verſprach ihm
den kräftigſten Schutz und kehrte in die Stadt zurück.
Oedipus und Kreon.
Bald darauf drang der König Kreon von Thebe
mit Bewaffneten in Kolonos ein, und eilte auf Oedipus
zu. „Ihr ſeyd von meinem Eintritt ins attiſche Gebiet
überraſcht,“ ſprach er zu den noch immer verſammelten
Dorfbewohnern gewendet; „doch ſorget und zürnet nicht:
ich bin nicht ſo jung, im Uebermuthe gegen die ſtärkſte
Stadt Griechenlands einen Kampf zu unternehmen. Ich
bin ein Greis, den ſeine Mitbürger nur abgeſandt haben,
dieſen Mann hier durch gütliche Ueberredung zu bewe¬
gen, mit mir nach Thebe zurückzukehren.“ Dann kehrte
er ſich zu Oedipus und drückte in den ausgeſuchteſten
Worten eine erheuchelte Theilnahme an ſeinem und ſei¬
ner Töchter Elend aus. Aber Oedipus erhob ſeinen Stab
und ſtreckte ihn aus, zum Zeichen, daß Kreon ihm nicht
näher kommen ſolle. „Schamloſeſter Betrüger,“ rief er,
„das fehlte noch zu meiner Pein, daß Du kämeſt und mich
gefangen mit dir fortführteſt! Hoffe nicht durch mich
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 335. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/361>, abgerufen am 24.11.2024.
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