Jupiter unter der Gestalt eines Gutes ein blendendes Uebel geschaffen, und nannte sie Pandora, das heißt die Allbeschenkte, denn jeder der Unsterblichen hatte dem Mägdlein irgend ein unheilbringendes Geschenk für die Menschen mitgegeben. Darauf führte er die Jung¬ frau hernieder auf die Erde, wo Sterbliche vermischt mit den Göttern lustwandelten. Alle mit einander bewunder¬ ten die unvergleichliche Gestalt. Sie aber schritt zu Epi¬ metheus, dem argloseren Bruder des Prometheus, ihm das Geschenk Jupiters zu bringen. Vergebens hatte diesen der Bruder gewarnt, niemals ein Geschenk vom Olympischen Jupiter anzunehmen, damit dem Menschen kein Leid dadurch widerführe, sondern es sofort zurück¬ zusenden. Epimetheus, dieses Wortes uneingedenk, nahm die schöne Jungfrau mit Freuden auf, und empfand das Uebel erst als er es hatte. Denn bisher lebten die Ge¬ schlechter der Menschen, von seinem Bruder berathen, frei vom Uebel, ohne beschwerliche Arbeit, ohne quälende Krankheit. Das Weib aber trug in den Händen ihr Geschenk, ein großes Gefäß mit einem Deckel versehen. Kaum bei Epimetheus angekommen, schlug sie den Deckel zurück, und alsbald entflog dem Gefässe eine Schaar von Uebeln und verbreitete sich mit Blitzesschnelle über die Erde. Ein einziges Gut war zu unterst in dem Fasse verborgen, die Hoffnung; aber auf den Rath des Götter¬ vaters warf Pandora den Deckel wieder zu, ehe sie her¬ ausflattern konnte und verschloß sie für immer in dem Gefäß. Das Elend füllte inzwischen in allen Gestalten Erde, Luft und Meer. Die Krankheiten irrten bei Tag und bei Nacht unter den Menschen umher, heimlich und schweigend, denn Jupiter hatte ihnen keine Stimme gege¬
Jupiter unter der Geſtalt eines Gutes ein blendendes Uebel geſchaffen, und nannte ſie Pandora, das heißt die Allbeſchenkte, denn jeder der Unſterblichen hatte dem Mägdlein irgend ein unheilbringendes Geſchenk für die Menſchen mitgegeben. Darauf führte er die Jung¬ frau hernieder auf die Erde, wo Sterbliche vermiſcht mit den Göttern luſtwandelten. Alle mit einander bewunder¬ ten die unvergleichliche Geſtalt. Sie aber ſchritt zu Epi¬ metheus, dem argloſeren Bruder des Prometheus, ihm das Geſchenk Jupiters zu bringen. Vergebens hatte dieſen der Bruder gewarnt, niemals ein Geſchenk vom Olympiſchen Jupiter anzunehmen, damit dem Menſchen kein Leid dadurch widerführe, ſondern es ſofort zurück¬ zuſenden. Epimetheus, dieſes Wortes uneingedenk, nahm die ſchöne Jungfrau mit Freuden auf, und empfand das Uebel erſt als er es hatte. Denn bisher lebten die Ge¬ ſchlechter der Menſchen, von ſeinem Bruder berathen, frei vom Uebel, ohne beſchwerliche Arbeit, ohne quälende Krankheit. Das Weib aber trug in den Händen ihr Geſchenk, ein großes Gefäß mit einem Deckel verſehen. Kaum bei Epimetheus angekommen, ſchlug ſie den Deckel zurück, und alsbald entflog dem Gefäſſe eine Schaar von Uebeln und verbreitete ſich mit Blitzesſchnelle über die Erde. Ein einziges Gut war zu unterſt in dem Faſſe verborgen, die Hoffnung; aber auf den Rath des Götter¬ vaters warf Pandora den Deckel wieder zu, ehe ſie her¬ ausflattern konnte und verſchloß ſie für immer in dem Gefäß. Das Elend füllte inzwiſchen in allen Geſtalten Erde, Luft und Meer. Die Krankheiten irrten bei Tag und bei Nacht unter den Menſchen umher, heimlich und ſchweigend, denn Jupiter hatte ihnen keine Stimme gege¬
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Jupiter unter der Geſtalt eines Gutes ein blendendes
Uebel geſchaffen, und nannte ſie Pandora, das heißt
die Allbeſchenkte, denn jeder der Unſterblichen hatte
dem Mägdlein irgend ein unheilbringendes Geſchenk für
die Menſchen mitgegeben. Darauf führte er die Jung¬
frau hernieder auf die Erde, wo Sterbliche vermiſcht mit
den Göttern luſtwandelten. Alle mit einander bewunder¬
ten die unvergleichliche Geſtalt. Sie aber ſchritt zu Epi¬
metheus, dem argloſeren Bruder des Prometheus, ihm
das Geſchenk Jupiters zu bringen. Vergebens hatte
dieſen der Bruder gewarnt, niemals ein Geſchenk vom
Olympiſchen Jupiter anzunehmen, damit dem Menſchen
kein Leid dadurch widerführe, ſondern es ſofort zurück¬
zuſenden. Epimetheus, dieſes Wortes uneingedenk, nahm
die ſchöne Jungfrau mit Freuden auf, und empfand das
Uebel erſt als er es hatte. Denn bisher lebten die Ge¬
ſchlechter der Menſchen, von ſeinem Bruder berathen, frei
vom Uebel, ohne beſchwerliche Arbeit, ohne quälende
Krankheit. Das Weib aber trug in den Händen ihr
Geſchenk, ein großes Gefäß mit einem Deckel verſehen.
Kaum bei Epimetheus angekommen, ſchlug ſie den Deckel
zurück, und alsbald entflog dem Gefäſſe eine Schaar von
Uebeln und verbreitete ſich mit Blitzesſchnelle über die
Erde. Ein einziges Gut war zu unterſt in dem Faſſe
verborgen, die Hoffnung; aber auf den Rath des Götter¬
vaters warf Pandora den Deckel wieder zu, ehe ſie her¬
ausflattern konnte und verſchloß ſie für immer in dem
Gefäß. Das Elend füllte inzwiſchen in allen Geſtalten
Erde, Luft und Meer. Die Krankheiten irrten bei Tag
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/33>, abgerufen am 25.11.2024.
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