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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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genen Augen habe ich mich von dem Jammerloose des Va¬
ters überzeugt. Ich traf ihn auf dem Vorgebirge Cenäum,
wo er eben dem Ueberwinder Zeus auf vielen Dank¬
altären zugleich Brandopfer schlachten wollte. Da erschien
der Herold Lichas, sein Diener, mit deiner Gabe, deinem
verfluchten, mörderischen Gewande. Deinem Auftrage
folgend, legte er das Unterkleid sogleich an, und damit
geschmückt begann die Opferung zwölf stattlicher Stiere.
Anfangs betete der Unglückselige deines schönen Schmuckes
froh, voll Heiterkeit. Plötzlich aber, als die Opferglut
schon gen Himmel flammte, durchbrach ein heftiger Schweiß
seine Haut, das Gewand schien, wie vom Schmied ange¬
löthet, an seinen Seiten zu kleben, und eine Zuckung
fuhr durch sein ganzes Gebein. Als fräße eine Natter
an seinem Leibe, schrie der Gequälte brüllend nach Lichas,
dem unschuldigen Ueberbringer deines giftigen Gewandes;
dieser kam und wiederholte unbefangen deinen Auftrag;
der Vater aber ergriff ihn am Fuße und warf ihn an
die Felsen des Meeres, daß er zerschmettert in der auf¬
spritzenden Fluth untersank. Das ganze Volk jammerte
bei dieser That des Wahnsinnes auf, und niemand wagte
sich dem rasenden Helden zu nähern. Dieser wälzte sich
bald auf dem Boden, bald sprang er heulend wieder auf,
daß rings Fels und Waldgebirge wiederhallten. Er ver¬
fluchte dich und euren Ehebund, der ihm zur Todesqual
geworden. Endlich kehrte er sich zu mir und rief: "Söhn¬
lein, wenn du Mitleid mit deinem Vater empfindest, so
schiffe mit mir ohne Zögerung fort, daß ich nicht im frem¬
den Lande sterbe!" Auf dieses Verlangen legten wir
den Armen in das Schiff, und unter Zuckungen brüllend
ist er hier angelangt, und bald wirst du ihn lebendig oder

genen Augen habe ich mich von dem Jammerlooſe des Va¬
ters überzeugt. Ich traf ihn auf dem Vorgebirge Cenäum,
wo er eben dem Ueberwinder Zeus auf vielen Dank¬
altären zugleich Brandopfer ſchlachten wollte. Da erſchien
der Herold Lichas, ſein Diener, mit deiner Gabe, deinem
verfluchten, mörderiſchen Gewande. Deinem Auftrage
folgend, legte er das Unterkleid ſogleich an, und damit
geſchmückt begann die Opferung zwölf ſtattlicher Stiere.
Anfangs betete der Unglückſelige deines ſchönen Schmuckes
froh, voll Heiterkeit. Plötzlich aber, als die Opferglut
ſchon gen Himmel flammte, durchbrach ein heftiger Schweiß
ſeine Haut, das Gewand ſchien, wie vom Schmied ange¬
löthet, an ſeinen Seiten zu kleben, und eine Zuckung
fuhr durch ſein ganzes Gebein. Als fräße eine Natter
an ſeinem Leibe, ſchrie der Gequälte brüllend nach Lichas,
dem unſchuldigen Ueberbringer deines giftigen Gewandes;
dieſer kam und wiederholte unbefangen deinen Auftrag;
der Vater aber ergriff ihn am Fuße und warf ihn an
die Felſen des Meeres, daß er zerſchmettert in der auf¬
ſpritzenden Fluth unterſank. Das ganze Volk jammerte
bei dieſer That des Wahnſinnes auf, und niemand wagte
ſich dem raſenden Helden zu nähern. Dieſer wälzte ſich
bald auf dem Boden, bald ſprang er heulend wieder auf,
daß rings Fels und Waldgebirge wiederhallten. Er ver¬
fluchte dich und euren Ehebund, der ihm zur Todesqual
geworden. Endlich kehrte er ſich zu mir und rief: „Söhn¬
lein, wenn du Mitleid mit deinem Vater empfindeſt, ſo
ſchiffe mit mir ohne Zögerung fort, daß ich nicht im frem¬
den Lande ſterbe!“ Auf dieſes Verlangen legten wir
den Armen in das Schiff, und unter Zuckungen brüllend
iſt er hier angelangt, und bald wirſt du ihn lebendig oder

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[265/0291] genen Augen habe ich mich von dem Jammerlooſe des Va¬ ters überzeugt. Ich traf ihn auf dem Vorgebirge Cenäum, wo er eben dem Ueberwinder Zeus auf vielen Dank¬ altären zugleich Brandopfer ſchlachten wollte. Da erſchien der Herold Lichas, ſein Diener, mit deiner Gabe, deinem verfluchten, mörderiſchen Gewande. Deinem Auftrage folgend, legte er das Unterkleid ſogleich an, und damit geſchmückt begann die Opferung zwölf ſtattlicher Stiere. Anfangs betete der Unglückſelige deines ſchönen Schmuckes froh, voll Heiterkeit. Plötzlich aber, als die Opferglut ſchon gen Himmel flammte, durchbrach ein heftiger Schweiß ſeine Haut, das Gewand ſchien, wie vom Schmied ange¬ löthet, an ſeinen Seiten zu kleben, und eine Zuckung fuhr durch ſein ganzes Gebein. Als fräße eine Natter an ſeinem Leibe, ſchrie der Gequälte brüllend nach Lichas, dem unſchuldigen Ueberbringer deines giftigen Gewandes; dieſer kam und wiederholte unbefangen deinen Auftrag; der Vater aber ergriff ihn am Fuße und warf ihn an die Felſen des Meeres, daß er zerſchmettert in der auf¬ ſpritzenden Fluth unterſank. Das ganze Volk jammerte bei dieſer That des Wahnſinnes auf, und niemand wagte ſich dem raſenden Helden zu nähern. Dieſer wälzte ſich bald auf dem Boden, bald ſprang er heulend wieder auf, daß rings Fels und Waldgebirge wiederhallten. Er ver¬ fluchte dich und euren Ehebund, der ihm zur Todesqual geworden. Endlich kehrte er ſich zu mir und rief: „Söhn¬ lein, wenn du Mitleid mit deinem Vater empfindeſt, ſo ſchiffe mit mir ohne Zögerung fort, daß ich nicht im frem¬ den Lande ſterbe!“ Auf dieſes Verlangen legten wir den Armen in das Schiff, und unter Zuckungen brüllend iſt er hier angelangt, und bald wirſt du ihn lebendig oder

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 265. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/291>, abgerufen am 22.11.2024.