todt vor dir sehen. Das Alles ist dein Werk, Mutter. Den allerbesten Helden hast du jämmerlich dahingemordet!" Deianira, ohne sich auf diese schreckliche Rede zu rechtfertigen, verließ ihren Sohn Hyllus in schweigender Verzweiflung. Das Hausgesinde, dem sie ihr Geheimniß, den Gatten sich durch des Nessus Zaubersalbe treu zu er¬ halten, früher anvertraut hatte, belehrte den Knaben, daß sein Jähzorn der Mutter Unrecht gethan. Er eilte der Unglücklichen nach, aber er kam zu spät. Sie lag im Schlafgemach todt auf dem Lager ihres Gatten ausge¬ streckt, die Brust mit einem zweischneidigen Schwerte durchbohrt. Der Sohn umarmte jammernd die Leiche, und streckte sich dann zu ihrer Seite hin, seine Unbe¬ dachtsamkeit beseufzend. Die Ankunft des Vaters im Pallaste störte ihn aus dieser kläglichen Ruhe auf. "Sohn," rief dieser, "Sohn, wo bist du? Zieh doch das Schwert ge¬ gen deinen Vater, durchhaue mir den Nacken, und heile so die Wuth, in welche deine gottlose Mutter mich ver¬ setzt hat! Zage nicht, sey mitleidig mit mir, mit einem Helden, der, wie ein Mägdlein, in Thränen schluch¬ zen muß!" Dann wandte er sich verzweiflungsvoll an die Umstehenden, streckte seine Arme aus, und rief: "Kennet ihr diese Glieder, denen das Mark entsaugt ist, noch? Es sind dieselben, die den Schrecken der Hirten, den nemeischen Löwen gebändigt, die den Drachen von Lerna erwürgt, die den erymantischen Eber erlegen hal¬ fen, die den Cerberus aus der Hölle heraufgetragen! Kein Speer, kein wildes Thier des Waldes, kein Gigan¬ tenheer hat mich überwältigt; die Hand eines Weibes hat mich vertilgt! Darum, Sohn, tödte mich und strafe deine Mutter!"
todt vor dir ſehen. Das Alles iſt dein Werk, Mutter. Den allerbeſten Helden haſt du jämmerlich dahingemordet!“ Deïanira, ohne ſich auf dieſe ſchreckliche Rede zu rechtfertigen, verließ ihren Sohn Hyllus in ſchweigender Verzweiflung. Das Hausgeſinde, dem ſie ihr Geheimniß, den Gatten ſich durch des Neſſus Zauberſalbe treu zu er¬ halten, früher anvertraut hatte, belehrte den Knaben, daß ſein Jähzorn der Mutter Unrecht gethan. Er eilte der Unglücklichen nach, aber er kam zu ſpät. Sie lag im Schlafgemach todt auf dem Lager ihres Gatten ausge¬ ſtreckt, die Bruſt mit einem zweiſchneidigen Schwerte durchbohrt. Der Sohn umarmte jammernd die Leiche, und ſtreckte ſich dann zu ihrer Seite hin, ſeine Unbe¬ dachtſamkeit beſeufzend. Die Ankunft des Vaters im Pallaſte ſtörte ihn aus dieſer kläglichen Ruhe auf. „Sohn,“ rief dieſer, „Sohn, wo biſt du? Zieh doch das Schwert ge¬ gen deinen Vater, durchhaue mir den Nacken, und heile ſo die Wuth, in welche deine gottloſe Mutter mich ver¬ ſetzt hat! Zage nicht, ſey mitleidig mit mir, mit einem Helden, der, wie ein Mägdlein, in Thränen ſchluch¬ zen muß!“ Dann wandte er ſich verzweiflungsvoll an die Umſtehenden, ſtreckte ſeine Arme aus, und rief: „Kennet ihr dieſe Glieder, denen das Mark entſaugt iſt, noch? Es ſind dieſelben, die den Schrecken der Hirten, den nemeiſchen Löwen gebändigt, die den Drachen von Lerna erwürgt, die den erymantiſchen Eber erlegen hal¬ fen, die den Cerberus aus der Hölle heraufgetragen! Kein Speer, kein wildes Thier des Waldes, kein Gigan¬ tenheer hat mich überwältigt; die Hand eines Weibes hat mich vertilgt! Darum, Sohn, tödte mich und ſtrafe deine Mutter!“
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todt vor dir ſehen. Das Alles iſt dein Werk, Mutter.
Den allerbeſten Helden haſt du jämmerlich dahingemordet!“
Deïanira, ohne ſich auf dieſe ſchreckliche Rede zu
rechtfertigen, verließ ihren Sohn Hyllus in ſchweigender
Verzweiflung. Das Hausgeſinde, dem ſie ihr Geheimniß,
den Gatten ſich durch des Neſſus Zauberſalbe treu zu er¬
halten, früher anvertraut hatte, belehrte den Knaben, daß
ſein Jähzorn der Mutter Unrecht gethan. Er eilte der
Unglücklichen nach, aber er kam zu ſpät. Sie lag im
Schlafgemach todt auf dem Lager ihres Gatten ausge¬
ſtreckt, die Bruſt mit einem zweiſchneidigen Schwerte
durchbohrt. Der Sohn umarmte jammernd die Leiche,
und ſtreckte ſich dann zu ihrer Seite hin, ſeine Unbe¬
dachtſamkeit beſeufzend. Die Ankunft des Vaters im Pallaſte
ſtörte ihn aus dieſer kläglichen Ruhe auf. „Sohn,“ rief
dieſer, „Sohn, wo biſt du? Zieh doch das Schwert ge¬
gen deinen Vater, durchhaue mir den Nacken, und heile
ſo die Wuth, in welche deine gottloſe Mutter mich ver¬
ſetzt hat! Zage nicht, ſey mitleidig mit mir, mit einem
Helden, der, wie ein Mägdlein, in Thränen ſchluch¬
zen muß!“ Dann wandte er ſich verzweiflungsvoll
an die Umſtehenden, ſtreckte ſeine Arme aus, und rief:
„Kennet ihr dieſe Glieder, denen das Mark entſaugt iſt,
noch? Es ſind dieſelben, die den Schrecken der Hirten,
den nemeiſchen Löwen gebändigt, die den Drachen von
Lerna erwürgt, die den erymantiſchen Eber erlegen hal¬
fen, die den Cerberus aus der Hölle heraufgetragen!
Kein Speer, kein wildes Thier des Waldes, kein Gigan¬
tenheer hat mich überwältigt; die Hand eines Weibes
hat mich vertilgt! Darum, Sohn, tödte mich und ſtrafe
deine Mutter!“
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 266. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/292>, abgerufen am 22.11.2024.
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