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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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Sitze vorüber reisten, höflich zu Gaste. Nach dem Mahle
zwang er sie mit ihm in seine Aernte zu gehen und des
Abends schlug er ihnen die Köpfe ab. Auch diesen Ty¬
rannen brachte Herkules um und warf ihn in den Fluß
Mäander. Einmal fuhr er auf einem dieser Züge an
der Insel Doliche an, und sah hier einen Leichnam, von
den Wellen herangespült, am Gestade liegen. Es war
die Leiche des unglücklichen Icarus, der mit den wachs¬
gefügten Flügeln seines Vaters auf der Flucht aus dem
Labyrinthe zu Kreta der Sonne zu nahe gekommen und
in das Meer gefallen war. Mitleidig begrub Herkules
den Verunglückten und gab der Insel, ihm zu Ehren, den
Namen Icaria. Für diesen Dienst errichtete der Vater
des Icarus, der kunstreiche Dädalus, das wohlgetroffene
Bildniß des Herkules zu Pisa. Der Held selbst aber,
als er einst dorthin kam, hielt das Bild, von der Dunkel¬
heit der Nacht getäuscht, für belebt. Seine eigene Hel¬
dengebärde erschien ihm als das Drohen eines Feindes,
er griff zu einem Steine und zerschmetterte so das schöne
Denkmal, das seiner Barmherzigkeit vom Freunde gesetzt
worden war. In die Zeit seiner Knechtschaft bei Om¬
phale fiel auch die Theilnahme des Helden an der Jagd
des calydonischen Ebers.

Omphale bewunderte die Tapferkeit ihres Knechts,
und mochte wohl ahnen, daß ein herrlicher, weltberühm¬
ter Held ihr Sclave sey. Nachdem sie erfahren, daß er
Herkules, der große Sohn Jupiters, sey, gab sie ihm
nicht nur in Anerkenntniß seiner Verdienste die Freiheit
wieder, sondern sie vermählte sich auch mit ihm. Aber Her¬
kules vergaß hier im üppigen Leben des Morgenlandes der
Lehren, die ihm die Tugend am Scheidewege seines Ju¬

Sitze vorüber reisten, höflich zu Gaſte. Nach dem Mahle
zwang er ſie mit ihm in ſeine Aernte zu gehen und des
Abends ſchlug er ihnen die Köpfe ab. Auch dieſen Ty¬
rannen brachte Herkules um und warf ihn in den Fluß
Mäander. Einmal fuhr er auf einem dieſer Züge an
der Inſel Doliche an, und ſah hier einen Leichnam, von
den Wellen herangeſpült, am Geſtade liegen. Es war
die Leiche des unglücklichen Icarus, der mit den wachs¬
gefügten Flügeln ſeines Vaters auf der Flucht aus dem
Labyrinthe zu Kreta der Sonne zu nahe gekommen und
in das Meer gefallen war. Mitleidig begrub Herkules
den Verunglückten und gab der Inſel, ihm zu Ehren, den
Namen Icaria. Für dieſen Dienſt errichtete der Vater
des Icarus, der kunſtreiche Dädalus, das wohlgetroffene
Bildniß des Herkules zu Piſa. Der Held ſelbſt aber,
als er einſt dorthin kam, hielt das Bild, von der Dunkel¬
heit der Nacht getäuſcht, für belebt. Seine eigene Hel¬
dengebärde erſchien ihm als das Drohen eines Feindes,
er griff zu einem Steine und zerſchmetterte ſo das ſchöne
Denkmal, das ſeiner Barmherzigkeit vom Freunde geſetzt
worden war. In die Zeit ſeiner Knechtſchaft bei Om¬
phale fiel auch die Theilnahme des Helden an der Jagd
des calydoniſchen Ebers.

Omphale bewunderte die Tapferkeit ihres Knechts,
und mochte wohl ahnen, daß ein herrlicher, weltberühm¬
ter Held ihr Sclave ſey. Nachdem ſie erfahren, daß er
Herkules, der große Sohn Jupiters, ſey, gab ſie ihm
nicht nur in Anerkenntniß ſeiner Verdienſte die Freiheit
wieder, ſondern ſie vermählte ſich auch mit ihm. Aber Her¬
kules vergaß hier im üppigen Leben des Morgenlandes der
Lehren, die ihm die Tugend am Scheidewege ſeines Ju¬

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[250/0276] Sitze vorüber reisten, höflich zu Gaſte. Nach dem Mahle zwang er ſie mit ihm in ſeine Aernte zu gehen und des Abends ſchlug er ihnen die Köpfe ab. Auch dieſen Ty¬ rannen brachte Herkules um und warf ihn in den Fluß Mäander. Einmal fuhr er auf einem dieſer Züge an der Inſel Doliche an, und ſah hier einen Leichnam, von den Wellen herangeſpült, am Geſtade liegen. Es war die Leiche des unglücklichen Icarus, der mit den wachs¬ gefügten Flügeln ſeines Vaters auf der Flucht aus dem Labyrinthe zu Kreta der Sonne zu nahe gekommen und in das Meer gefallen war. Mitleidig begrub Herkules den Verunglückten und gab der Inſel, ihm zu Ehren, den Namen Icaria. Für dieſen Dienſt errichtete der Vater des Icarus, der kunſtreiche Dädalus, das wohlgetroffene Bildniß des Herkules zu Piſa. Der Held ſelbſt aber, als er einſt dorthin kam, hielt das Bild, von der Dunkel¬ heit der Nacht getäuſcht, für belebt. Seine eigene Hel¬ dengebärde erſchien ihm als das Drohen eines Feindes, er griff zu einem Steine und zerſchmetterte ſo das ſchöne Denkmal, das ſeiner Barmherzigkeit vom Freunde geſetzt worden war. In die Zeit ſeiner Knechtſchaft bei Om¬ phale fiel auch die Theilnahme des Helden an der Jagd des calydoniſchen Ebers. Omphale bewunderte die Tapferkeit ihres Knechts, und mochte wohl ahnen, daß ein herrlicher, weltberühm¬ ter Held ihr Sclave ſey. Nachdem ſie erfahren, daß er Herkules, der große Sohn Jupiters, ſey, gab ſie ihm nicht nur in Anerkenntniß ſeiner Verdienſte die Freiheit wieder, ſondern ſie vermählte ſich auch mit ihm. Aber Her¬ kules vergaß hier im üppigen Leben des Morgenlandes der Lehren, die ihm die Tugend am Scheidewege ſeines Ju¬

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 250. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/276>, abgerufen am 26.11.2024.