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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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von ferne kommen sah, rettete sich in einen dichten Wald¬
busch, wartete bis der Löwe näher kam und schoß ihm
dann einen Pfeil in die Flanken zwischen Rippen und
Hüfte. Aber das Geschoß drang nicht ins Fleisch, es
prallte wie von einem Steine ab und flog zurück auf
den moosigen Waldboden. Das Thier hob seinen zur
Erde gekehrten blutigen Kopf empor, ließ die Augen
forschend nach allen Seiten rollen und im aufgesperrten
Rachen die entsetzlichen Zähne sehen. So streckte es dem
Halbgotte die Brust entgegen und dieser sandte schnell ei¬
nen zweiten Pfeil ab, um ihn mitten in den Sitz des
Athems zu treffen; aber auch dießmal drang das Geschoß
nicht bis unter die Haut, sondern prallte von der Brust
ab und fiel zu den Füßen des Ungethüms nieder. Her¬
kules griff eben zum dritten Pfeile, als der Löwe, die
Augen seitwärts drehend, ihn erblickte; er zog seinen lan¬
gen Schweif an sich bis zu den hintern Kniekehlen, sein
ganzer Nacken schwoll von Zorn auf, unter Murren
sträubte sich seine Mähne, sein Rücken wurde krumm, wie
ein Bogen. Er sann auf Kampf und ging mit einem
Sprung auf seinen Feind los: Herkules aber warf seine
Pfeile aus der Hand und seine eigene Löwenhaut vom
Rücken, mit der Rechten schwang er über dem Haupte
des Thieres die Keule und versetzte ihm einen Schlag auf
den Nacken, daß er mitten im Sprunge wieder zu Bo¬
den stürzte und auf zitternden Füßen zu stehen kam, mit
dem Kopfe wackelnd. Eh er wieder aufathmen konnte,
kam ihm Herkules zuvor; er warf auch noch Bogen und
Köcher zu Boden, um ganz ungehindert zu seyn, nahte
dem Unthier von hinten, schlang die Arme um seinen
Nacken und schnürte ihm die Kehle zu, bis es erstickte,

von ferne kommen ſah, rettete ſich in einen dichten Wald¬
buſch, wartete bis der Löwe näher kam und ſchoß ihm
dann einen Pfeil in die Flanken zwiſchen Rippen und
Hüfte. Aber das Geſchoß drang nicht ins Fleiſch, es
prallte wie von einem Steine ab und flog zurück auf
den mooſigen Waldboden. Das Thier hob ſeinen zur
Erde gekehrten blutigen Kopf empor, ließ die Augen
forſchend nach allen Seiten rollen und im aufgeſperrten
Rachen die entſetzlichen Zähne ſehen. So ſtreckte es dem
Halbgotte die Bruſt entgegen und dieſer ſandte ſchnell ei¬
nen zweiten Pfeil ab, um ihn mitten in den Sitz des
Athems zu treffen; aber auch dießmal drang das Geſchoß
nicht bis unter die Haut, ſondern prallte von der Bruſt
ab und fiel zu den Füßen des Ungethüms nieder. Her¬
kules griff eben zum dritten Pfeile, als der Löwe, die
Augen ſeitwärts drehend, ihn erblickte; er zog ſeinen lan¬
gen Schweif an ſich bis zu den hintern Kniekehlen, ſein
ganzer Nacken ſchwoll von Zorn auf, unter Murren
ſträubte ſich ſeine Mähne, ſein Rücken wurde krumm, wie
ein Bogen. Er ſann auf Kampf und ging mit einem
Sprung auf ſeinen Feind los: Herkules aber warf ſeine
Pfeile aus der Hand und ſeine eigene Löwenhaut vom
Rücken, mit der Rechten ſchwang er über dem Haupte
des Thieres die Keule und verſetzte ihm einen Schlag auf
den Nacken, daß er mitten im Sprunge wieder zu Bo¬
den ſtürzte und auf zitternden Füßen zu ſtehen kam, mit
dem Kopfe wackelnd. Eh er wieder aufathmen konnte,
kam ihm Herkules zuvor; er warf auch noch Bogen und
Köcher zu Boden, um ganz ungehindert zu ſeyn, nahte
dem Unthier von hinten, ſchlang die Arme um ſeinen
Nacken und ſchnürte ihm die Kehle zu, bis es erſtickte,

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[217/0243] von ferne kommen ſah, rettete ſich in einen dichten Wald¬ buſch, wartete bis der Löwe näher kam und ſchoß ihm dann einen Pfeil in die Flanken zwiſchen Rippen und Hüfte. Aber das Geſchoß drang nicht ins Fleiſch, es prallte wie von einem Steine ab und flog zurück auf den mooſigen Waldboden. Das Thier hob ſeinen zur Erde gekehrten blutigen Kopf empor, ließ die Augen forſchend nach allen Seiten rollen und im aufgeſperrten Rachen die entſetzlichen Zähne ſehen. So ſtreckte es dem Halbgotte die Bruſt entgegen und dieſer ſandte ſchnell ei¬ nen zweiten Pfeil ab, um ihn mitten in den Sitz des Athems zu treffen; aber auch dießmal drang das Geſchoß nicht bis unter die Haut, ſondern prallte von der Bruſt ab und fiel zu den Füßen des Ungethüms nieder. Her¬ kules griff eben zum dritten Pfeile, als der Löwe, die Augen ſeitwärts drehend, ihn erblickte; er zog ſeinen lan¬ gen Schweif an ſich bis zu den hintern Kniekehlen, ſein ganzer Nacken ſchwoll von Zorn auf, unter Murren ſträubte ſich ſeine Mähne, ſein Rücken wurde krumm, wie ein Bogen. Er ſann auf Kampf und ging mit einem Sprung auf ſeinen Feind los: Herkules aber warf ſeine Pfeile aus der Hand und ſeine eigene Löwenhaut vom Rücken, mit der Rechten ſchwang er über dem Haupte des Thieres die Keule und verſetzte ihm einen Schlag auf den Nacken, daß er mitten im Sprunge wieder zu Bo¬ den ſtürzte und auf zitternden Füßen zu ſtehen kam, mit dem Kopfe wackelnd. Eh er wieder aufathmen konnte, kam ihm Herkules zuvor; er warf auch noch Bogen und Köcher zu Boden, um ganz ungehindert zu ſeyn, nahte dem Unthier von hinten, ſchlang die Arme um ſeinen Nacken und ſchnürte ihm die Kehle zu, bis es erſtickte,

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 217. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/243>, abgerufen am 02.05.2024.