Schlange Echidna, die Andern, er sey vom Mond auf die Erde herabgefallen. Also zog Herkules gegen den Löwen aus und kam auf seiner Fahrt nach Kleonä, wo er von einem armen Tagelöhner, Namens Molorchus, gast¬ freundlich aufgenommen wurde. Er traf diesen an, wie er eben dem Jupiter ein Opferthier schlachten wollte. "Gu¬ ter Mann," sprach Herkules, "bewahre dein Thier noch drei¬ ßig Tage am Leben: komme ich bis dahin glücklich von der Jagd zurück, so magst du es Zeus dem Retter schlachten; erliege ich aber, so sollst du es mir selbst zum Todten¬ opfer bringen, als einem zur Unsterblichkeit eingegange¬ nen Helden." So zog Herkules weiter, den Köcher auf dem Rücken, den Bogen in der einen Hand, in der an¬ dern eine Keule aus dem Stamme eines wilden Oel¬ baumes, den er selbst auf dem Helikon angetroffen und mit sammt den Wurzeln ausgerissen hatte. Als er in den Wald von Nemea kam, ließ Herkules seine Augen nach allen Seiten schweifen, um das reißende Thier zu entdecken, ehe er von ihm erblickt würde. Es war Mit¬ tag und nirgends konnte er die Spur des Löwen bemer¬ ken, nirgends den Pfad zu seinem Lager erkunden, denn keinen Menschen traf er auf dem Felde bei den Stieren oder im Walde bei den Bäumen an: Alle hielt die Furcht in ihre fernen Gehöfte verschlossen. Den ganzen Nachmit¬ tag durchstreifte er den dichtbelaubten Hain, entschlossen, seine Kraft zu erproben, sobald er des Ungeheuers ansich¬ tig würde. Endlich gegen Abend kam der Löwe auf ei¬ nem Waldwege gelaufen, um vom Fang in seinen Erd¬ spalt zurückzukehren: er war von Fleisch und Blut ge¬ sättigt, Kopf, Mähne und Brust troffen von Mord, mit der Zunge leckte er sich das Kinn. Der Held, der ihn
Schlange Echidna, die Andern, er ſey vom Mond auf die Erde herabgefallen. Alſo zog Herkules gegen den Löwen aus und kam auf ſeiner Fahrt nach Kleonä, wo er von einem armen Tagelöhner, Namens Molorchus, gaſt¬ freundlich aufgenommen wurde. Er traf dieſen an, wie er eben dem Jupiter ein Opferthier ſchlachten wollte. „Gu¬ ter Mann,“ ſprach Herkules, „bewahre dein Thier noch drei¬ ßig Tage am Leben: komme ich bis dahin glücklich von der Jagd zurück, ſo magſt du es Zeus dem Retter ſchlachten; erliege ich aber, ſo ſollst du es mir ſelbſt zum Todten¬ opfer bringen, als einem zur Unſterblichkeit eingegange¬ nen Helden.“ So zog Herkules weiter, den Köcher auf dem Rücken, den Bogen in der einen Hand, in der an¬ dern eine Keule aus dem Stamme eines wilden Oel¬ baumes, den er ſelbſt auf dem Helikon angetroffen und mit ſammt den Wurzeln ausgeriſſen hatte. Als er in den Wald von Nemea kam, ließ Herkules ſeine Augen nach allen Seiten ſchweifen, um das reißende Thier zu entdecken, ehe er von ihm erblickt würde. Es war Mit¬ tag und nirgends konnte er die Spur des Löwen bemer¬ ken, nirgends den Pfad zu ſeinem Lager erkunden, denn keinen Menſchen traf er auf dem Felde bei den Stieren oder im Walde bei den Bäumen an: Alle hielt die Furcht in ihre fernen Gehöfte verſchloſſen. Den ganzen Nachmit¬ tag durchſtreifte er den dichtbelaubten Hain, entſchloſſen, ſeine Kraft zu erproben, ſobald er des Ungeheuers anſich¬ tig würde. Endlich gegen Abend kam der Löwe auf ei¬ nem Waldwege gelaufen, um vom Fang in ſeinen Erd¬ ſpalt zurückzukehren: er war von Fleiſch und Blut ge¬ ſättigt, Kopf, Mähne und Bruſt troffen von Mord, mit der Zunge leckte er ſich das Kinn. Der Held, der ihn
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0242"n="216"/>
Schlange Echidna, die Andern, er ſey vom Mond auf<lb/>
die Erde herabgefallen. Alſo zog Herkules gegen den<lb/>
Löwen aus und kam auf ſeiner Fahrt nach Kleonä, wo<lb/>
er von einem armen Tagelöhner, Namens Molorchus, gaſt¬<lb/>
freundlich aufgenommen wurde. Er traf dieſen an, wie<lb/>
er eben dem Jupiter ein Opferthier ſchlachten wollte. „Gu¬<lb/>
ter Mann,“ſprach Herkules, „bewahre dein Thier noch drei¬<lb/>
ßig Tage am Leben: komme ich bis dahin glücklich von der<lb/>
Jagd zurück, ſo magſt du es Zeus dem Retter ſchlachten;<lb/>
erliege ich aber, ſo ſollst du es mir ſelbſt zum Todten¬<lb/>
opfer bringen, als einem zur Unſterblichkeit eingegange¬<lb/>
nen Helden.“ So zog Herkules weiter, den Köcher auf<lb/>
dem Rücken, den Bogen in der einen Hand, in der an¬<lb/>
dern eine Keule aus dem Stamme eines wilden Oel¬<lb/>
baumes, den er ſelbſt auf dem Helikon angetroffen und<lb/>
mit ſammt den Wurzeln ausgeriſſen hatte. Als er in<lb/>
den Wald von Nemea kam, ließ Herkules ſeine Augen<lb/>
nach allen Seiten ſchweifen, um das reißende Thier zu<lb/>
entdecken, ehe er von ihm erblickt würde. Es war Mit¬<lb/>
tag und nirgends konnte er die Spur des Löwen bemer¬<lb/>
ken, nirgends den Pfad zu ſeinem Lager erkunden, denn<lb/>
keinen Menſchen traf er auf dem Felde bei den Stieren<lb/>
oder im Walde bei den Bäumen an: Alle hielt die Furcht<lb/>
in ihre fernen Gehöfte verſchloſſen. Den ganzen Nachmit¬<lb/>
tag durchſtreifte er den dichtbelaubten Hain, entſchloſſen,<lb/>ſeine Kraft zu erproben, ſobald er des Ungeheuers anſich¬<lb/>
tig würde. Endlich gegen Abend kam der Löwe auf ei¬<lb/>
nem Waldwege gelaufen, um vom Fang in ſeinen Erd¬<lb/>ſpalt zurückzukehren: er war von Fleiſch und Blut ge¬<lb/>ſättigt, Kopf, Mähne und Bruſt troffen von Mord, mit<lb/>
der Zunge leckte er ſich das Kinn. Der Held, der ihn<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[216/0242]
Schlange Echidna, die Andern, er ſey vom Mond auf
die Erde herabgefallen. Alſo zog Herkules gegen den
Löwen aus und kam auf ſeiner Fahrt nach Kleonä, wo
er von einem armen Tagelöhner, Namens Molorchus, gaſt¬
freundlich aufgenommen wurde. Er traf dieſen an, wie
er eben dem Jupiter ein Opferthier ſchlachten wollte. „Gu¬
ter Mann,“ ſprach Herkules, „bewahre dein Thier noch drei¬
ßig Tage am Leben: komme ich bis dahin glücklich von der
Jagd zurück, ſo magſt du es Zeus dem Retter ſchlachten;
erliege ich aber, ſo ſollst du es mir ſelbſt zum Todten¬
opfer bringen, als einem zur Unſterblichkeit eingegange¬
nen Helden.“ So zog Herkules weiter, den Köcher auf
dem Rücken, den Bogen in der einen Hand, in der an¬
dern eine Keule aus dem Stamme eines wilden Oel¬
baumes, den er ſelbſt auf dem Helikon angetroffen und
mit ſammt den Wurzeln ausgeriſſen hatte. Als er in
den Wald von Nemea kam, ließ Herkules ſeine Augen
nach allen Seiten ſchweifen, um das reißende Thier zu
entdecken, ehe er von ihm erblickt würde. Es war Mit¬
tag und nirgends konnte er die Spur des Löwen bemer¬
ken, nirgends den Pfad zu ſeinem Lager erkunden, denn
keinen Menſchen traf er auf dem Felde bei den Stieren
oder im Walde bei den Bäumen an: Alle hielt die Furcht
in ihre fernen Gehöfte verſchloſſen. Den ganzen Nachmit¬
tag durchſtreifte er den dichtbelaubten Hain, entſchloſſen,
ſeine Kraft zu erproben, ſobald er des Ungeheuers anſich¬
tig würde. Endlich gegen Abend kam der Löwe auf ei¬
nem Waldwege gelaufen, um vom Fang in ſeinen Erd¬
ſpalt zurückzukehren: er war von Fleiſch und Blut ge¬
ſättigt, Kopf, Mähne und Bruſt troffen von Mord, mit
der Zunge leckte er ſich das Kinn. Der Held, der ihn
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 216. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/242>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.