hatten die heißesten Sommertage, aber Nach- mittags um 4 Uhr drängte man sich schon, auf Gefahr seiner Glieder, ins Theater, stand bis zehn Uhr Mann an Mann auf Einem Flecke, und sah erst mit Ungeduld und Wi- derwillen ein langweiliges Stück aufführen, um dann den fünf Minuten langen Rausch, immer dasselbe "pas-de-deux" zu sehen, unermüdlich zu genießen. In dieser folterar- tigen Stellung sahe man selbst Damen im Parterre; und doch gieng alles, was heute Zuschauer gewesen war, morgen von neuem wieder hin.
Das Ballet nahm seinen Anfang. Die eigentlichen Tänzer arbeiteten nach Vermögen. Man sah sie nicht. Alle Augen waren nach den Koulissen gerichtet, aus denen die beyden Hauptpersonen herausschweben sollten. Machte die Musik des Ballets eine Pause, sprangen die Figuranten auf die Seite: so entstand plötzlich eine allgemeine Stille; alle Gesichter erheiterten sich; man hob sich auf die Zehen
hatten die heißeſten Sommertage, aber Nach- mittags um 4 Uhr draͤngte man ſich ſchon, auf Gefahr ſeiner Glieder, ins Theater, ſtand bis zehn Uhr Mann an Mann auf Einem Flecke, und ſah erſt mit Ungeduld und Wi- derwillen ein langweiliges Stuͤck auffuͤhren, um dann den fuͤnf Minuten langen Rauſch, immer daſſelbe „pas-de-deux“ zu ſehen, unermuͤdlich zu genießen. In dieſer folterar- tigen Stellung ſahe man ſelbſt Damen im Parterre; und doch gieng alles, was heute Zuſchauer geweſen war, morgen von neuem wieder hin.
Das Ballet nahm ſeinen Anfang. Die eigentlichen Taͤnzer arbeiteten nach Vermoͤgen. Man ſah ſie nicht. Alle Augen waren nach den Kouliſſen gerichtet, aus denen die beyden Hauptperſonen herausſchweben ſollten. Machte die Muſik des Ballets eine Pauſe, ſprangen die Figuranten auf die Seite: ſo entſtand ploͤtzlich eine allgemeine Stille; alle Geſichter erheiterten ſich; man hob ſich auf die Zehen
<TEI><text><body><div><floatingText><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0471"n="199"/>
hatten die heißeſten Sommertage, aber Nach-<lb/>
mittags um 4 Uhr draͤngte man ſich ſchon,<lb/>
auf Gefahr ſeiner Glieder, ins Theater, ſtand<lb/>
bis zehn Uhr Mann an Mann auf Einem<lb/>
Flecke, und ſah erſt mit Ungeduld und Wi-<lb/>
derwillen ein langweiliges Stuͤck auffuͤhren,<lb/>
um dann den fuͤnf Minuten langen Rauſch,<lb/>
immer daſſelbe <hirendition="#aq">„pas-de-deux“</hi> zu ſehen,<lb/>
unermuͤdlich zu genießen. In dieſer folterar-<lb/>
tigen Stellung ſahe man ſelbſt Damen im<lb/>
Parterre; und doch gieng alles, was heute<lb/>
Zuſchauer geweſen war, morgen von neuem<lb/>
wieder hin.</p><lb/><p>Das Ballet nahm ſeinen Anfang. Die<lb/>
eigentlichen Taͤnzer arbeiteten nach Vermoͤgen.<lb/>
Man ſah ſie nicht. Alle Augen waren nach<lb/>
den Kouliſſen gerichtet, aus denen die beyden<lb/>
Hauptperſonen herausſchweben ſollten. Machte<lb/>
die Muſik des Ballets eine Pauſe, ſprangen<lb/>
die Figuranten auf die Seite: ſo entſtand<lb/>
ploͤtzlich eine allgemeine Stille; alle Geſichter<lb/>
erheiterten ſich; man hob ſich auf die Zehen<lb/></p></div></body></floatingText></div></body></text></TEI>
[199/0471]
hatten die heißeſten Sommertage, aber Nach-
mittags um 4 Uhr draͤngte man ſich ſchon,
auf Gefahr ſeiner Glieder, ins Theater, ſtand
bis zehn Uhr Mann an Mann auf Einem
Flecke, und ſah erſt mit Ungeduld und Wi-
derwillen ein langweiliges Stuͤck auffuͤhren,
um dann den fuͤnf Minuten langen Rauſch,
immer daſſelbe „pas-de-deux“ zu ſehen,
unermuͤdlich zu genießen. In dieſer folterar-
tigen Stellung ſahe man ſelbſt Damen im
Parterre; und doch gieng alles, was heute
Zuſchauer geweſen war, morgen von neuem
wieder hin.
Das Ballet nahm ſeinen Anfang. Die
eigentlichen Taͤnzer arbeiteten nach Vermoͤgen.
Man ſah ſie nicht. Alle Augen waren nach
den Kouliſſen gerichtet, aus denen die beyden
Hauptperſonen herausſchweben ſollten. Machte
die Muſik des Ballets eine Pauſe, ſprangen
die Figuranten auf die Seite: ſo entſtand
ploͤtzlich eine allgemeine Stille; alle Geſichter
erheiterten ſich; man hob ſich auf die Zehen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Schulz, Friedrich: Reise eines Liefländers. Bd. 3, [H. 5 u. H. 6]. Berlin, 1795, S. 199. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schulz_reise03_1795/471>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.