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Schubert, Gotthilf Heinrich von: Die Symbolik des Traumes. Bamberg, 1814.

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Wenn demnach alle unsere Erkenntnisse und Er-
innerungen ihr Reich im Gangliensystem haben, so
wird jene an Greisen und nach manchen Nervenkran-
ken bemerkte Erscheinung des scheinbar gänzlichen Ver-
schwindens, und oftmals plötzlichen Wiederkehrens un-
serer Kenntnisse und Erinnerungen leicht begreiflich
seyn. Ueberhaupt ist jede Erinnerung nichts anders,
als eine bald mehr bald minder willkührliche Wieder-
erneuerung der gehabten Rührungen und Empfindun-
gen. Wenn sich nun bey zunehmendem Alter und
durch andere Umstände jene um das Cerebralsystem
gezogene Schranke immer mehr verengert, wenn das
Gebiet der Empfindungen -- das Gangliensystem,
welches in der Gefühls- und Empfindungsreichen Zeit
der Jugend demselben noch ungleich zugänglicher war,
immer mehr für den Einfluß des Willens sich verschließt:
so gelingen auch jene Wiedererneuerungen der gehab-
ten Rührungen des inneren Sinnes nicht mehr, un-
sere Erinnerungen und Kenntnisse sind uns zwar nicht
verloren, aber sie sind für uns unzugänglich und ver-
schlossen. Aber schon der Traum, plötzliche Freude, noch
mehr der dem Tode häufig vorhergehende Zustand,
stellt die unterbrochene Verbindung auf einmal her.
Uebrigens belehrt uns jene öfters bis zum höchsten
Grade gehende Verengerung und Beschränkung des
Erkenntnißkreifes, was die von Vielen über Gebübr
verachtete Region des Gefühles und der gröberen Kör-
perlichkeit uns sey: der mütterliche Erdboden oder
Mutterleib, dem wir die Frucht unserer Bemühungen
und Forschungen, aller Kämpfe und freywilligen Ent-
sagungen, alle erlernte Fertigkeiten im Guten und
Schlimmen, ja die meisten Keime eines neuen, höhe-

ren

Wenn demnach alle unſere Erkenntniſſe und Er-
innerungen ihr Reich im Ganglienſyſtem haben, ſo
wird jene an Greiſen und nach manchen Nervenkran-
ken bemerkte Erſcheinung des ſcheinbar gaͤnzlichen Ver-
ſchwindens, und oftmals ploͤtzlichen Wiederkehrens un-
ſerer Kenntniſſe und Erinnerungen leicht begreiflich
ſeyn. Ueberhaupt iſt jede Erinnerung nichts anders,
als eine bald mehr bald minder willkuͤhrliche Wieder-
erneuerung der gehabten Ruͤhrungen und Empfindun-
gen. Wenn ſich nun bey zunehmendem Alter und
durch andere Umſtaͤnde jene um das Cerebralſyſtem
gezogene Schranke immer mehr verengert, wenn das
Gebiet der Empfindungen — das Ganglienſyſtem,
welches in der Gefuͤhls- und Empfindungsreichen Zeit
der Jugend demſelben noch ungleich zugaͤnglicher war,
immer mehr fuͤr den Einfluß des Willens ſich verſchließt:
ſo gelingen auch jene Wiedererneuerungen der gehab-
ten Ruͤhrungen des inneren Sinnes nicht mehr, un-
ſere Erinnerungen und Kenntniſſe ſind uns zwar nicht
verloren, aber ſie ſind fuͤr uns unzugaͤnglich und ver-
ſchloſſen. Aber ſchon der Traum, ploͤtzliche Freude, noch
mehr der dem Tode haͤufig vorhergehende Zuſtand,
ſtellt die unterbrochene Verbindung auf einmal her.
Uebrigens belehrt uns jene oͤfters bis zum hoͤchſten
Grade gehende Verengerung und Beſchraͤnkung des
Erkenntnißkreifes, was die von Vielen uͤber Gebuͤbr
verachtete Region des Gefuͤhles und der groͤberen Koͤr-
perlichkeit uns ſey: der muͤtterliche Erdboden oder
Mutterleib, dem wir die Frucht unſerer Bemuͤhungen
und Forſchungen, aller Kaͤmpfe und freywilligen Ent-
ſagungen, alle erlernte Fertigkeiten im Guten und
Schlimmen, ja die meiſten Keime eines neuen, hoͤhe-

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[153/0163] Wenn demnach alle unſere Erkenntniſſe und Er- innerungen ihr Reich im Ganglienſyſtem haben, ſo wird jene an Greiſen und nach manchen Nervenkran- ken bemerkte Erſcheinung des ſcheinbar gaͤnzlichen Ver- ſchwindens, und oftmals ploͤtzlichen Wiederkehrens un- ſerer Kenntniſſe und Erinnerungen leicht begreiflich ſeyn. Ueberhaupt iſt jede Erinnerung nichts anders, als eine bald mehr bald minder willkuͤhrliche Wieder- erneuerung der gehabten Ruͤhrungen und Empfindun- gen. Wenn ſich nun bey zunehmendem Alter und durch andere Umſtaͤnde jene um das Cerebralſyſtem gezogene Schranke immer mehr verengert, wenn das Gebiet der Empfindungen — das Ganglienſyſtem, welches in der Gefuͤhls- und Empfindungsreichen Zeit der Jugend demſelben noch ungleich zugaͤnglicher war, immer mehr fuͤr den Einfluß des Willens ſich verſchließt: ſo gelingen auch jene Wiedererneuerungen der gehab- ten Ruͤhrungen des inneren Sinnes nicht mehr, un- ſere Erinnerungen und Kenntniſſe ſind uns zwar nicht verloren, aber ſie ſind fuͤr uns unzugaͤnglich und ver- ſchloſſen. Aber ſchon der Traum, ploͤtzliche Freude, noch mehr der dem Tode haͤufig vorhergehende Zuſtand, ſtellt die unterbrochene Verbindung auf einmal her. Uebrigens belehrt uns jene oͤfters bis zum hoͤchſten Grade gehende Verengerung und Beſchraͤnkung des Erkenntnißkreifes, was die von Vielen uͤber Gebuͤbr verachtete Region des Gefuͤhles und der groͤberen Koͤr- perlichkeit uns ſey: der muͤtterliche Erdboden oder Mutterleib, dem wir die Frucht unſerer Bemuͤhungen und Forſchungen, aller Kaͤmpfe und freywilligen Ent- ſagungen, alle erlernte Fertigkeiten im Guten und Schlimmen, ja die meiſten Keime eines neuen, hoͤhe- ren

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Zitationshilfe: Schubert, Gotthilf Heinrich von: Die Symbolik des Traumes. Bamberg, 1814, S. 153. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schubert_symbolik_1814/163>, abgerufen am 30.04.2024.