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Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 2, Abt. 2. Leipzig, 1905.

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Vierundzwanzigste Vorlesung.
gebenen Begriffen a und b den Begriff "was a oder b ist" ableitet. Dieser
Begriff, ohne Zuhülfenahme von Umfangsbetrachtungen, dürfte ohnehin jeder
Inhaltslogik Schwierigkeiten machen.*)

Nun noch ein Wort über die Frage: mit welchen Begriffsinhalten denn
eine exakte Logik, ein Kalkul, aufzubauen wäre, wenn nicht mit den "idealen"?
Mit den letzteren lehnt sie neben Herrn Voigt l. c. auch Herr Husserl1
p. 255 sq. a limine ab, und so scheint das Hysteron-proteron, das mit ihnen
in die Logik Eingang fände, allseitig zugegeben.

Den Inhalt z. B. des Begriffes "Kreis" (in der Euklid'schen Geometrie)
bilden die Merkmale des Kreises. Es frägt sich blos, ob alle, ob nur einige
von dessen Merkmalen, und dann welche?

Diejenigen Merkmale, welche dem oder jenem Denkenden als Vorstellungs-
gehalt seines Kreisbegriffes gerade eben vorschweben, habe ich den faktischen
Inhalt des Begriffes "Kreis" (für diesen Denkenden in diesem Augenblick)
genannt (Bd. 1, S. 83). Ich denke, keinen Widerspruch gewärtigen zu
müssen, wenn ich es für ausgeschlossen erkläre, diesen wechselnden und
wol meist gar nicht einheitlichen Merkmalkomplex als Substrat für logische
Untersuchungen hinzustellen.

Nun wird von andern Seiten versucht, den fraglichen Begriffsinhalt ein-
zuschränken auf den Komplex derjenigen Merkmale, welche in einer be-
stimmten, zugrunde gelegt gedachten "Definition" des Kreises "liegen", wie
z. B. in der Definition Bd. 1, S. 87 sq., wo als wesentliches Merkmal unter
andern die Gleichheit der Radien gefordert ist.

Dann kann man doch unmöglich von dem Inhalt des Kreisbegriffes
z. B. das Merkmal ausschliessen, dass irgend zwei Radien nicht von einander
verschieden seien! Und ebensowenig, meine ich, irgend ein andres Merk-
mal, welches aus dem in der Definition gegebenen Komplex denknotwendig
oder logisch, ohne Berufung auf spezifisch geometrische Thatsachen, folgt,
auch wenn dieses Merkmal in der Definition nicht ausdrücklich erwähnt ist.
Dergleichen zu thun, hiesse ja geradezu: an dem Buchstaben der Definition
kleben und die Logik in Abhängigkeit setzen schon von der Grammatik!

Wird aber dies zugegeben, so ist, beiläufig bemerkt, schon für weite
Gebiete den Begriffen gerade dasjenige als ihr "Inhalt" gesichert, was ich
ihren "idealen" Inhalt nenne, nämlich für die Begriffe der rein deduktiven
Disziplinen, der Logik, Arithmetik und höhern Analysis.

In einer Disziplin hingegen, die wie die Geometrie noch obendrein eine
axiomatische Basis hat, könnte man allerdings bei den bisher besprochenen
Merkmalen halt machen und so von dem "Inhalt" des Kreisbegriffes will-
kürlich jedes Merkmal ausschliessen, welches, obzwar allen Kreisen gemein-
sam, wie z. B. das von der Gleichheit der Peripheriewinkel, die auf demselben
Bogen stehen, lediglich mittelst geometrischer Axiome aus der Definition ge-
folgert werden kann. Allein es wäre doch allem Usus in Wissenschaft und
Leben zuwiderlaufend, zu sagen, diese Gleichheit der Peripheriewinkel sei
kein Merkmal des Kreises. Warum also sie, nebst unzähligen andern Eigen-

*) Anmerkung des Herausgebers am Schlusse des Bandes.

Vierundzwanzigste Vorlesung.
gebenen Begriffen a und b den Begriff „was a oder b ist“ ableitet. Dieser
Begriff, ohne Zuhülfenahme von Umfangsbetrachtungen, dürfte ohnehin jeder
Inhaltslogik Schwierigkeiten machen.*)

Nun noch ein Wort über die Frage: mit welchen Begriffsinhalten denn
eine exakte Logik, ein Kalkul, aufzubauen wäre, wenn nicht mit den „idealen“?
Mit den letzteren lehnt sie neben Herrn Voigt l. c. auch Herr Husserl1
p. 255 sq. a limine ab, und so scheint das Hysteron-proteron, das mit ihnen
in die Logik Eingang fände, allseitig zugegeben.

Den Inhalt z. B. des Begriffes „Kreis“ (in der Euklid’schen Geometrie)
bilden die Merkmale des Kreises. Es frägt sich blos, ob alle, ob nur einige
von dessen Merkmalen, und dann welche?

Diejenigen Merkmale, welche dem oder jenem Denkenden als Vorstellungs-
gehalt seines Kreisbegriffes gerade eben vorschweben, habe ich den faktischen
Inhalt des Begriffes „Kreis“ (für diesen Denkenden in diesem Augenblick)
genannt (Bd. 1, S. 83). Ich denke, keinen Widerspruch gewärtigen zu
müssen, wenn ich es für ausgeschlossen erkläre, diesen wechselnden und
wol meist gar nicht einheitlichen Merkmalkomplex als Substrat für logische
Untersuchungen hinzustellen.

Nun wird von andern Seiten versucht, den fraglichen Begriffsinhalt ein-
zuschränken auf den Komplex derjenigen Merkmale, welche in einer be-
stimmten, zugrunde gelegt gedachten „Definition“ des Kreises „liegen“, wie
z. B. in der Definition Bd. 1, S. 87 sq., wo als wesentliches Merkmal unter
andern die Gleichheit der Radien gefordert ist.

Dann kann man doch unmöglich von dem Inhalt des Kreisbegriffes
z. B. das Merkmal ausschliessen, dass irgend zwei Radien nicht von einander
verschieden seien! Und ebensowenig, meine ich, irgend ein andres Merk-
mal, welches aus dem in der Definition gegebenen Komplex denknotwendig
oder logisch, ohne Berufung auf spezifisch geometrische Thatsachen, folgt,
auch wenn dieses Merkmal in der Definition nicht ausdrücklich erwähnt ist.
Dergleichen zu thun, hiesse ja geradezu: an dem Buchstaben der Definition
kleben und die Logik in Abhängigkeit setzen schon von der Grammatik!

Wird aber dies zugegeben, so ist, beiläufig bemerkt, schon für weite
Gebiete den Begriffen gerade dasjenige als ihr „Inhalt“ gesichert, was ich
ihren „idealen“ Inhalt nenne, nämlich für die Begriffe der rein deduktiven
Disziplinen, der Logik, Arithmetik und höhern Analysis.

In einer Disziplin hingegen, die wie die Geometrie noch obendrein eine
axiomatische Basis hat, könnte man allerdings bei den bisher besprochenen
Merkmalen halt machen und so von dem „Inhalt“ des Kreisbegriffes will-
kürlich jedes Merkmal ausschliessen, welches, obzwar allen Kreisen gemein-
sam, wie z. B. das von der Gleichheit der Peripheriewinkel, die auf demselben
Bogen stehen, lediglich mittelst geometrischer Axiome aus der Definition ge-
folgert werden kann. Allein es wäre doch allem Usus in Wissenschaft und
Leben zuwiderlaufend, zu sagen, diese Gleichheit der Peripheriewinkel sei
kein Merkmal des Kreises. Warum also sie, nebst unzähligen andern Eigen-

*) Anmerkung des Herausgebers am Schlusse des Bandes.
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[414/0058] Vierundzwanzigste Vorlesung. gebenen Begriffen a und b den Begriff „was a oder b ist“ ableitet. Dieser Begriff, ohne Zuhülfenahme von Umfangsbetrachtungen, dürfte ohnehin jeder Inhaltslogik Schwierigkeiten machen. *) Nun noch ein Wort über die Frage: mit welchen Begriffsinhalten denn eine exakte Logik, ein Kalkul, aufzubauen wäre, wenn nicht mit den „idealen“? Mit den letzteren lehnt sie neben Herrn Voigt l. c. auch Herr Husserl1 p. 255 sq. a limine ab, und so scheint das Hysteron-proteron, das mit ihnen in die Logik Eingang fände, allseitig zugegeben. Den Inhalt z. B. des Begriffes „Kreis“ (in der Euklid’schen Geometrie) bilden die Merkmale des Kreises. Es frägt sich blos, ob alle, ob nur einige von dessen Merkmalen, und dann welche? Diejenigen Merkmale, welche dem oder jenem Denkenden als Vorstellungs- gehalt seines Kreisbegriffes gerade eben vorschweben, habe ich den faktischen Inhalt des Begriffes „Kreis“ (für diesen Denkenden in diesem Augenblick) genannt (Bd. 1, S. 83). Ich denke, keinen Widerspruch gewärtigen zu müssen, wenn ich es für ausgeschlossen erkläre, diesen wechselnden und wol meist gar nicht einheitlichen Merkmalkomplex als Substrat für logische Untersuchungen hinzustellen. Nun wird von andern Seiten versucht, den fraglichen Begriffsinhalt ein- zuschränken auf den Komplex derjenigen Merkmale, welche in einer be- stimmten, zugrunde gelegt gedachten „Definition“ des Kreises „liegen“, wie z. B. in der Definition Bd. 1, S. 87 sq., wo als wesentliches Merkmal unter andern die Gleichheit der Radien gefordert ist. Dann kann man doch unmöglich von dem Inhalt des Kreisbegriffes z. B. das Merkmal ausschliessen, dass irgend zwei Radien nicht von einander verschieden seien! Und ebensowenig, meine ich, irgend ein andres Merk- mal, welches aus dem in der Definition gegebenen Komplex denknotwendig oder logisch, ohne Berufung auf spezifisch geometrische Thatsachen, folgt, auch wenn dieses Merkmal in der Definition nicht ausdrücklich erwähnt ist. Dergleichen zu thun, hiesse ja geradezu: an dem Buchstaben der Definition kleben und die Logik in Abhängigkeit setzen schon von der Grammatik! Wird aber dies zugegeben, so ist, beiläufig bemerkt, schon für weite Gebiete den Begriffen gerade dasjenige als ihr „Inhalt“ gesichert, was ich ihren „idealen“ Inhalt nenne, nämlich für die Begriffe der rein deduktiven Disziplinen, der Logik, Arithmetik und höhern Analysis. In einer Disziplin hingegen, die wie die Geometrie noch obendrein eine axiomatische Basis hat, könnte man allerdings bei den bisher besprochenen Merkmalen halt machen und so von dem „Inhalt“ des Kreisbegriffes will- kürlich jedes Merkmal ausschliessen, welches, obzwar allen Kreisen gemein- sam, wie z. B. das von der Gleichheit der Peripheriewinkel, die auf demselben Bogen stehen, lediglich mittelst geometrischer Axiome aus der Definition ge- folgert werden kann. Allein es wäre doch allem Usus in Wissenschaft und Leben zuwiderlaufend, zu sagen, diese Gleichheit der Peripheriewinkel sei kein Merkmal des Kreises. Warum also sie, nebst unzähligen andern Eigen- *) Anmerkung des Herausgebers am Schlusse des Bandes.

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Zitationshilfe: Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 2, Abt. 2. Leipzig, 1905, S. 414. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schroeder_logik0202_1905/58>, abgerufen am 22.11.2024.