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Schreyvogel, Joseph: Samuel Brinks letzte Liebesgeschichte. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 10. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–94. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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wir bemerken konnten, war zur Hälfte eingebrochen. Ich erinnerte mich augenblicklich an den gefährlichen Gang, den ich vor ein paar Tagen darüber gemacht hatte. Vor meinem Hause, in dessen Thor wir eben fahren wollten, standen auch Landleute, meist Weiber und Kinder. Eine meiner Mägde kam weinend zu ihnen heraus.

Da ist ein Unglück geschehen! rief Paul; und ich, von einer plötzlichen Ahnung ergriffen, sprang aus dem Wagen, eh' er noch still hielt. Was ist's? Was ist's? rief ich, mich durch die Leute drängend. -- Ach! hört' ich Jemand sagen, Mamsell Gretchen ist mit dem Steg in den Bach gestürzt. -- Und ist doch gerettet? stammelte ich; -- meine Knie brachen mir, ich war auf dem Punkt niederzusinken. -- Herr Max, sagte die Magd weinend, hat sie mit Gefahr seines Lebens herausgezogen, eh' der Schwall des Wassers sie in die Mühlräder riß. Wir haben sie hinauf in ihr Bett gebracht, aber sie giebt kein Lebenszeichen seit einer Viertelstunde schon.

Paul und ein junger Bauer führten, oder trugen mich vielmehr über die Treppe nach Gretchens Zimmer, wohin ich verlangte. Sie lag ausgestreckt auf ihrem Bette, in warme Tücher eingeschlagen, farblos, und ohne sichtbares Lebenszeichen. Max stand am Haupt des Bettes, ihre Gesichtszüge mit gespannter Aufmerksamkeit betrachtend und ihre Schläfe sanft streichelnd, während zwei Mägde damit beschäftigt waren, ihr die Füße zu reiben. -- Sie ist nicht todt, sagte Max, da er mich, auf Paul gestützt, leichenblaß vor sich stehen sah. Sie kann nicht

wir bemerken konnten, war zur Hälfte eingebrochen. Ich erinnerte mich augenblicklich an den gefährlichen Gang, den ich vor ein paar Tagen darüber gemacht hatte. Vor meinem Hause, in dessen Thor wir eben fahren wollten, standen auch Landleute, meist Weiber und Kinder. Eine meiner Mägde kam weinend zu ihnen heraus.

Da ist ein Unglück geschehen! rief Paul; und ich, von einer plötzlichen Ahnung ergriffen, sprang aus dem Wagen, eh' er noch still hielt. Was ist's? Was ist's? rief ich, mich durch die Leute drängend. — Ach! hört' ich Jemand sagen, Mamsell Gretchen ist mit dem Steg in den Bach gestürzt. — Und ist doch gerettet? stammelte ich; — meine Knie brachen mir, ich war auf dem Punkt niederzusinken. — Herr Max, sagte die Magd weinend, hat sie mit Gefahr seines Lebens herausgezogen, eh' der Schwall des Wassers sie in die Mühlräder riß. Wir haben sie hinauf in ihr Bett gebracht, aber sie giebt kein Lebenszeichen seit einer Viertelstunde schon.

Paul und ein junger Bauer führten, oder trugen mich vielmehr über die Treppe nach Gretchens Zimmer, wohin ich verlangte. Sie lag ausgestreckt auf ihrem Bette, in warme Tücher eingeschlagen, farblos, und ohne sichtbares Lebenszeichen. Max stand am Haupt des Bettes, ihre Gesichtszüge mit gespannter Aufmerksamkeit betrachtend und ihre Schläfe sanft streichelnd, während zwei Mägde damit beschäftigt waren, ihr die Füße zu reiben. — Sie ist nicht todt, sagte Max, da er mich, auf Paul gestützt, leichenblaß vor sich stehen sah. Sie kann nicht

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[0078] wir bemerken konnten, war zur Hälfte eingebrochen. Ich erinnerte mich augenblicklich an den gefährlichen Gang, den ich vor ein paar Tagen darüber gemacht hatte. Vor meinem Hause, in dessen Thor wir eben fahren wollten, standen auch Landleute, meist Weiber und Kinder. Eine meiner Mägde kam weinend zu ihnen heraus. Da ist ein Unglück geschehen! rief Paul; und ich, von einer plötzlichen Ahnung ergriffen, sprang aus dem Wagen, eh' er noch still hielt. Was ist's? Was ist's? rief ich, mich durch die Leute drängend. — Ach! hört' ich Jemand sagen, Mamsell Gretchen ist mit dem Steg in den Bach gestürzt. — Und ist doch gerettet? stammelte ich; — meine Knie brachen mir, ich war auf dem Punkt niederzusinken. — Herr Max, sagte die Magd weinend, hat sie mit Gefahr seines Lebens herausgezogen, eh' der Schwall des Wassers sie in die Mühlräder riß. Wir haben sie hinauf in ihr Bett gebracht, aber sie giebt kein Lebenszeichen seit einer Viertelstunde schon. Paul und ein junger Bauer führten, oder trugen mich vielmehr über die Treppe nach Gretchens Zimmer, wohin ich verlangte. Sie lag ausgestreckt auf ihrem Bette, in warme Tücher eingeschlagen, farblos, und ohne sichtbares Lebenszeichen. Max stand am Haupt des Bettes, ihre Gesichtszüge mit gespannter Aufmerksamkeit betrachtend und ihre Schläfe sanft streichelnd, während zwei Mägde damit beschäftigt waren, ihr die Füße zu reiben. — Sie ist nicht todt, sagte Max, da er mich, auf Paul gestützt, leichenblaß vor sich stehen sah. Sie kann nicht

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Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T11:30:04Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
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Zitationshilfe: Schreyvogel, Joseph: Samuel Brinks letzte Liebesgeschichte. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 10. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–94. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schreyvogel_liebesgeschichte_1910/78>, abgerufen am 04.05.2024.