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Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858.

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1. JAHR. GEISTIGE SEITE.
Entwickelungsstufen von der ersten Keimzelle des Samenkorns
an bis zum prangend entwickelten Baume -- so ist die Ent-
wickelungsbahn von den ersten Seelenkeimen bis zum Gipfel-
punkte des ausgebildeten menschlichen Geistes zu denken. In
diesem allgemeineren und offenbar naturentsprechenderen
Sinne nun können wir recht wohl auch hier schon von einer
geistigen Seite des Kindes reden.

Auf gleichen Wegen, wie überhaupt der Mensch alle gei-
stige Nahrung, deren er von aussen her bedarf, bezieht -- durch
die Sinnesorgane nämlich -- werden auch die noch schlum-
mernden Seelenkeime des Kindes geweckt und zur allmäligen
Entwickelung des geistigen Lebens angeregt und befähigt.
Während in den beiden ersten Monaten alle Bewegungen und
Lebensäusserungen des Kindes nur automatischer Natur waren,
gibt dasselbe im 3. und 4. Monate durch bestimmtere Fixirung
seines Blickes, durch Empfänglichkeit für Gehörseindrücke, durch
bestimmteres Greifen nach Gegenständen sein Erwachen aus
dem geistigen Schlummerzustande deutlich zu erkennen. Wir
bereiten daher dem jungen Weltbürger das schönste "Will-
kommen", wenn wir darauf bedacht sind, dass die ersten
Eindrücke, welche er durch seine aufnahmfähig gewordenen
Sinnesorgane, vorzüglich durch Auge und Ohr, empfängt, so-
viel wie möglich freundlicher und lieblicher Art sind, also be-
sonders: liebevolles Begegnen durch Blick und Ton, Freund-
lichkeit aller in den Wahrnehmungskreis des Kindes fallender
Gegenstände. Die Kinderstube sei, bei aller Einfachheit, für
das Auge und Ohr des Kindes ein kleines Paradies. Zwar
kann kein Mensch mit seiner Erinnerung herabsteigen bis zu
diesen ersten schwachen Dämmerungsstrahlen seines Lebens-
morgens, doch dürfte vom psychologischen Gesichtspuncte aus
die Vermuthung Vieles für sich haben, dass die ersten Jugend-
eindrücke gewissermaassen den Grundton des Gemüthes oder
Gefühles bestimmen, der mehr oder weniger das ganze Leben
durchklingt.

Schon im 5. oder 6. Monate lernt das Kind an den
Blicken, Worten (besonders am Tone der Stimme) und Ge-
berden seiner Umgebung Freundlichkeit und Ernst, Liebkosung

1. JAHR. GEISTIGE SEITE.
Entwickelungsstufen von der ersten Keimzelle des Samenkorns
an bis zum prangend entwickelten Baume — so ist die Ent-
wickelungsbahn von den ersten Seelenkeimen bis zum Gipfel-
punkte des ausgebildeten menschlichen Geistes zu denken. In
diesem allgemeineren und offenbar naturentsprechenderen
Sinne nun können wir recht wohl auch hier schon von einer
geistigen Seite des Kindes reden.

Auf gleichen Wegen, wie überhaupt der Mensch alle gei-
stige Nahrung, deren er von aussen her bedarf, bezieht — durch
die Sinnesorgane nämlich — werden auch die noch schlum-
mernden Seelenkeime des Kindes geweckt und zur allmäligen
Entwickelung des geistigen Lebens angeregt und befähigt.
Während in den beiden ersten Monaten alle Bewegungen und
Lebensäusserungen des Kindes nur automatischer Natur waren,
gibt dasselbe im 3. und 4. Monate durch bestimmtere Fixirung
seines Blickes, durch Empfänglichkeit für Gehörseindrücke, durch
bestimmteres Greifen nach Gegenständen sein Erwachen aus
dem geistigen Schlummerzustande deutlich zu erkennen. Wir
bereiten daher dem jungen Weltbürger das schönste „Will-
kommen“, wenn wir darauf bedacht sind, dass die ersten
Eindrücke, welche er durch seine aufnahmfähig gewordenen
Sinnesorgane, vorzüglich durch Auge und Ohr, empfängt, so-
viel wie möglich freundlicher und lieblicher Art sind, also be-
sonders: liebevolles Begegnen durch Blick und Ton, Freund-
lichkeit aller in den Wahrnehmungskreis des Kindes fallender
Gegenstände. Die Kinderstube sei, bei aller Einfachheit, für
das Auge und Ohr des Kindes ein kleines Paradies. Zwar
kann kein Mensch mit seiner Erinnerung herabsteigen bis zu
diesen ersten schwachen Dämmerungsstrahlen seines Lebens-
morgens, doch dürfte vom psychologischen Gesichtspuncte aus
die Vermuthung Vieles für sich haben, dass die ersten Jugend-
eindrücke gewissermaassen den Grundton des Gemüthes oder
Gefühles bestimmen, der mehr oder weniger das ganze Leben
durchklingt.

Schon im 5. oder 6. Monate lernt das Kind an den
Blicken, Worten (besonders am Tone der Stimme) und Ge-
berden seiner Umgebung Freundlichkeit und Ernst, Liebkosung

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[59/0063] 1. JAHR. GEISTIGE SEITE. Entwickelungsstufen von der ersten Keimzelle des Samenkorns an bis zum prangend entwickelten Baume — so ist die Ent- wickelungsbahn von den ersten Seelenkeimen bis zum Gipfel- punkte des ausgebildeten menschlichen Geistes zu denken. In diesem allgemeineren und offenbar naturentsprechenderen Sinne nun können wir recht wohl auch hier schon von einer geistigen Seite des Kindes reden. Auf gleichen Wegen, wie überhaupt der Mensch alle gei- stige Nahrung, deren er von aussen her bedarf, bezieht — durch die Sinnesorgane nämlich — werden auch die noch schlum- mernden Seelenkeime des Kindes geweckt und zur allmäligen Entwickelung des geistigen Lebens angeregt und befähigt. Während in den beiden ersten Monaten alle Bewegungen und Lebensäusserungen des Kindes nur automatischer Natur waren, gibt dasselbe im 3. und 4. Monate durch bestimmtere Fixirung seines Blickes, durch Empfänglichkeit für Gehörseindrücke, durch bestimmteres Greifen nach Gegenständen sein Erwachen aus dem geistigen Schlummerzustande deutlich zu erkennen. Wir bereiten daher dem jungen Weltbürger das schönste „Will- kommen“, wenn wir darauf bedacht sind, dass die ersten Eindrücke, welche er durch seine aufnahmfähig gewordenen Sinnesorgane, vorzüglich durch Auge und Ohr, empfängt, so- viel wie möglich freundlicher und lieblicher Art sind, also be- sonders: liebevolles Begegnen durch Blick und Ton, Freund- lichkeit aller in den Wahrnehmungskreis des Kindes fallender Gegenstände. Die Kinderstube sei, bei aller Einfachheit, für das Auge und Ohr des Kindes ein kleines Paradies. Zwar kann kein Mensch mit seiner Erinnerung herabsteigen bis zu diesen ersten schwachen Dämmerungsstrahlen seines Lebens- morgens, doch dürfte vom psychologischen Gesichtspuncte aus die Vermuthung Vieles für sich haben, dass die ersten Jugend- eindrücke gewissermaassen den Grundton des Gemüthes oder Gefühles bestimmen, der mehr oder weniger das ganze Leben durchklingt. Schon im 5. oder 6. Monate lernt das Kind an den Blicken, Worten (besonders am Tone der Stimme) und Ge- berden seiner Umgebung Freundlichkeit und Ernst, Liebkosung

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Zitationshilfe: Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858/63>, abgerufen am 28.04.2024.