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Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858.

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1. JAHR. GLISTIGE SEITE.
und Drohung sicher unterscheiden. Es dämmert im Kinde
das Verständniss dessen, was es thun darf, was nicht.
Ein wichtiger Zeitpunkt. Wir stehen jetzt schon an der
Schwelle derjenigen Periode, wo der directe moralisch erzie-
herische Einfluss beginnen, wo der Grundstein gelegt werden
muss, wenn der fernere geistige Auf- und Ausbau den vollen
soliden Halt und die zielberechnete Richtung erhalten soll.

Das allgemeinste Gesetz für die geistige Erziehung dieser
Altersstufe ist das Gesetz der Gewöhnung:
Unterdrücke im Kinde Alles, halte von ihm
fern Alles, was es sich nicht aneignen soll;
leite es aber beharrlich hin auf Alles, was es
sich angewöhnen soll.

Indem wir das Kind an das Gute und Rechte gewöhnen,
bereiten wir es vor, späterhin das Gute und Rechte mit Be-
wusstsein
und aus freiem Willen zu thun. Das Gewöhnen
ist also nur Mittel zum Zwecke, nicht Selbstzweck, denn so
würde der Mensch nur zu einer guten Maschine, zu einem
Wesen ohne wahren inneren Werth, welches der Abhängigkeit
von den Umständen unterworfen bliebe, anstatt nach Möglich-
keit die Umstände selbständig zu beherrschen. Die Gewohnheit
ist nur die nothwendige Vorbedingung, um die entsprechende
Richtung der Selbstbestimmbarkeit des freien Willens (worin
allein ja das Endziel zu erkennen ist) zu ermöglichen und zu
erleichtern. Denn lässt man entgegengesetzten Falles die
falsch gerichtete Gewohnheit festwurzeln, so wird das Kind
leicht der Gefahr ausgesetzt sein, trotz der späteren Erkennt-
niss des Besseren, dann doch nicht mehr die Kraft zu haben,
die falschgerichtete Gewohnheit niederzukämpfen und mit der
entgegengesetzten zu vertauschen.

Als die ersten Proben, an denen sich die geistig erziehe-
rischen Grundsätze bewähren sollen, sind die durch grundlo-
ses Schreien
und Weinen sich kundgebenden Launen der
Kleinen zu betrachten. Das Schreien hat jetzt eine andere
Bedeutung als beim Neugeborenen in den ersten Lebenswochen.
Hat man sich überzeugt, dass kein richtiges Bedürfniss, kein
lästiger oder schmerzhafter Zustand, kein Kranksein vorhanden

1. JAHR. GLISTIGE SEITE.
und Drohung sicher unterscheiden. Es dämmert im Kinde
das Verständniss dessen, was es thun darf, was nicht.
Ein wichtiger Zeitpunkt. Wir stehen jetzt schon an der
Schwelle derjenigen Periode, wo der directe moralisch erzie-
herische Einfluss beginnen, wo der Grundstein gelegt werden
muss, wenn der fernere geistige Auf- und Ausbau den vollen
soliden Halt und die zielberechnete Richtung erhalten soll.

Das allgemeinste Gesetz für die geistige Erziehung dieser
Altersstufe ist das Gesetz der Gewöhnung:
Unterdrücke im Kinde Alles, halte von ihm
fern Alles, was es sich nicht aneignen soll;
leite es aber beharrlich hin auf Alles, was es
sich angewöhnen soll.

Indem wir das Kind an das Gute und Rechte gewöhnen,
bereiten wir es vor, späterhin das Gute und Rechte mit Be-
wusstsein
und aus freiem Willen zu thun. Das Gewöhnen
ist also nur Mittel zum Zwecke, nicht Selbstzweck, denn so
würde der Mensch nur zu einer guten Maschine, zu einem
Wesen ohne wahren inneren Werth, welches der Abhängigkeit
von den Umständen unterworfen bliebe, anstatt nach Möglich-
keit die Umstände selbständig zu beherrschen. Die Gewohnheit
ist nur die nothwendige Vorbedingung, um die entsprechende
Richtung der Selbstbestimmbarkeit des freien Willens (worin
allein ja das Endziel zu erkennen ist) zu ermöglichen und zu
erleichtern. Denn lässt man entgegengesetzten Falles die
falsch gerichtete Gewohnheit festwurzeln, so wird das Kind
leicht der Gefahr ausgesetzt sein, trotz der späteren Erkennt-
niss des Besseren, dann doch nicht mehr die Kraft zu haben,
die falschgerichtete Gewohnheit niederzukämpfen und mit der
entgegengesetzten zu vertauschen.

Als die ersten Proben, an denen sich die geistig erziehe-
rischen Grundsätze bewähren sollen, sind die durch grundlo-
ses Schreien
und Weinen sich kundgebenden Launen der
Kleinen zu betrachten. Das Schreien hat jetzt eine andere
Bedeutung als beim Neugeborenen in den ersten Lebenswochen.
Hat man sich überzeugt, dass kein richtiges Bedürfniss, kein
lästiger oder schmerzhafter Zustand, kein Kranksein vorhanden

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[60/0064] 1. JAHR. GLISTIGE SEITE. und Drohung sicher unterscheiden. Es dämmert im Kinde das Verständniss dessen, was es thun darf, was nicht. Ein wichtiger Zeitpunkt. Wir stehen jetzt schon an der Schwelle derjenigen Periode, wo der directe moralisch erzie- herische Einfluss beginnen, wo der Grundstein gelegt werden muss, wenn der fernere geistige Auf- und Ausbau den vollen soliden Halt und die zielberechnete Richtung erhalten soll. Das allgemeinste Gesetz für die geistige Erziehung dieser Altersstufe ist das Gesetz der Gewöhnung: Unterdrücke im Kinde Alles, halte von ihm fern Alles, was es sich nicht aneignen soll; leite es aber beharrlich hin auf Alles, was es sich angewöhnen soll. Indem wir das Kind an das Gute und Rechte gewöhnen, bereiten wir es vor, späterhin das Gute und Rechte mit Be- wusstsein und aus freiem Willen zu thun. Das Gewöhnen ist also nur Mittel zum Zwecke, nicht Selbstzweck, denn so würde der Mensch nur zu einer guten Maschine, zu einem Wesen ohne wahren inneren Werth, welches der Abhängigkeit von den Umständen unterworfen bliebe, anstatt nach Möglich- keit die Umstände selbständig zu beherrschen. Die Gewohnheit ist nur die nothwendige Vorbedingung, um die entsprechende Richtung der Selbstbestimmbarkeit des freien Willens (worin allein ja das Endziel zu erkennen ist) zu ermöglichen und zu erleichtern. Denn lässt man entgegengesetzten Falles die falsch gerichtete Gewohnheit festwurzeln, so wird das Kind leicht der Gefahr ausgesetzt sein, trotz der späteren Erkennt- niss des Besseren, dann doch nicht mehr die Kraft zu haben, die falschgerichtete Gewohnheit niederzukämpfen und mit der entgegengesetzten zu vertauschen. Als die ersten Proben, an denen sich die geistig erziehe- rischen Grundsätze bewähren sollen, sind die durch grundlo- ses Schreien und Weinen sich kundgebenden Launen der Kleinen zu betrachten. Das Schreien hat jetzt eine andere Bedeutung als beim Neugeborenen in den ersten Lebenswochen. Hat man sich überzeugt, dass kein richtiges Bedürfniss, kein lästiger oder schmerzhafter Zustand, kein Kranksein vorhanden

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Zitationshilfe: Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858/64>, abgerufen am 30.11.2024.