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Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858.

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B. Geistige Seite.

Es könnte vielleicht Manchem zweifelhaft erscheinen, ob
man überhaupt von einer geistigen Seite des Kindes im ersten
Lebensjahre und von einer Einwirkung auf eine solche in
Wahrheit reden könne. Wenn wir unter "Geist" des Menschen
den Inbegriff des menschlichen Denkens, Fühlens und Wollens
verstehen, wie er näher nach oder auf dem Höhepunkte der
Entwickelung der menschlichen Natur sich darstellt, so kann
allerdings von einer solchen oder auch nur ähnlichen geistigen
Beschaffenheit des Kindes auf dieser ersten Altersstufe nicht
die Rede sein. Nach unserem gewöhnlichen Sprachgebrauche
reden wir von einer Entwickelung des "Geistes" erst von dem
Zeitpunkte an, wo das Kind sein Selbst von der Aussenwelt
bestimmter unterscheiden lernt, wo das hellere Selbstbewusst-
sein auftaucht, wo es von seinem Ich zu reden anfängt, was
meist im dritten oder vierten Jahre geschieht. Bis dahin be-
zeichnen wir den Inbegriff des inneren Lebens mit dem Aus-
drucke "Seele", welchen Ausdruck wir gemeinhin auch für das
gleichsam unbewusst sich fortentwickelnde menschliche Ge-
fühlsleben überhaupt gebrauchen. Diese Unterschiede sind
aber nur sprachliche Nothbehelfe. In der ganzen lebenden
Natur gibt es keine solchen Absätze oder Abschnitte. Alles
Werden und Sichentwickeln ist ein so allmäliges Uebergehen,
dass es unserer Wahrnehmung fast überall gänzlich entschwin-
det, eine für uns unendliche Kette, deren einzelne Glieder und
Gelenke wir nicht zu erkennen vermögen. Wie eine gezogene
Linie, die doch aus unendlich vielen einzelnen, für das mensch-
liche Auge aber nicht unterscheidbaren Punkten bestehend
gedacht werden muss, wie die unendliche Kette organischer

B. Geistige Seite.

Es könnte vielleicht Manchem zweifelhaft erscheinen, ob
man überhaupt von einer geistigen Seite des Kindes im ersten
Lebensjahre und von einer Einwirkung auf eine solche in
Wahrheit reden könne. Wenn wir unter „Geist“ des Menschen
den Inbegriff des menschlichen Denkens, Fühlens und Wollens
verstehen, wie er näher nach oder auf dem Höhepunkte der
Entwickelung der menschlichen Natur sich darstellt, so kann
allerdings von einer solchen oder auch nur ähnlichen geistigen
Beschaffenheit des Kindes auf dieser ersten Altersstufe nicht
die Rede sein. Nach unserem gewöhnlichen Sprachgebrauche
reden wir von einer Entwickelung des „Geistes“ erst von dem
Zeitpunkte an, wo das Kind sein Selbst von der Aussenwelt
bestimmter unterscheiden lernt, wo das hellere Selbstbewusst-
sein auftaucht, wo es von seinem Ich zu reden anfängt, was
meist im dritten oder vierten Jahre geschieht. Bis dahin be-
zeichnen wir den Inbegriff des inneren Lebens mit dem Aus-
drucke „Seele“, welchen Ausdruck wir gemeinhin auch für das
gleichsam unbewusst sich fortentwickelnde menschliche Ge-
fühlsleben überhaupt gebrauchen. Diese Unterschiede sind
aber nur sprachliche Nothbehelfe. In der ganzen lebenden
Natur gibt es keine solchen Absätze oder Abschnitte. Alles
Werden und Sichentwickeln ist ein so allmäliges Uebergehen,
dass es unserer Wahrnehmung fast überall gänzlich entschwin-
det, eine für uns unendliche Kette, deren einzelne Glieder und
Gelenke wir nicht zu erkennen vermögen. Wie eine gezogene
Linie, die doch aus unendlich vielen einzelnen, für das mensch-
liche Auge aber nicht unterscheidbaren Punkten bestehend
gedacht werden muss, wie die unendliche Kette organischer

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[[58]/0062] B. Geistige Seite. Es könnte vielleicht Manchem zweifelhaft erscheinen, ob man überhaupt von einer geistigen Seite des Kindes im ersten Lebensjahre und von einer Einwirkung auf eine solche in Wahrheit reden könne. Wenn wir unter „Geist“ des Menschen den Inbegriff des menschlichen Denkens, Fühlens und Wollens verstehen, wie er näher nach oder auf dem Höhepunkte der Entwickelung der menschlichen Natur sich darstellt, so kann allerdings von einer solchen oder auch nur ähnlichen geistigen Beschaffenheit des Kindes auf dieser ersten Altersstufe nicht die Rede sein. Nach unserem gewöhnlichen Sprachgebrauche reden wir von einer Entwickelung des „Geistes“ erst von dem Zeitpunkte an, wo das Kind sein Selbst von der Aussenwelt bestimmter unterscheiden lernt, wo das hellere Selbstbewusst- sein auftaucht, wo es von seinem Ich zu reden anfängt, was meist im dritten oder vierten Jahre geschieht. Bis dahin be- zeichnen wir den Inbegriff des inneren Lebens mit dem Aus- drucke „Seele“, welchen Ausdruck wir gemeinhin auch für das gleichsam unbewusst sich fortentwickelnde menschliche Ge- fühlsleben überhaupt gebrauchen. Diese Unterschiede sind aber nur sprachliche Nothbehelfe. In der ganzen lebenden Natur gibt es keine solchen Absätze oder Abschnitte. Alles Werden und Sichentwickeln ist ein so allmäliges Uebergehen, dass es unserer Wahrnehmung fast überall gänzlich entschwin- det, eine für uns unendliche Kette, deren einzelne Glieder und Gelenke wir nicht zu erkennen vermögen. Wie eine gezogene Linie, die doch aus unendlich vielen einzelnen, für das mensch- liche Auge aber nicht unterscheidbaren Punkten bestehend gedacht werden muss, wie die unendliche Kette organischer

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Zitationshilfe: Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858, S. [58]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858/62>, abgerufen am 27.04.2024.