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Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858.

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8. -- 16. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND MIT SEINEN ÄLTERN.
gleichzeitige Erlernung mehrerer Sprachen eine immer weitere
Abklärung und Vergeistigung der Begriffe). Wie eine unse-
rem Körper zugeführte Nahrung denselben nicht direct ernäh-
ren kann, sondern erst dadurch, dass das Zugeführte die Pro-
cesse der Verdauung, Blutbereitung etc. durchwandert und so
angeähnlicht und aufgenommen wird, so etwa ist es auch mit
dem Worte, besonders dem abstracte Begriffe bezeichnenden.
Sein geistiger Inhalt, der reine Begriff, kann erst durch gei-
stige Verarbeitung des Wortbegriffes und des schon vorhande-
nen verwandten Materiales (ähnlicher Vorstellungen und Be-
griffe) gewonnen werden. Der Geist vieler Worte kann nur
mit dem Geiste, nicht mit dem Ohre erfasst, nicht mit dem
Munde wiedergegeben werden.

Wenden wir dies auf die christliche Religionslehre an,
so ergibt sich, dass, da auch die Worte der kirchlichen Lehr-
sätze nicht direct von Gott zu uns gesprochene Worte, sondern
eben nur menschliche Sprachformen, noch dazu aus fremden
Sprachen umgegossene Worte sind, für uns dieselben als die
Durchgangsformen, die wir als heilige Gefässe zu verehren
haben, gelten müssen, um zu deren Inhalte, zu dem Allerhei-
ligsten, zu dem rein Göttlichen, zu dem reinen Religions-
begriffe, zu dem Geiste der Religion zu gelangen. Sie sind
das Erz, aus dem der einzelne Mensch das reine Gold durch
seine Anstrengung gewinnen soll. Das Wort der Religion soll
nicht blos an Ohr' und Munde haften bleiben, sondern der
hohe Sinn, der Geist des Wortes soll eindringen und mit dem
Geiste sich vermählen. Die äussere Offenbarung und die in-
nere (die Vernunft in ihrer höchsten Entwickelung) sind die
beiden Strahlen, welche um so mehr sich nähern, je mehr sie
von allem Menschlichen, was beiden anhaftet, geläutert werden,
bis sie endlich in einem Punkte, dem Punkte der vollständi-
gen Verschmelzung zusammentreffen. Der Buchstabenglaube
ist allerdings für Denjenigen, der sich in ihn hineinzwingen
kann, ein bequemeres Ruhebett, als der Vernunftglaube, weil
er der Mühe des Selbstdenkens überhebt. Aber unser ganzes
Leben ist nun einmal nicht auf Bequemlichkeit berechnet, son-
dern auf rüstiges Vorwärts- und Aufwärtsstreben, auch hin-

8. — 16. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND MIT SEINEN ÄLTERN.
gleichzeitige Erlernung mehrerer Sprachen eine immer weitere
Abklärung und Vergeistigung der Begriffe). Wie eine unse-
rem Körper zugeführte Nahrung denselben nicht direct ernäh-
ren kann, sondern erst dadurch, dass das Zugeführte die Pro-
cesse der Verdauung, Blutbereitung etc. durchwandert und so
angeähnlicht und aufgenommen wird, so etwa ist es auch mit
dem Worte, besonders dem abstracte Begriffe bezeichnenden.
Sein geistiger Inhalt, der reine Begriff, kann erst durch gei-
stige Verarbeitung des Wortbegriffes und des schon vorhande-
nen verwandten Materiales (ähnlicher Vorstellungen und Be-
griffe) gewonnen werden. Der Geist vieler Worte kann nur
mit dem Geiste, nicht mit dem Ohre erfasst, nicht mit dem
Munde wiedergegeben werden.

Wenden wir dies auf die christliche Religionslehre an,
so ergibt sich, dass, da auch die Worte der kirchlichen Lehr-
sätze nicht direct von Gott zu uns gesprochene Worte, sondern
eben nur menschliche Sprachformen, noch dazu aus fremden
Sprachen umgegossene Worte sind, für uns dieselben als die
Durchgangsformen, die wir als heilige Gefässe zu verehren
haben, gelten müssen, um zu deren Inhalte, zu dem Allerhei-
ligsten, zu dem rein Göttlichen, zu dem reinen Religions-
begriffe, zu dem Geiste der Religion zu gelangen. Sie sind
das Erz, aus dem der einzelne Mensch das reine Gold durch
seine Anstrengung gewinnen soll. Das Wort der Religion soll
nicht blos an Ohr' und Munde haften bleiben, sondern der
hohe Sinn, der Geist des Wortes soll eindringen und mit dem
Geiste sich vermählen. Die äussere Offenbarung und die in-
nere (die Vernunft in ihrer höchsten Entwickelung) sind die
beiden Strahlen, welche um so mehr sich nähern, je mehr sie
von allem Menschlichen, was beiden anhaftet, geläutert werden,
bis sie endlich in einem Punkte, dem Punkte der vollständi-
gen Verschmelzung zusammentreffen. Der Buchstabenglaube
ist allerdings für Denjenigen, der sich in ihn hineinzwingen
kann, ein bequemeres Ruhebett, als der Vernunftglaube, weil
er der Mühe des Selbstdenkens überhebt. Aber unser ganzes
Leben ist nun einmal nicht auf Bequemlichkeit berechnet, son-
dern auf rüstiges Vorwärts- und Aufwärtsstreben, auch hin-

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[254/0258] 8. — 16. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND MIT SEINEN ÄLTERN. gleichzeitige Erlernung mehrerer Sprachen eine immer weitere Abklärung und Vergeistigung der Begriffe). Wie eine unse- rem Körper zugeführte Nahrung denselben nicht direct ernäh- ren kann, sondern erst dadurch, dass das Zugeführte die Pro- cesse der Verdauung, Blutbereitung etc. durchwandert und so angeähnlicht und aufgenommen wird, so etwa ist es auch mit dem Worte, besonders dem abstracte Begriffe bezeichnenden. Sein geistiger Inhalt, der reine Begriff, kann erst durch gei- stige Verarbeitung des Wortbegriffes und des schon vorhande- nen verwandten Materiales (ähnlicher Vorstellungen und Be- griffe) gewonnen werden. Der Geist vieler Worte kann nur mit dem Geiste, nicht mit dem Ohre erfasst, nicht mit dem Munde wiedergegeben werden. Wenden wir dies auf die christliche Religionslehre an, so ergibt sich, dass, da auch die Worte der kirchlichen Lehr- sätze nicht direct von Gott zu uns gesprochene Worte, sondern eben nur menschliche Sprachformen, noch dazu aus fremden Sprachen umgegossene Worte sind, für uns dieselben als die Durchgangsformen, die wir als heilige Gefässe zu verehren haben, gelten müssen, um zu deren Inhalte, zu dem Allerhei- ligsten, zu dem rein Göttlichen, zu dem reinen Religions- begriffe, zu dem Geiste der Religion zu gelangen. Sie sind das Erz, aus dem der einzelne Mensch das reine Gold durch seine Anstrengung gewinnen soll. Das Wort der Religion soll nicht blos an Ohr' und Munde haften bleiben, sondern der hohe Sinn, der Geist des Wortes soll eindringen und mit dem Geiste sich vermählen. Die äussere Offenbarung und die in- nere (die Vernunft in ihrer höchsten Entwickelung) sind die beiden Strahlen, welche um so mehr sich nähern, je mehr sie von allem Menschlichen, was beiden anhaftet, geläutert werden, bis sie endlich in einem Punkte, dem Punkte der vollständi- gen Verschmelzung zusammentreffen. Der Buchstabenglaube ist allerdings für Denjenigen, der sich in ihn hineinzwingen kann, ein bequemeres Ruhebett, als der Vernunftglaube, weil er der Mühe des Selbstdenkens überhebt. Aber unser ganzes Leben ist nun einmal nicht auf Bequemlichkeit berechnet, son- dern auf rüstiges Vorwärts- und Aufwärtsstreben, auch hin-

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Zitationshilfe: Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858, S. 254. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858/258>, abgerufen am 22.11.2024.