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Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858.

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8. -- 16. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND MIT SEINEN ÄLTERN.
sichtlich der Fortentwickelung und Läuterung der Religions-
erkenntniss. Darin beruht das innerste Wesen des geistigen
Lebens. Das Gegentheil ist naturwidrig und deshalb in seinen
endlichen Folgen verderblich. Der menschliche Geist unter
dem todten Buchstaben begraben, wird dadurch auf der von
Gott bezeichneten Bahn seiner Lebensentwickelung nicht geför-
dert, sondern gehemmt und zurückgedrückt, der Lebensdrang
anstatt befriedigt, gewaltsam eingezwängt, und dadurch früher
oder später eine oft mit verschiedenen Gefahren verbundene
Sprengung der Fesseln herbeigeführt. Nicht also das Wort,
sondern der Geist, den aus dem Worte jeder einzelne Mensch
erstrebend gewinnen soll, der christliche Gottesbegriff
und das christliche Sittengesetz, ist das einzig Unan-
tastbare, das Göttliche der Christuslehre.

Diesen Geist, der mit dem Kernpunkte unseres Ichs, mit
der Freiheit des Gewissens, Gedankens und Willens in innig-
ster, gottgegebener Verwandtschaft steht, lassen wir uns nicht
rauben, wie es der Fall ist, wenn er dem Buchstaben unter-
geordnet wird. Von aussen kommender Glaubenszwang ist
der Todesstreich für die wahre Religiosität. Tausende von
Menschen werden dadurch zur (offenen oder versteckten) Irre-
ligiosität getrieben, oder von den nachgiebigen Seelen so
manche dem religiösen Irrwahne*) zugeführt, weil die zur
Aneignung des Glaubens unentbehrliche, freie, eigene Kraft
und Neigung vernichtet oder aus ihrer natürlichen Richtung
gedrängt wird. Glauben -- durch den inneren Sinn allein
erkennen; dasjenige geistig auf- und annehmen, was man durch
die äusseren Sinne nicht aufnehmen kann -- setzt voraus, dass
der aufgenommene Gegenstand soweit als eben möglich durch-
dacht oder durchfühlt, geistig verdaut, angeeignet, in Geistes-
blut verwandelt worden sei. Nun kann ein Mensch dem an-
dern wohl geistige Nahrung zuführen, aber die Verdauung, die

*) Die Beobachtungen der Irrenärzte in neuester Zeit weisen eine auffäl-
lige Zunahme desselben (meist in Form von Teufels-Monomanieen) besonders
unter dem weiblichen Geschlechte nach. Zahlen sprechen am deutlichsten und
würden ein noch weit überraschenderes Resultat liefern, wenn alles derartige in
der Stille verborgene Unglück mitgezählt werden könnte.

8. — 16. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND MIT SEINEN ÄLTERN.
sichtlich der Fortentwickelung und Läuterung der Religions-
erkenntniss. Darin beruht das innerste Wesen des geistigen
Lebens. Das Gegentheil ist naturwidrig und deshalb in seinen
endlichen Folgen verderblich. Der menschliche Geist unter
dem todten Buchstaben begraben, wird dadurch auf der von
Gott bezeichneten Bahn seiner Lebensentwickelung nicht geför-
dert, sondern gehemmt und zurückgedrückt, der Lebensdrang
anstatt befriedigt, gewaltsam eingezwängt, und dadurch früher
oder später eine oft mit verschiedenen Gefahren verbundene
Sprengung der Fesseln herbeigeführt. Nicht also das Wort,
sondern der Geist, den aus dem Worte jeder einzelne Mensch
erstrebend gewinnen soll, der christliche Gottesbegriff
und das christliche Sittengesetz, ist das einzig Unan-
tastbare, das Göttliche der Christuslehre.

Diesen Geist, der mit dem Kernpunkte unseres Ichs, mit
der Freiheit des Gewissens, Gedankens und Willens in innig-
ster, gottgegebener Verwandtschaft steht, lassen wir uns nicht
rauben, wie es der Fall ist, wenn er dem Buchstaben unter-
geordnet wird. Von aussen kommender Glaubenszwang ist
der Todesstreich für die wahre Religiosität. Tausende von
Menschen werden dadurch zur (offenen oder versteckten) Irre-
ligiosität getrieben, oder von den nachgiebigen Seelen so
manche dem religiösen Irrwahne*) zugeführt, weil die zur
Aneignung des Glaubens unentbehrliche, freie, eigene Kraft
und Neigung vernichtet oder aus ihrer natürlichen Richtung
gedrängt wird. Glauben — durch den inneren Sinn allein
erkennen; dasjenige geistig auf- und annehmen, was man durch
die äusseren Sinne nicht aufnehmen kann — setzt voraus, dass
der aufgenommene Gegenstand soweit als eben möglich durch-
dacht oder durchfühlt, geistig verdaut, angeeignet, in Geistes-
blut verwandelt worden sei. Nun kann ein Mensch dem an-
dern wohl geistige Nahrung zuführen, aber die Verdauung, die

*) Die Beobachtungen der Irrenärzte in neuester Zeit weisen eine auffäl-
lige Zunahme desselben (meist in Form von Teufels-Monomanieen) besonders
unter dem weiblichen Geschlechte nach. Zahlen sprechen am deutlichsten und
würden ein noch weit überraschenderes Resultat liefern, wenn alles derartige in
der Stille verborgene Unglück mitgezählt werden könnte.
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[255/0259] 8. — 16. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND MIT SEINEN ÄLTERN. sichtlich der Fortentwickelung und Läuterung der Religions- erkenntniss. Darin beruht das innerste Wesen des geistigen Lebens. Das Gegentheil ist naturwidrig und deshalb in seinen endlichen Folgen verderblich. Der menschliche Geist unter dem todten Buchstaben begraben, wird dadurch auf der von Gott bezeichneten Bahn seiner Lebensentwickelung nicht geför- dert, sondern gehemmt und zurückgedrückt, der Lebensdrang anstatt befriedigt, gewaltsam eingezwängt, und dadurch früher oder später eine oft mit verschiedenen Gefahren verbundene Sprengung der Fesseln herbeigeführt. Nicht also das Wort, sondern der Geist, den aus dem Worte jeder einzelne Mensch erstrebend gewinnen soll, der christliche Gottesbegriff und das christliche Sittengesetz, ist das einzig Unan- tastbare, das Göttliche der Christuslehre. Diesen Geist, der mit dem Kernpunkte unseres Ichs, mit der Freiheit des Gewissens, Gedankens und Willens in innig- ster, gottgegebener Verwandtschaft steht, lassen wir uns nicht rauben, wie es der Fall ist, wenn er dem Buchstaben unter- geordnet wird. Von aussen kommender Glaubenszwang ist der Todesstreich für die wahre Religiosität. Tausende von Menschen werden dadurch zur (offenen oder versteckten) Irre- ligiosität getrieben, oder von den nachgiebigen Seelen so manche dem religiösen Irrwahne *) zugeführt, weil die zur Aneignung des Glaubens unentbehrliche, freie, eigene Kraft und Neigung vernichtet oder aus ihrer natürlichen Richtung gedrängt wird. Glauben — durch den inneren Sinn allein erkennen; dasjenige geistig auf- und annehmen, was man durch die äusseren Sinne nicht aufnehmen kann — setzt voraus, dass der aufgenommene Gegenstand soweit als eben möglich durch- dacht oder durchfühlt, geistig verdaut, angeeignet, in Geistes- blut verwandelt worden sei. Nun kann ein Mensch dem an- dern wohl geistige Nahrung zuführen, aber die Verdauung, die *) Die Beobachtungen der Irrenärzte in neuester Zeit weisen eine auffäl- lige Zunahme desselben (meist in Form von Teufels-Monomanieen) besonders unter dem weiblichen Geschlechte nach. Zahlen sprechen am deutlichsten und würden ein noch weit überraschenderes Resultat liefern, wenn alles derartige in der Stille verborgene Unglück mitgezählt werden könnte.

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Zitationshilfe: Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858, S. 255. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858/259>, abgerufen am 22.11.2024.