Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite

8. -- 16. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND MIT SEINEN ÄLTERN.
Individualität mit dem von aussen Dargebotenen (und wäre
dessen Erkennbarkeit auch noch so eng begrenzt) durch
Selbstthätigkeit verschmelzen, wenn es das letztere in sich auf-
nehmen soll.

Hier also ist die Klippe, an welche wir unsere Kinder
nicht gerathen, wo wir sie wenigstens nicht lange hilflos las-
sen dürfen, wenn wir nicht riskiren wollen, dass sie an ihrem
höchsten Gute, an ihrer religiösen Habe, Schiffbruch leiden
sollen. Können sie auf Grund jener durch den Unterricht
gegebenen allgemeinen Norm der Religionsbegriffe den Weg
nach dem höchsten inneren Zielpunkte, dem Geiste der Reli-
gion, nicht selbst finden, so ist es unsere heilige Pflicht, nach
besten Kräften ihnen dazu zu verhelfen.

Die Wichtigkeit der Sache möge einen erläuternden Zusatz
rechtfertigen:

Selbst in den ausgebildetsten menschlichen Sprachen er-
reicht ein Wort, welches zur Bezeichnung von rein geistigen
Zuständen, Gefühlen, abstracten, übersinnlichen oder bildlichen
Begriffen dient, den Begriff, welchen es ausdrücken soll, nur
annähernd, nicht vollständig, kann ihn nicht vollständig ver-
körpert von einem auf den anderen Menschen übertragen, son-
dern es gehört Selbstthätigkeit des anderen Menschen dazu, um
ihn nach seiner und für seine Individualität erfassbar und
aufnahmsfähig zu machen, um aus dem Worte den Begriff
herauszufinden. Daher bleibt die Art dieses Heraussuchens und
Herausfindens -- wie unveränderlich fest auch der Begriff an
sich selbst sein mag -- immer individuell. Dies erkennen wir
am deutlichsten, wenn wir solche Worte mit den möglichst
gleichbedeutenden Worten einer anderen Sprache vergleichen.
Bei diesem Umgiessen der Wortformen und Wortbegriffe aus
einer Sprache in die andere fühlt es jeder denkende Mensch
deutlich heraus, dass hinter dem veränderlichen und unsicheren
nächsten Wortbegriffe noch etwas durch das Wort der ande-
ren Sprache nicht ganz Erfassbares, Unveränderliches, Höhe-
res, Absolutes, der Begriff an sich selbst, steht, dass also jeder
höhere Begriff zu seinem Worte sich verhält, wie der Geist
zum Körper. (Deshalb bewirkt auch, beiläufig bemerkt, die

8. — 16. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND MIT SEINEN ÄLTERN.
Individualität mit dem von aussen Dargebotenen (und wäre
dessen Erkennbarkeit auch noch so eng begrenzt) durch
Selbstthätigkeit verschmelzen, wenn es das letztere in sich auf-
nehmen soll.

Hier also ist die Klippe, an welche wir unsere Kinder
nicht gerathen, wo wir sie wenigstens nicht lange hilflos las-
sen dürfen, wenn wir nicht riskiren wollen, dass sie an ihrem
höchsten Gute, an ihrer religiösen Habe, Schiffbruch leiden
sollen. Können sie auf Grund jener durch den Unterricht
gegebenen allgemeinen Norm der Religionsbegriffe den Weg
nach dem höchsten inneren Zielpunkte, dem Geiste der Reli-
gion, nicht selbst finden, so ist es unsere heilige Pflicht, nach
besten Kräften ihnen dazu zu verhelfen.

Die Wichtigkeit der Sache möge einen erläuternden Zusatz
rechtfertigen:

Selbst in den ausgebildetsten menschlichen Sprachen er-
reicht ein Wort, welches zur Bezeichnung von rein geistigen
Zuständen, Gefühlen, abstracten, übersinnlichen oder bildlichen
Begriffen dient, den Begriff, welchen es ausdrücken soll, nur
annähernd, nicht vollständig, kann ihn nicht vollständig ver-
körpert von einem auf den anderen Menschen übertragen, son-
dern es gehört Selbstthätigkeit des anderen Menschen dazu, um
ihn nach seiner und für seine Individualität erfassbar und
aufnahmsfähig zu machen, um aus dem Worte den Begriff
herauszufinden. Daher bleibt die Art dieses Heraussuchens und
Herausfindens — wie unveränderlich fest auch der Begriff an
sich selbst sein mag — immer individuell. Dies erkennen wir
am deutlichsten, wenn wir solche Worte mit den möglichst
gleichbedeutenden Worten einer anderen Sprache vergleichen.
Bei diesem Umgiessen der Wortformen und Wortbegriffe aus
einer Sprache in die andere fühlt es jeder denkende Mensch
deutlich heraus, dass hinter dem veränderlichen und unsicheren
nächsten Wortbegriffe noch etwas durch das Wort der ande-
ren Sprache nicht ganz Erfassbares, Unveränderliches, Höhe-
res, Absolutes, der Begriff an sich selbst, steht, dass also jeder
höhere Begriff zu seinem Worte sich verhält, wie der Geist
zum Körper. (Deshalb bewirkt auch, beiläufig bemerkt, die

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0257" n="253"/><fw place="top" type="header">8. &#x2014; 16. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND MIT SEINEN ÄLTERN.</fw><lb/>
Individualität mit dem von aussen Dargebotenen (und wäre<lb/>
dessen Erkennbarkeit auch noch so eng begrenzt) durch<lb/>
Selbstthätigkeit verschmelzen, wenn es das letztere in sich auf-<lb/>
nehmen soll.</p><lb/>
            <p>Hier also ist die Klippe, an welche wir unsere Kinder<lb/>
nicht gerathen, wo wir sie wenigstens nicht lange hilflos las-<lb/>
sen dürfen, wenn wir nicht riskiren wollen, dass sie an ihrem<lb/>
höchsten Gute, an ihrer religiösen Habe, Schiffbruch leiden<lb/>
sollen. Können sie auf Grund jener durch den Unterricht<lb/>
gegebenen allgemeinen Norm der Religionsbegriffe den Weg<lb/>
nach dem höchsten inneren Zielpunkte, dem Geiste der Reli-<lb/>
gion, nicht selbst finden, so ist es unsere heilige Pflicht, nach<lb/>
besten Kräften ihnen dazu zu verhelfen.</p><lb/>
            <p>Die Wichtigkeit der Sache möge einen erläuternden Zusatz<lb/>
rechtfertigen:</p><lb/>
            <p rendition="#i">Selbst in den ausgebildetsten menschlichen Sprachen er-<lb/>
reicht ein Wort, welches zur Bezeichnung von rein geistigen<lb/>
Zuständen, Gefühlen, abstracten, übersinnlichen oder bildlichen<lb/>
Begriffen dient, den Begriff, welchen es ausdrücken soll, nur<lb/>
annähernd, nicht vollständig, kann ihn nicht vollständig ver-<lb/>
körpert von einem auf den anderen Menschen übertragen, son-<lb/>
dern es gehört Selbstthätigkeit des anderen Menschen dazu, um<lb/>
ihn nach seiner und für seine Individualität erfassbar und<lb/>
aufnahmsfähig zu machen, um aus dem Worte den Begriff<lb/>
herauszufinden. Daher bleibt die Art dieses Heraussuchens und<lb/>
Herausfindens &#x2014; wie unveränderlich fest auch der Begriff an<lb/>
sich selbst sein mag &#x2014; immer individuell. Dies erkennen wir<lb/>
am deutlichsten, wenn wir solche Worte mit den möglichst<lb/>
gleichbedeutenden Worten einer anderen Sprache vergleichen.<lb/>
Bei diesem Umgiessen der Wortformen und Wortbegriffe aus<lb/>
einer Sprache in die andere fühlt es jeder denkende Mensch<lb/>
deutlich heraus, dass hinter dem veränderlichen und unsicheren<lb/>
nächsten Wortbegriffe noch etwas durch das Wort der ande-<lb/>
ren Sprache nicht ganz Erfassbares, Unveränderliches, Höhe-<lb/>
res, Absolutes, der Begriff an sich selbst, steht, dass also jeder<lb/>
höhere Begriff zu seinem Worte sich verhält, wie der Geist<lb/>
zum Körper. (Deshalb bewirkt auch, beiläufig bemerkt, die<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[253/0257] 8. — 16. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND MIT SEINEN ÄLTERN. Individualität mit dem von aussen Dargebotenen (und wäre dessen Erkennbarkeit auch noch so eng begrenzt) durch Selbstthätigkeit verschmelzen, wenn es das letztere in sich auf- nehmen soll. Hier also ist die Klippe, an welche wir unsere Kinder nicht gerathen, wo wir sie wenigstens nicht lange hilflos las- sen dürfen, wenn wir nicht riskiren wollen, dass sie an ihrem höchsten Gute, an ihrer religiösen Habe, Schiffbruch leiden sollen. Können sie auf Grund jener durch den Unterricht gegebenen allgemeinen Norm der Religionsbegriffe den Weg nach dem höchsten inneren Zielpunkte, dem Geiste der Reli- gion, nicht selbst finden, so ist es unsere heilige Pflicht, nach besten Kräften ihnen dazu zu verhelfen. Die Wichtigkeit der Sache möge einen erläuternden Zusatz rechtfertigen: Selbst in den ausgebildetsten menschlichen Sprachen er- reicht ein Wort, welches zur Bezeichnung von rein geistigen Zuständen, Gefühlen, abstracten, übersinnlichen oder bildlichen Begriffen dient, den Begriff, welchen es ausdrücken soll, nur annähernd, nicht vollständig, kann ihn nicht vollständig ver- körpert von einem auf den anderen Menschen übertragen, son- dern es gehört Selbstthätigkeit des anderen Menschen dazu, um ihn nach seiner und für seine Individualität erfassbar und aufnahmsfähig zu machen, um aus dem Worte den Begriff herauszufinden. Daher bleibt die Art dieses Heraussuchens und Herausfindens — wie unveränderlich fest auch der Begriff an sich selbst sein mag — immer individuell. Dies erkennen wir am deutlichsten, wenn wir solche Worte mit den möglichst gleichbedeutenden Worten einer anderen Sprache vergleichen. Bei diesem Umgiessen der Wortformen und Wortbegriffe aus einer Sprache in die andere fühlt es jeder denkende Mensch deutlich heraus, dass hinter dem veränderlichen und unsicheren nächsten Wortbegriffe noch etwas durch das Wort der ande- ren Sprache nicht ganz Erfassbares, Unveränderliches, Höhe- res, Absolutes, der Begriff an sich selbst, steht, dass also jeder höhere Begriff zu seinem Worte sich verhält, wie der Geist zum Körper. (Deshalb bewirkt auch, beiläufig bemerkt, die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858/257
Zitationshilfe: Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858, S. 253. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858/257>, abgerufen am 22.11.2024.