Marie, das reizende Kind, stand vor ihrem Psychespiegel und veränderte noch hie und da etwas an ihrer Frisur, die eben aus Dinas geschickten Hän- den hervorgegangen war und kaum einen Wunsch übrig ließ. Trotz dem hatte Marie noch Manches daran auszusetzen: diese Locke fiel nicht leicht genug, jene wieder zu nachläßig; diese wurde mehr in die Höhe, jene tiefer herabgezogen und dabei ging es nicht ohne Tadel für die arme Dina ab, die, das Bild der leidenden Geduld, hinter der ungeduldigen Gebie- terin stand und alle diese ungerechten Vorwürfe an- hörte, ohne auch nur ein einziges Wort darauf zu erwiedern.
Das Bild beider Mädchen, wie es sich jetzt in dem großen Spiegel zeigte, bot den schneidendsten Contrast dar. Marie, in üppiger Lebensfülle und jugendlicher Frische prangend, mit der stolzen, selbst- zufriedenen Miene, konnte nicht satt werden, ihre blühende Schönheit zu betrachten, die durch die neben ihr sich zeigende bleiche, völlig verblühte Gestalt des dem nahen Tode geweihten Mädchens nur um so le- bendiger hervorgehoben wurde; die eitle Marie hätte sich keine schönere Folie wünschen können, als
Achtes Kapitel.
Marie, das reizende Kind, ſtand vor ihrem Pſycheſpiegel und veränderte noch hie und da etwas an ihrer Friſur, die eben aus Dinas geſchickten Hän- den hervorgegangen war und kaum einen Wunſch übrig ließ. Trotz dem hatte Marie noch Manches daran auszuſetzen: dieſe Locke fiel nicht leicht genug, jene wieder zu nachläßig; dieſe wurde mehr in die Höhe, jene tiefer herabgezogen und dabei ging es nicht ohne Tadel für die arme Dina ab, die, das Bild der leidenden Geduld, hinter der ungeduldigen Gebie- terin ſtand und alle dieſe ungerechten Vorwürfe an- hörte, ohne auch nur ein einziges Wort darauf zu erwiedern.
Das Bild beider Mädchen, wie es ſich jetzt in dem großen Spiegel zeigte, bot den ſchneidendſten Contraſt dar. Marie, in üppiger Lebensfülle und jugendlicher Friſche prangend, mit der ſtolzen, ſelbſt- zufriedenen Miene, konnte nicht ſatt werden, ihre blühende Schönheit zu betrachten, die durch die neben ihr ſich zeigende bleiche, völlig verblühte Geſtalt des dem nahen Tode geweihten Mädchens nur um ſo le- bendiger hervorgehoben wurde; die eitle Marie hätte ſich keine ſchönere Folie wünſchen können, als
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Achtes Kapitel.
Marie, das reizende Kind, ſtand vor ihrem
Pſycheſpiegel und veränderte noch hie und da etwas
an ihrer Friſur, die eben aus Dinas geſchickten Hän-
den hervorgegangen war und kaum einen Wunſch
übrig ließ. Trotz dem hatte Marie noch Manches
daran auszuſetzen: dieſe Locke fiel nicht leicht genug,
jene wieder zu nachläßig; dieſe wurde mehr in die
Höhe, jene tiefer herabgezogen und dabei ging es nicht
ohne Tadel für die arme Dina ab, die, das Bild
der leidenden Geduld, hinter der ungeduldigen Gebie-
terin ſtand und alle dieſe ungerechten Vorwürfe an-
hörte, ohne auch nur ein einziges Wort darauf zu
erwiedern.
Das Bild beider Mädchen, wie es ſich jetzt in
dem großen Spiegel zeigte, bot den ſchneidendſten
Contraſt dar. Marie, in üppiger Lebensfülle und
jugendlicher Friſche prangend, mit der ſtolzen, ſelbſt-
zufriedenen Miene, konnte nicht ſatt werden, ihre
blühende Schönheit zu betrachten, die durch die neben
ihr ſich zeigende bleiche, völlig verblühte Geſtalt des
dem nahen Tode geweihten Mädchens nur um ſo le-
bendiger hervorgehoben wurde; die eitle Marie hätte
ſich keine ſchönere Folie wünſchen können, als
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Schoppe, Amalie: Der Prophet. Bd. 1. Jena, 1846, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schoppe_prophet01_1846/146>, abgerufen am 27.07.2024.
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