Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gisander [i. e. Schnabel, Johann Gottfried]: Wunderliche Fata einiger See-Fahrer. 3. Aufl. Bd. 1. Nordhausen, 1740.

Bild:
<< vorherige Seite

und wiederholte diesen Gesang binnen etlichen
Stunden so offte, biß ich alles fertig auswendig sin-
gen und spielenkonte.

Hierauf nahm ich das kleine angenehme Kind
in die Arme vor mich, drückte es an meine Brust,
küssete dasselbe viele mal, und sagte im grösten Lie-
bes-Affect ohngefehr folgende laute Worte: Ach!
du allerliebster kleiner Engel, wolte doch der Him-
mel, daß du allbereit noch ein Mandel Jahre zurück
gelegt hättest, vielleicht wäre meine hefftige Liebe
bey dir glücklicher als bey deiner Mutter, aber so
lange Zeit zwischen Furcht und Hoffnung zu war-
ten, ist eine würckliche Marter zu nennen. Ach wie
vergnügt wolte ich, als ein anderer Adam, meine
gantze Lebens-Zeit in diesem Paradiese zubringen,
wenn nur nicht meine besten Jugend-Jahre, ohne
eine geliebte Eva zu umarmen, verrauchen solten.
Gerechter Himmel, warum schenckest du mir nicht
auch die Krafft, den von Natur allen Menschen ein-
gepflantzten Trieb zum Ehestande gäntzlich zu ersti-
cken, und in diesem Stücke so unempfindlich als van
Leuvens
Wittbe zu seyn? Oder warum lenckest du
ihr Hertz nicht, sich vor deinen allwissenden Augen
mit mir zu vereheligen, denn mein Hertze kennest du
ja, und weist, daß meine sehnliche Liebe keine geile
Brunst, sondern deine heilige Ordnung zum Grun-
de hat. Ach was vor einer harten Probe unter-
wirffst du meine Keuschheit und Tugend, indem ich
bey einer solchen vollkommenen schönen Wittfrau
Tag und Nacht unentzündet leben soll. Doch ich
habe dir und ihr einen theuren Eyd geschworen, wel-
ches Gelübde ich denn ehe mit meinem Leben bezah-

len
R

und wiederholte dieſen Geſang binnen etlichen
Stunden ſo offte, biß ich alles fertig auswendig ſin-
gen und ſpielenkonte.

Hierauf nahm ich das kleine angenehme Kind
in die Arme vor mich, druͤckte es an meine Bruſt,
kuͤſſete daſſelbe viele mal, und ſagte im groͤſten Lie-
bes-Affect ohngefehr folgende laute Worte: Ach!
du allerliebſter kleiner Engel, wolte doch der Him-
mel, daß du allbereit noch ein Mandel Jahre zuruͤck
gelegt haͤtteſt, vielleicht waͤre meine hefftige Liebe
bey dir gluͤcklicher als bey deiner Mutter, aber ſo
lange Zeit zwiſchen Furcht und Hoffnung zu war-
ten, iſt eine wuͤrckliche Marter zu nennen. Ach wie
vergnuͤgt wolte ich, als ein anderer Adam, meine
gantze Lebens-Zeit in dieſem Paradieſe zubringen,
wenn nur nicht meine beſten Jugend-Jahre, ohne
eine geliebte Eva zu umarmen, verrauchen ſolten.
Gerechter Himmel, warum ſchenckeſt du mir nicht
auch die Krafft, den von Natur allen Menſchen ein-
gepflantzten Trieb zum Eheſtande gaͤntzlich zu erſti-
cken, und in dieſem Stuͤcke ſo unempfindlich als van
Leuvens
Wittbe zu ſeyn? Oder warum lenckeſt du
ihr Hertz nicht, ſich vor deinen allwiſſenden Augen
mit mir zu vereheligen, denn mein Hertze kenneſt du
ja, und weiſt, daß meine ſehnliche Liebe keine geile
Brunſt, ſondern deine heilige Ordnung zum Grun-
de hat. Ach was vor einer harten Probe unter-
wirffſt du meine Keuſchheit und Tugend, indem ich
bey einer ſolchen vollkommenen ſchoͤnen Wittfrau
Tag und Nacht unentzuͤndet leben ſoll. Doch ich
habe dir und ihr einen theuren Eyd geſchworen, wel-
ches Geluͤbde ich denn ehe mit meinem Leben bezah-

len
R
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0271" n="257"/>
und wiederholte die&#x017F;en Ge&#x017F;ang binnen etlichen<lb/>
Stunden &#x017F;o offte, biß ich alles fertig auswendig &#x017F;in-<lb/>
gen und &#x017F;pielenkonte.</p><lb/>
        <p>Hierauf nahm ich das kleine angenehme Kind<lb/>
in die Arme vor mich, dru&#x0364;ckte es an meine Bru&#x017F;t,<lb/>
ku&#x0364;&#x017F;&#x017F;ete da&#x017F;&#x017F;elbe viele mal, und &#x017F;agte im gro&#x0364;&#x017F;ten Lie-<lb/>
bes-<hi rendition="#aq">Affect</hi> ohngefehr folgende laute Worte: Ach!<lb/>
du allerlieb&#x017F;ter kleiner Engel, wolte doch der Him-<lb/>
mel, daß du allbereit noch ein Mandel Jahre zuru&#x0364;ck<lb/>
gelegt ha&#x0364;tte&#x017F;t, vielleicht wa&#x0364;re meine hefftige Liebe<lb/>
bey dir glu&#x0364;cklicher als bey deiner Mutter, aber &#x017F;o<lb/>
lange Zeit zwi&#x017F;chen Furcht und Hoffnung zu war-<lb/>
ten, i&#x017F;t eine wu&#x0364;rckliche Marter zu nennen. Ach wie<lb/>
vergnu&#x0364;gt wolte ich, als ein anderer Adam, meine<lb/>
gantze Lebens-Zeit in die&#x017F;em Paradie&#x017F;e zubringen,<lb/>
wenn nur nicht meine be&#x017F;ten Jugend-Jahre, ohne<lb/>
eine geliebte Eva zu umarmen, verrauchen &#x017F;olten.<lb/>
Gerechter Himmel, warum &#x017F;chencke&#x017F;t du mir nicht<lb/>
auch die Krafft, den von Natur allen Men&#x017F;chen ein-<lb/>
gepflantzten Trieb zum Ehe&#x017F;tande ga&#x0364;ntzlich zu er&#x017F;ti-<lb/>
cken, und in die&#x017F;em Stu&#x0364;cke &#x017F;o unempfindlich als <hi rendition="#aq">van<lb/>
Leuvens</hi> Wittbe zu &#x017F;eyn? Oder warum lencke&#x017F;t du<lb/>
ihr Hertz nicht, &#x017F;ich vor deinen allwi&#x017F;&#x017F;enden Augen<lb/>
mit mir zu vereheligen, denn mein Hertze kenne&#x017F;t du<lb/>
ja, und wei&#x017F;t, daß meine &#x017F;ehnliche Liebe keine geile<lb/>
Brun&#x017F;t, &#x017F;ondern deine heilige Ordnung zum Grun-<lb/>
de hat. Ach was vor einer harten Probe unter-<lb/>
wirff&#x017F;t du meine Keu&#x017F;chheit und Tugend, indem ich<lb/>
bey einer &#x017F;olchen vollkommenen &#x017F;cho&#x0364;nen Wittfrau<lb/>
Tag und Nacht unentzu&#x0364;ndet leben &#x017F;oll. Doch ich<lb/>
habe dir und ihr einen theuren Eyd ge&#x017F;chworen, wel-<lb/>
ches Gelu&#x0364;bde ich denn ehe mit meinem Leben bezah-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">R</fw><fw place="bottom" type="catch">len</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[257/0271] und wiederholte dieſen Geſang binnen etlichen Stunden ſo offte, biß ich alles fertig auswendig ſin- gen und ſpielenkonte. Hierauf nahm ich das kleine angenehme Kind in die Arme vor mich, druͤckte es an meine Bruſt, kuͤſſete daſſelbe viele mal, und ſagte im groͤſten Lie- bes-Affect ohngefehr folgende laute Worte: Ach! du allerliebſter kleiner Engel, wolte doch der Him- mel, daß du allbereit noch ein Mandel Jahre zuruͤck gelegt haͤtteſt, vielleicht waͤre meine hefftige Liebe bey dir gluͤcklicher als bey deiner Mutter, aber ſo lange Zeit zwiſchen Furcht und Hoffnung zu war- ten, iſt eine wuͤrckliche Marter zu nennen. Ach wie vergnuͤgt wolte ich, als ein anderer Adam, meine gantze Lebens-Zeit in dieſem Paradieſe zubringen, wenn nur nicht meine beſten Jugend-Jahre, ohne eine geliebte Eva zu umarmen, verrauchen ſolten. Gerechter Himmel, warum ſchenckeſt du mir nicht auch die Krafft, den von Natur allen Menſchen ein- gepflantzten Trieb zum Eheſtande gaͤntzlich zu erſti- cken, und in dieſem Stuͤcke ſo unempfindlich als van Leuvens Wittbe zu ſeyn? Oder warum lenckeſt du ihr Hertz nicht, ſich vor deinen allwiſſenden Augen mit mir zu vereheligen, denn mein Hertze kenneſt du ja, und weiſt, daß meine ſehnliche Liebe keine geile Brunſt, ſondern deine heilige Ordnung zum Grun- de hat. Ach was vor einer harten Probe unter- wirffſt du meine Keuſchheit und Tugend, indem ich bey einer ſolchen vollkommenen ſchoͤnen Wittfrau Tag und Nacht unentzuͤndet leben ſoll. Doch ich habe dir und ihr einen theuren Eyd geſchworen, wel- ches Geluͤbde ich denn ehe mit meinem Leben bezah- len R

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

1731 erschien die Erstausgabe. Die zweite Auflage… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schnabel_fata01_1740
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schnabel_fata01_1740/271
Zitationshilfe: Gisander [i. e. Schnabel, Johann Gottfried]: Wunderliche Fata einiger See-Fahrer. 3. Aufl. Bd. 1. Nordhausen, 1740, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schnabel_fata01_1740/271>, abgerufen am 24.11.2024.