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Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893.

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ner. Warum dann nicht lieber gleich sagen, die Höherwertung edler Charaktere
gegenüber moralischen Lumpen sei dasselbe, wie Bevorzugung blauer Hals-
binden gegenüber schwarzen oder roten. Um den Bankerott unserer Wissen-
schaft durch Hineinziehung von Idealen zu beweisen, sagte Sombart: Niemand
glaube ihr mehr, weil sie gleichmäßig Freihandel und Schutzzoll lehre. Und
Sombart gehörte doch selbst zu denen, welche die wissenschaftlichen Ursachen
aufdeckten, warum in bestimmten Ländern und zu bestimmter Zeit freier
Handel und dann wieder Schutzzoll nötig und berechtigt sei.
Solche Übertreibungen können uns aber doch nicht abhalten, auch heute noch
wie 1890 zu erklären, daß in der Forderung der Bevorzugung der Unter-
suchung des Seienden gegenüber dem Predigen von Idealen ein berechtigter
Kern, zumal für bestimmte Teile unserer Wissenschaft, liege. Nur möchte
ich heute vorsichtiger als 1890 und eingeschränkter als Weber und Sombart
mich ausdrücken. Gegenüber M. Weber betone ich zunächst, daß ich ihm
recht geben würde, wenn ich -- wie er -- der Ansicht wäre, alle Werturteile
seien absolut subjektiv; sie können es sein, aber es gibt neben der subjektiven
objektive Werturteile, an denen nicht bloß einzelne Personen und Gelehrte,
sondern große Gemeinschaften, Völker, Zeitalter, ja die ganze Kulturwelt
teilnehmen. Wer nur an Klassen-, Partei-, Interessenurteile und -Ideale
denkt, wird Weber recht geben. Wer an den zunehmenden Sieg objektiver
Urteile über die einseitigen, sittlichen und politischen Ideale in der Wis-
senschaft und im Leben glaubt, wird nicht so verächtlich, wie er, von ihrem
Hineinragen in die Wissenschaft denken.
Wir haben damit schon angedeutet, wie Verschiedenes der gewöhnliche
Sprachgebrauch mit den Worten "sittliche Werturteile", "Ideale", "Seinsol-
len" bezeichne. Wir müssen daher noch etwas weiter ausholen und fragen, wie
sittliche Werturteile im wissenschaftlichen Sinne entstehen und wie sie zu sitt-
lichen Normen werden.
Wir beginnen mit einer Bemerkung darüber, daß die sittlichen Werturteile
nur eine Art der Werturteile seien, daß die Werturteile aus den Wertgefüh-
len entstanden sind. Wertgefühle schließen sich an alle Vorgänge unseres
Seelenlebens; es sind erst Gefühle der Lust und der Unlust, dann der Billi-
gung und der Mißbilligung; sie deuten positiv und negativ das Lebensförder-
liche und das Lebensschädliche an. Sie wirken als Instinkt beim Tiere und
beim Naturmenschen; sie haben sich durch die Lebenserfahrung von Millio-
nen Jahren beim Menschen, unter Ausbildung der höheren neben den elemen-
taren Gefühlen und unter Einwirkung des denkenden beobachtenden Verstan-
des, zu Werturteilen erhoben. Die Wertgefühle wie die Werturteile können
irren; aber die Kulturentwickelung, die Arbeit aller Religionen und aller Wis-
senschaften, aller Sitte und alles Rechts hat die Wertgefühle und Werturteile
auf allen Lebensgebieten nach und nach immer mehr geläutert, zu immer
richtigeren Wegweisern des Lebens-, des Gesellschaftsförderlichen gemacht;
sie haben die Triebe und Lustgefühle in ihrem Zusammenwirken zu immer
größerer Harmonie, zu immer besserer systematischer Über- und Unter-
ordnung gebracht.
Auf allen Lebensgebieten entstanden, sind die Wertgefühle und Werturteile
die wegweisende, herrschende Macht geworden; der Mensch und die Gesellschaft
leben keine Stunde, ohne von einem Heer von Werten beeinflußt zu sein. Es
ner. Warum dann nicht lieber gleich sagen, die Höherwertung edler Charaktere
gegenüber moralischen Lumpen sei dasselbe, wie Bevorzugung blauer Hals-
binden gegenüber schwarzen oder roten. Um den Bankerott unserer Wissen-
schaft durch Hineinziehung von Idealen zu beweisen, sagte Sombart: Niemand
glaube ihr mehr, weil sie gleichmäßig Freihandel und Schutzzoll lehre. Und
Sombart gehörte doch selbst zu denen, welche die wissenschaftlichen Ursachen
aufdeckten, warum in bestimmten Ländern und zu bestimmter Zeit freier
Handel und dann wieder Schutzzoll nötig und berechtigt sei.
Solche Übertreibungen können uns aber doch nicht abhalten, auch heute noch
wie 1890 zu erklären, daß in der Forderung der Bevorzugung der Unter-
suchung des Seienden gegenüber dem Predigen von Idealen ein berechtigter
Kern, zumal für bestimmte Teile unserer Wissenschaft, liege. Nur möchte
ich heute vorsichtiger als 1890 und eingeschränkter als Weber und Sombart
mich ausdrücken. Gegenüber M. Weber betone ich zunächst, daß ich ihm
recht geben würde, wenn ich — wie er — der Ansicht wäre, alle Werturteile
seien absolut subjektiv; sie können es sein, aber es gibt neben der subjektiven
objektive Werturteile, an denen nicht bloß einzelne Personen und Gelehrte,
sondern große Gemeinschaften, Völker, Zeitalter, ja die ganze Kulturwelt
teilnehmen. Wer nur an Klassen-, Partei-, Interessenurteile und -Ideale
denkt, wird Weber recht geben. Wer an den zunehmenden Sieg objektiver
Urteile über die einseitigen, sittlichen und politischen Ideale in der Wis-
senschaft und im Leben glaubt, wird nicht so verächtlich, wie er, von ihrem
Hineinragen in die Wissenschaft denken.
Wir haben damit schon angedeutet, wie Verschiedenes der gewöhnliche
Sprachgebrauch mit den Worten „sittliche Werturteile“, „Ideale“, „Seinsol-
len“ bezeichne. Wir müssen daher noch etwas weiter ausholen und fragen, wie
sittliche Werturteile im wissenschaftlichen Sinne entstehen und wie sie zu sitt-
lichen Normen werden.
Wir beginnen mit einer Bemerkung darüber, daß die sittlichen Werturteile
nur eine Art der Werturteile seien, daß die Werturteile aus den Wertgefüh-
len entstanden sind. Wertgefühle schließen sich an alle Vorgänge unseres
Seelenlebens; es sind erst Gefühle der Lust und der Unlust, dann der Billi-
gung und der Mißbilligung; sie deuten positiv und negativ das Lebensförder-
liche und das Lebensschädliche an. Sie wirken als Instinkt beim Tiere und
beim Naturmenschen; sie haben sich durch die Lebenserfahrung von Millio-
nen Jahren beim Menschen, unter Ausbildung der höheren neben den elemen-
taren Gefühlen und unter Einwirkung des denkenden beobachtenden Verstan-
des, zu Werturteilen erhoben. Die Wertgefühle wie die Werturteile können
irren; aber die Kulturentwickelung, die Arbeit aller Religionen und aller Wis-
senschaften, aller Sitte und alles Rechts hat die Wertgefühle und Werturteile
auf allen Lebensgebieten nach und nach immer mehr geläutert, zu immer
richtigeren Wegweisern des Lebens-, des Gesellschaftsförderlichen gemacht;
sie haben die Triebe und Lustgefühle in ihrem Zusammenwirken zu immer
größerer Harmonie, zu immer besserer systematischer Über- und Unter-
ordnung gebracht.
Auf allen Lebensgebieten entstanden, sind die Wertgefühle und Werturteile
die wegweisende, herrschende Macht geworden; der Mensch und die Gesellschaft
leben keine Stunde, ohne von einem Heer von Werten beeinflußt zu sein. Es
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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_volkswirtschaftslehre_1893/82>, abgerufen am 28.04.2024.