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Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893.

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nicht aus, sie behaupteten nicht, alle Erscheinungen des wirtschaftlichen Le-
bens seien individuell und einzigartig.
4 So verschiedene Formen der Weltanschauung und der Religion im Laufe der
Geschichte entstanden sind, so hat doch im Laufe der Jahrtausende die zu-
nehmende sprachliche und geistige, politische und wirtschaftliche Vergesell-
schaftung der Menschheit immer größere Kreise einheitlicher Religionen, zu-
letzt eine kleine Zahl Weltreligionen geschaffen, von denen alle in gewissen
Punkten, mehrere in den Hauptpunkten übereinstimmen. Freilich hat da-
neben jede große Weltanschauung und jede große Religion in ihren Anhän-
gerschaften zahlreiche individuelle Spielarten, Abweichungen, Mischformen.
Aber das hebt die Tatsache nicht auf, daß die einheitliche Natur des Men-
schen und die einheitlichen psychologischen Gesetze, die diese Prozesse be-
herrschen, immer wieder zu gleichen oder ähnlichen Lösungen der Welträtsel,
zu gleichen oder ähnlichen sittlichen Grundanschauungen je viele Millionen
von Menschen hingeführt haben. Ich komme im nächsten Paragraphen näher
darauf zurück.
5 An dieser Stelle wird der im Vorwort erwähnte Abriß einer geschichtlichen
Darstellung der volkswirtschaftlichen Systeme angehängt. (vgl. 440--455).
6 Freilich muß ich jetzt mit Marshall hinzusetzen: from the "Sein", we have
to learn "das Werden". Und: je mehr der Forscher das Werden der Ver-
gangenheit und der Gegenwart begriffen hat, desto fähiger ist er auch, über
die Zukunft und das Sollen etwas zu sagen. Aber das entschuldigt nicht
leichtfertiges Prophezeien, nicht falsche Hoffnungen, nicht die Aufstellung
unsicherer Ideale.
Hatte der Kampf zwischen der klassischen Nationalökonomie und dem Sozia-
lismus so schon früher eine Sehnsucht nach einer Wissenschaft erzeugt, die
über allen Tagesidealen stehe, so mußte das Wachsen der Partei- und Klassen-
gegensätze seit den letzten Dezennien das noch mehr tun. Fast ebenso wie die
objektive Wissenschaft nahm nämlich die Literatur zu, welche partei- und
klassengefärbt nur noch einseitige Ideale predigte, einseitigen Interessen
diente. Was war natürlicher, als daß in den letzten Jahren noch mehr als
früher der Ruf erklang: Weg mit allen Idealen aus unserer ganzen Wissen-
schaft; sie hat kein Sollen zu lehren; denn dieses muß subjektiv sein und
bleiben. Alle Weltanschauung, alles ethische Urteil, alles politische Ideal
ist aus der Volkswirtschaftslehre zu verbannen. Hauptsächlich M. Weber und
Sombart wurden die Bannerträger dieser extremen Richtung in den letzten
Jahren.
M. Weber verkündigte: "es kann niemals Aufgabe einer Erfahrungswissen-
schaft sein, bindende Normen und Ideale zu ermitteln, um daraus für die Pra-
xis Rezepte ableiten zu können. Werturteile sind subjektiven Ursprungs, daher
der wissenschaftlichen Diskussion entzogen"; und noch kräftiger erklärte er
in Wien: "das Hineinmengen eines Sollens in wissenschaftliche Fragen ist
eine Sache des Teufels." Und Sombart meinte, alle Entscheidung über Welt-
anschauung, Moralsystem, sittliche Werturteile stehe auf gleicher Linie wie
die Geschmacksbevorzugung der Blondinen oder der Brünetten durch die Män-
nicht aus, sie behaupteten nicht, alle Erscheinungen des wirtschaftlichen Le-
bens seien individuell und einzigartig.
4 So verschiedene Formen der Weltanschauung und der Religion im Laufe der
Geschichte entstanden sind, so hat doch im Laufe der Jahrtausende die zu-
nehmende sprachliche und geistige, politische und wirtschaftliche Vergesell-
schaftung der Menschheit immer größere Kreise einheitlicher Religionen, zu-
letzt eine kleine Zahl Weltreligionen geschaffen, von denen alle in gewissen
Punkten, mehrere in den Hauptpunkten übereinstimmen. Freilich hat da-
neben jede große Weltanschauung und jede große Religion in ihren Anhän-
gerschaften zahlreiche individuelle Spielarten, Abweichungen, Mischformen.
Aber das hebt die Tatsache nicht auf, daß die einheitliche Natur des Men-
schen und die einheitlichen psychologischen Gesetze, die diese Prozesse be-
herrschen, immer wieder zu gleichen oder ähnlichen Lösungen der Welträtsel,
zu gleichen oder ähnlichen sittlichen Grundanschauungen je viele Millionen
von Menschen hingeführt haben. Ich komme im nächsten Paragraphen näher
darauf zurück.
5 An dieser Stelle wird der im Vorwort erwähnte Abriß einer geschichtlichen
Darstellung der volkswirtschaftlichen Systeme angehängt. (vgl. 440—455).
6 Freilich muß ich jetzt mit Marshall hinzusetzen: from the „Sein“, we have
to learn „das Werden“. Und: je mehr der Forscher das Werden der Ver-
gangenheit und der Gegenwart begriffen hat, desto fähiger ist er auch, über
die Zukunft und das Sollen etwas zu sagen. Aber das entschuldigt nicht
leichtfertiges Prophezeien, nicht falsche Hoffnungen, nicht die Aufstellung
unsicherer Ideale.
Hatte der Kampf zwischen der klassischen Nationalökonomie und dem Sozia-
lismus so schon früher eine Sehnsucht nach einer Wissenschaft erzeugt, die
über allen Tagesidealen stehe, so mußte das Wachsen der Partei- und Klassen-
gegensätze seit den letzten Dezennien das noch mehr tun. Fast ebenso wie die
objektive Wissenschaft nahm nämlich die Literatur zu, welche partei- und
klassengefärbt nur noch einseitige Ideale predigte, einseitigen Interessen
diente. Was war natürlicher, als daß in den letzten Jahren noch mehr als
früher der Ruf erklang: Weg mit allen Idealen aus unserer ganzen Wissen-
schaft; sie hat kein Sollen zu lehren; denn dieses muß subjektiv sein und
bleiben. Alle Weltanschauung, alles ethische Urteil, alles politische Ideal
ist aus der Volkswirtschaftslehre zu verbannen. Hauptsächlich M. Weber und
Sombart wurden die Bannerträger dieser extremen Richtung in den letzten
Jahren.
M. Weber verkündigte: „es kann niemals Aufgabe einer Erfahrungswissen-
schaft sein, bindende Normen und Ideale zu ermitteln, um daraus für die Pra-
xis Rezepte ableiten zu können. Werturteile sind subjektiven Ursprungs, daher
der wissenschaftlichen Diskussion entzogen“; und noch kräftiger erklärte er
in Wien: „das Hineinmengen eines Sollens in wissenschaftliche Fragen ist
eine Sache des Teufels.“ Und Sombart meinte, alle Entscheidung über Welt-
anschauung, Moralsystem, sittliche Werturteile stehe auf gleicher Linie wie
die Geschmacksbevorzugung der Blondinen oder der Brünetten durch die Män-
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[77/0081] ³ nicht aus, sie behaupteten nicht, alle Erscheinungen des wirtschaftlichen Le- bens seien individuell und einzigartig. ⁴ So verschiedene Formen der Weltanschauung und der Religion im Laufe der Geschichte entstanden sind, so hat doch im Laufe der Jahrtausende die zu- nehmende sprachliche und geistige, politische und wirtschaftliche Vergesell- schaftung der Menschheit immer größere Kreise einheitlicher Religionen, zu- letzt eine kleine Zahl Weltreligionen geschaffen, von denen alle in gewissen Punkten, mehrere in den Hauptpunkten übereinstimmen. Freilich hat da- neben jede große Weltanschauung und jede große Religion in ihren Anhän- gerschaften zahlreiche individuelle Spielarten, Abweichungen, Mischformen. Aber das hebt die Tatsache nicht auf, daß die einheitliche Natur des Men- schen und die einheitlichen psychologischen Gesetze, die diese Prozesse be- herrschen, immer wieder zu gleichen oder ähnlichen Lösungen der Welträtsel, zu gleichen oder ähnlichen sittlichen Grundanschauungen je viele Millionen von Menschen hingeführt haben. Ich komme im nächsten Paragraphen näher darauf zurück. ⁵ An dieser Stelle wird der im Vorwort erwähnte Abriß einer geschichtlichen Darstellung der volkswirtschaftlichen Systeme angehängt. (vgl. 440—455). ⁶ Freilich muß ich jetzt mit Marshall hinzusetzen: from the „Sein“, we have to learn „das Werden“. Und: je mehr der Forscher das Werden der Ver- gangenheit und der Gegenwart begriffen hat, desto fähiger ist er auch, über die Zukunft und das Sollen etwas zu sagen. Aber das entschuldigt nicht leichtfertiges Prophezeien, nicht falsche Hoffnungen, nicht die Aufstellung unsicherer Ideale. Hatte der Kampf zwischen der klassischen Nationalökonomie und dem Sozia- lismus so schon früher eine Sehnsucht nach einer Wissenschaft erzeugt, die über allen Tagesidealen stehe, so mußte das Wachsen der Partei- und Klassen- gegensätze seit den letzten Dezennien das noch mehr tun. Fast ebenso wie die objektive Wissenschaft nahm nämlich die Literatur zu, welche partei- und klassengefärbt nur noch einseitige Ideale predigte, einseitigen Interessen diente. Was war natürlicher, als daß in den letzten Jahren noch mehr als früher der Ruf erklang: Weg mit allen Idealen aus unserer ganzen Wissen- schaft; sie hat kein Sollen zu lehren; denn dieses muß subjektiv sein und bleiben. Alle Weltanschauung, alles ethische Urteil, alles politische Ideal ist aus der Volkswirtschaftslehre zu verbannen. Hauptsächlich M. Weber und Sombart wurden die Bannerträger dieser extremen Richtung in den letzten Jahren. M. Weber verkündigte: „es kann niemals Aufgabe einer Erfahrungswissen- schaft sein, bindende Normen und Ideale zu ermitteln, um daraus für die Pra- xis Rezepte ableiten zu können. Werturteile sind subjektiven Ursprungs, daher der wissenschaftlichen Diskussion entzogen“; und noch kräftiger erklärte er in Wien: „das Hineinmengen eines Sollens in wissenschaftliche Fragen ist eine Sache des Teufels.“ Und Sombart meinte, alle Entscheidung über Welt- anschauung, Moralsystem, sittliche Werturteile stehe auf gleicher Linie wie die Geschmacksbevorzugung der Blondinen oder der Brünetten durch die Män-

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_volkswirtschaftslehre_1893/81>, abgerufen am 27.11.2024.