das immer mehr oder weniger auf proletarische Zustände.
Daneben hat die Mortalität zugenommen. Die Behauptung einer Verlängerung der mittleren Lebens- dauer ist von der Wissenschaft längst in's Reich der Mährchen verwiesen. Die einzige wissenschaftliche Be- rechnung für Preußen, welche sich auf das Durchschnitts- alter der jährlich Gestorbenen bezieht, zeigt, daß dieses sukzessiv von Anfang des Jahrhunderts bis zur Gegen- wart abgenommen hat. Das Leben ist eine durch- schnittlich kürzere Erscheinung geworden. Arbeit und Genuß reiben es auf. Wechselvollere Kämpfe und Schick- sale treffen das Leben der Meisten und lassen dieses Resultat natürlich erscheinen.
Und dem gegenüber sollte es ausreichen, wenn man nur unbedingt die Fesseln abstreift, die da und dort der Eheschließung entgegenstehen? Erzählen uns die Berichte besonders aus den Gegenden der Haus- industrien, der Weber- und Fabrikdistrikte nicht, daß übermäßig junge und leichtsinnige Ehen im Alter von 20 und 21 Jahren, übermäßige Kinderzahlen nicht die erste Quelle des Elends sind, aber nachdem es vor- handen, die wichtigste Ursache der Steigerung bilden? Ich gebe zu, daß jede polizeiliche Eheerschwerung unge- recht und schablonenhaft ist, daß sie, wo in der prole- tarischen Gesinnung jedes Verantwortlichkeitsgefühl auf- gehört hat, wo der Arme, im Gefühl, schlimmer könne es nicht mehr werden, sich dem einzigen Genusse, der ihm geblieben, ohne jeden Rückhalt ergibt, leicht nur zu einer Mehrzahl von unehelichen Geburten führt. Aber
Schluß und Reſultate.
das immer mehr oder weniger auf proletariſche Zuſtände.
Daneben hat die Mortalität zugenommen. Die Behauptung einer Verlängerung der mittleren Lebens- dauer iſt von der Wiſſenſchaft längſt in’s Reich der Mährchen verwieſen. Die einzige wiſſenſchaftliche Be- rechnung für Preußen, welche ſich auf das Durchſchnitts- alter der jährlich Geſtorbenen bezieht, zeigt, daß dieſes ſukzeſſiv von Anfang des Jahrhunderts bis zur Gegen- wart abgenommen hat. Das Leben iſt eine durch- ſchnittlich kürzere Erſcheinung geworden. Arbeit und Genuß reiben es auf. Wechſelvollere Kämpfe und Schick- ſale treffen das Leben der Meiſten und laſſen dieſes Reſultat natürlich erſcheinen.
Und dem gegenüber ſollte es ausreichen, wenn man nur unbedingt die Feſſeln abſtreift, die da und dort der Eheſchließung entgegenſtehen? Erzählen uns die Berichte beſonders aus den Gegenden der Haus- induſtrien, der Weber- und Fabrikdiſtrikte nicht, daß übermäßig junge und leichtſinnige Ehen im Alter von 20 und 21 Jahren, übermäßige Kinderzahlen nicht die erſte Quelle des Elends ſind, aber nachdem es vor- handen, die wichtigſte Urſache der Steigerung bilden? Ich gebe zu, daß jede polizeiliche Eheerſchwerung unge- recht und ſchablonenhaft iſt, daß ſie, wo in der prole- tariſchen Geſinnung jedes Verantwortlichkeitsgefühl auf- gehört hat, wo der Arme, im Gefühl, ſchlimmer könne es nicht mehr werden, ſich dem einzigen Genuſſe, der ihm geblieben, ohne jeden Rückhalt ergibt, leicht nur zu einer Mehrzahl von unehelichen Geburten führt. Aber
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Schluß und Reſultate.
das immer mehr oder weniger auf proletariſche
Zuſtände.
Daneben hat die Mortalität zugenommen. Die
Behauptung einer Verlängerung der mittleren Lebens-
dauer iſt von der Wiſſenſchaft längſt in’s Reich der
Mährchen verwieſen. Die einzige wiſſenſchaftliche Be-
rechnung für Preußen, welche ſich auf das Durchſchnitts-
alter der jährlich Geſtorbenen bezieht, zeigt, daß dieſes
ſukzeſſiv von Anfang des Jahrhunderts bis zur Gegen-
wart abgenommen hat. Das Leben iſt eine durch-
ſchnittlich kürzere Erſcheinung geworden. Arbeit und
Genuß reiben es auf. Wechſelvollere Kämpfe und Schick-
ſale treffen das Leben der Meiſten und laſſen dieſes
Reſultat natürlich erſcheinen.
Und dem gegenüber ſollte es ausreichen, wenn
man nur unbedingt die Feſſeln abſtreift, die da und
dort der Eheſchließung entgegenſtehen? Erzählen uns
die Berichte beſonders aus den Gegenden der Haus-
induſtrien, der Weber- und Fabrikdiſtrikte nicht, daß
übermäßig junge und leichtſinnige Ehen im Alter von
20 und 21 Jahren, übermäßige Kinderzahlen nicht die
erſte Quelle des Elends ſind, aber nachdem es vor-
handen, die wichtigſte Urſache der Steigerung bilden?
Ich gebe zu, daß jede polizeiliche Eheerſchwerung unge-
recht und ſchablonenhaft iſt, daß ſie, wo in der prole-
tariſchen Geſinnung jedes Verantwortlichkeitsgefühl auf-
gehört hat, wo der Arme, im Gefühl, ſchlimmer könne
es nicht mehr werden, ſich dem einzigen Genuſſe, der
ihm geblieben, ohne jeden Rückhalt ergibt, leicht nur
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Schmoller, Gustav: Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert. Halle (Saale), 1870, S. 692. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_kleingewerbe_1870/714>, abgerufen am 24.11.2024.
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