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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Die Reformation und die neueren Wissenschaften.
Zum Naturrecht: Stahl, Geschichte der Rechtsphilosophie. 1830. 5. Aufl. 1878. --
Hinrichs,
Geschichte des Natur- und Völkerrechts. 1--3, 1848--52 (geht von der Reformation bis Wolf). --

Vorländer, Geschichte der philosophischen Moral, Rechts- und Staatslehre der Engländer und
Franzosen. 1855. --
Bluntschli, Geschichte des allgemeinen Staatsrechts und der Politik. 1864. --
Dilthey, Das natürliche System der Geisteswissenschaften im 17. Jahrhundert. Archiv f. Gesch. d.
Philos. 1892--93. --
v. Seydel und Rehm, Geschichte der Staatsrechtswissenschaft. 1896.

37. Die Anfänge der neueren Wissenschaft überhaupt. Aus der
Wiederbelebung der antiken Studien, wie sie ihren Ausdruck im Humanismus des 15.
und 16. Jahrhunderts fand, und aus der Reformation entsprang eine geistige Bewegung,
die mit Kopernikus, Kepler, Galilei und Newton zur Begründung der Naturwissenschaften,
mit Bacon, Descartes, Spinoza und Leibniz zu einer der antiken ebenbürtigen Philo-
sophie und im Zusammenhange mit den praktischen Bedürfnissen der neuen Staats- und
Gesellschaftsbildung in Bodinus, Hobbes, Hugo Grotius, Pufendorf, Shaftesbury, Adam
Smith erst zu einer allgemeinen Staatslehre (dem sog. Naturrecht), dann zur Nationalökonomie
führte. Alle diese wissenschaftlichen Anläufe stehen auf demselben Boden. Über die Kirchen-
lehre der Reformation hinausgehend, traut sich die menschliche Vernunft direkt die Gott-
heit, die Natur und das Menschenleben zu begreifen; die Wissenschaft sucht sich loszulösen
von Offenbarung und kirchlicher Satzung; sie traut sich im stolzen Gefühle der erreichten
Mündigkeit den Flug nach oben, auch auf die Gefahr hin, daß er teilweise ein Ikarus-
flug werde. Das Bedürfnis, über Natur und Welt, Staat und Gesellschaft gedanken-
mäßig Herr zu werden, ist so groß und so dringlich, die Staatsmänner wie die Gelehrten
jener Tage haben einen so starken positiven Zug, haben so festen Glauben an sich und
die Resultate ihrer Überlegungen, daß Kritik und Zweifel immer wieder rasch in fest
geschlossene Systeme umschlagen, welche bestimmte Ideale enthalten, an welchen mit
Leidenschaft gehangen, für welche praktisch gekämpft wird. Wenigstens für die wissen-
schaftlichen Versuche der Ethik, der Staats- und Rechtslehre, der Volkswirtschafts-
lehre gilt dies zunächst und in abgeschwächter Weise bis auf unsere Tage. Es entstehen
Theorien, die, obwohl teilweise auf Erfahrung und Beobachtung ruhend, obwohl auf
Erkennen gerichtet, doch in erster Linie praktischen Zwecken dienen. Aus den Bedürfnissen
der Gesellschaft und ihrer Neugestaltung heraus werden Ideale aufgestellt, werden Wege
gewiesen, Reformen gefordert, und dazu wird eine Lehre, eine Theorie als Stützpunkt auf-
gestellt. Und die Möglichkeiten sind so auseinandergehend, die Auffassung und Beurteilung
dessen, was not thut, ist nach philosophischem und kirchlichem Standpunkte, nach Klassen-
interesse und Parteilosung, nach Bildung und Weltanschauung so verschieden, daß in
verstärktem Maße das Schauspiel des späteren Altertums und des Mittelalters sich
wiederholt: eine Reihe entgegengesetzter Theorien entwickelt sich und erhält sich neben-
einander, wie in der Moral, so auch in der Staatslehre, der Nationalökonomie, der
Socialpolitik. Die letzten Ursachen hievon sind die von uns schon (S. 69--70) besprochenen.
Aus den Bruchstücken wirklicher Erkenntnis läßt sich zunächst nur durch Hypothesen
und teleologische Konstruktionen ein Ganzes machen. Aber ein solches ist nötig, weil
der Einheitsdrang unseres Selbstbewußtseins nur so zur Ruhe kommt, und weil nur
durch geschlossene, einheitliche Systeme der menschliche Wille praktisch geleitet werden
kann. Der nie ruhende Kampf dieser Systeme und Theorien hat eine kaum zu über-
schätzende praktische und theoretische Bedeutung; die jeweilig zur Herrschaft kommenden
Theorien übernehmen die Führung in der Politik und die Umgestaltung der Gesellschaft,
und aus der immer wiederholten gegenseitigen Kritik und Reibung entsteht der Anlaß
zum wirklichen Fortschritte im Leben und in der Erkenntnis. Die späteren Systeme
und Theorien enthalten einen steigenden Anteil gesicherten Wissens neben ihren vergäng-
lichen Bestandteilen.

Wir betrachten nacheinander das sogenannte Naturrecht, den Kreis der merkantilistischen
Schriften, die Naturlehre der Volkswirtschaft und die socialistischen Systeme als die
am meisten hervortretenden sich folgenden Richtungen des volkswirtschaftlichen Denkens,
sofern es in bestimmte Ideale und Systeme der praktischen Politik auslief, um erst

Schmoller, Grundriß der Volkswirtschaftslehre. I. 6
Die Reformation und die neueren Wiſſenſchaften.
Zum Naturrecht: Stahl, Geſchichte der Rechtsphiloſophie. 1830. 5. Aufl. 1878. —
Hinrichs,
Geſchichte des Natur- und Völkerrechts. 1—3, 1848—52 (geht von der Reformation bis Wolf). —

Vorländer, Geſchichte der philoſophiſchen Moral, Rechts- und Staatslehre der Engländer und
Franzoſen. 1855. —
Bluntſchli, Geſchichte des allgemeinen Staatsrechts und der Politik. 1864. —
Dilthey, Das natürliche Syſtem der Geiſteswiſſenſchaften im 17. Jahrhundert. Archiv f. Geſch. d.
Philoſ. 1892—93. —
v. Seydel und Rehm, Geſchichte der Staatsrechtswiſſenſchaft. 1896.

37. Die Anfänge der neueren Wiſſenſchaft überhaupt. Aus der
Wiederbelebung der antiken Studien, wie ſie ihren Ausdruck im Humanismus des 15.
und 16. Jahrhunderts fand, und aus der Reformation entſprang eine geiſtige Bewegung,
die mit Kopernikus, Kepler, Galilei und Newton zur Begründung der Naturwiſſenſchaften,
mit Bacon, Descartes, Spinoza und Leibniz zu einer der antiken ebenbürtigen Philo-
ſophie und im Zuſammenhange mit den praktiſchen Bedürfniſſen der neuen Staats- und
Geſellſchaftsbildung in Bodinus, Hobbes, Hugo Grotius, Pufendorf, Shaftesbury, Adam
Smith erſt zu einer allgemeinen Staatslehre (dem ſog. Naturrecht), dann zur Nationalökonomie
führte. Alle dieſe wiſſenſchaftlichen Anläufe ſtehen auf demſelben Boden. Über die Kirchen-
lehre der Reformation hinausgehend, traut ſich die menſchliche Vernunft direkt die Gott-
heit, die Natur und das Menſchenleben zu begreifen; die Wiſſenſchaft ſucht ſich loszulöſen
von Offenbarung und kirchlicher Satzung; ſie traut ſich im ſtolzen Gefühle der erreichten
Mündigkeit den Flug nach oben, auch auf die Gefahr hin, daß er teilweiſe ein Ikarus-
flug werde. Das Bedürfnis, über Natur und Welt, Staat und Geſellſchaft gedanken-
mäßig Herr zu werden, iſt ſo groß und ſo dringlich, die Staatsmänner wie die Gelehrten
jener Tage haben einen ſo ſtarken poſitiven Zug, haben ſo feſten Glauben an ſich und
die Reſultate ihrer Überlegungen, daß Kritik und Zweifel immer wieder raſch in feſt
geſchloſſene Syſteme umſchlagen, welche beſtimmte Ideale enthalten, an welchen mit
Leidenſchaft gehangen, für welche praktiſch gekämpft wird. Wenigſtens für die wiſſen-
ſchaftlichen Verſuche der Ethik, der Staats- und Rechtslehre, der Volkswirtſchafts-
lehre gilt dies zunächſt und in abgeſchwächter Weiſe bis auf unſere Tage. Es entſtehen
Theorien, die, obwohl teilweiſe auf Erfahrung und Beobachtung ruhend, obwohl auf
Erkennen gerichtet, doch in erſter Linie praktiſchen Zwecken dienen. Aus den Bedürfniſſen
der Geſellſchaft und ihrer Neugeſtaltung heraus werden Ideale aufgeſtellt, werden Wege
gewieſen, Reformen gefordert, und dazu wird eine Lehre, eine Theorie als Stützpunkt auf-
geſtellt. Und die Möglichkeiten ſind ſo auseinandergehend, die Auffaſſung und Beurteilung
deſſen, was not thut, iſt nach philoſophiſchem und kirchlichem Standpunkte, nach Klaſſen-
intereſſe und Parteiloſung, nach Bildung und Weltanſchauung ſo verſchieden, daß in
verſtärktem Maße das Schauſpiel des ſpäteren Altertums und des Mittelalters ſich
wiederholt: eine Reihe entgegengeſetzter Theorien entwickelt ſich und erhält ſich neben-
einander, wie in der Moral, ſo auch in der Staatslehre, der Nationalökonomie, der
Socialpolitik. Die letzten Urſachen hievon ſind die von uns ſchon (S. 69—70) beſprochenen.
Aus den Bruchſtücken wirklicher Erkenntnis läßt ſich zunächſt nur durch Hypotheſen
und teleologiſche Konſtruktionen ein Ganzes machen. Aber ein ſolches iſt nötig, weil
der Einheitsdrang unſeres Selbſtbewußtſeins nur ſo zur Ruhe kommt, und weil nur
durch geſchloſſene, einheitliche Syſteme der menſchliche Wille praktiſch geleitet werden
kann. Der nie ruhende Kampf dieſer Syſteme und Theorien hat eine kaum zu über-
ſchätzende praktiſche und theoretiſche Bedeutung; die jeweilig zur Herrſchaft kommenden
Theorien übernehmen die Führung in der Politik und die Umgeſtaltung der Geſellſchaft,
und aus der immer wiederholten gegenſeitigen Kritik und Reibung entſteht der Anlaß
zum wirklichen Fortſchritte im Leben und in der Erkenntnis. Die ſpäteren Syſteme
und Theorien enthalten einen ſteigenden Anteil geſicherten Wiſſens neben ihren vergäng-
lichen Beſtandteilen.

Wir betrachten nacheinander das ſogenannte Naturrecht, den Kreis der merkantiliſtiſchen
Schriften, die Naturlehre der Volkswirtſchaft und die ſocialiſtiſchen Syſteme als die
am meiſten hervortretenden ſich folgenden Richtungen des volkswirtſchaftlichen Denkens,
ſofern es in beſtimmte Ideale und Syſteme der praktiſchen Politik auslief, um erſt

Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 6
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[81/0097] Die Reformation und die neueren Wiſſenſchaften. Zum Naturrecht: Stahl, Geſchichte der Rechtsphiloſophie. 1830. 5. Aufl. 1878. — Hinrichs, Geſchichte des Natur- und Völkerrechts. 1—3, 1848—52 (geht von der Reformation bis Wolf). — Vorländer, Geſchichte der philoſophiſchen Moral, Rechts- und Staatslehre der Engländer und Franzoſen. 1855. — Bluntſchli, Geſchichte des allgemeinen Staatsrechts und der Politik. 1864. — Dilthey, Das natürliche Syſtem der Geiſteswiſſenſchaften im 17. Jahrhundert. Archiv f. Geſch. d. Philoſ. 1892—93. — v. Seydel und Rehm, Geſchichte der Staatsrechtswiſſenſchaft. 1896. 37. Die Anfänge der neueren Wiſſenſchaft überhaupt. Aus der Wiederbelebung der antiken Studien, wie ſie ihren Ausdruck im Humanismus des 15. und 16. Jahrhunderts fand, und aus der Reformation entſprang eine geiſtige Bewegung, die mit Kopernikus, Kepler, Galilei und Newton zur Begründung der Naturwiſſenſchaften, mit Bacon, Descartes, Spinoza und Leibniz zu einer der antiken ebenbürtigen Philo- ſophie und im Zuſammenhange mit den praktiſchen Bedürfniſſen der neuen Staats- und Geſellſchaftsbildung in Bodinus, Hobbes, Hugo Grotius, Pufendorf, Shaftesbury, Adam Smith erſt zu einer allgemeinen Staatslehre (dem ſog. Naturrecht), dann zur Nationalökonomie führte. Alle dieſe wiſſenſchaftlichen Anläufe ſtehen auf demſelben Boden. Über die Kirchen- lehre der Reformation hinausgehend, traut ſich die menſchliche Vernunft direkt die Gott- heit, die Natur und das Menſchenleben zu begreifen; die Wiſſenſchaft ſucht ſich loszulöſen von Offenbarung und kirchlicher Satzung; ſie traut ſich im ſtolzen Gefühle der erreichten Mündigkeit den Flug nach oben, auch auf die Gefahr hin, daß er teilweiſe ein Ikarus- flug werde. Das Bedürfnis, über Natur und Welt, Staat und Geſellſchaft gedanken- mäßig Herr zu werden, iſt ſo groß und ſo dringlich, die Staatsmänner wie die Gelehrten jener Tage haben einen ſo ſtarken poſitiven Zug, haben ſo feſten Glauben an ſich und die Reſultate ihrer Überlegungen, daß Kritik und Zweifel immer wieder raſch in feſt geſchloſſene Syſteme umſchlagen, welche beſtimmte Ideale enthalten, an welchen mit Leidenſchaft gehangen, für welche praktiſch gekämpft wird. Wenigſtens für die wiſſen- ſchaftlichen Verſuche der Ethik, der Staats- und Rechtslehre, der Volkswirtſchafts- lehre gilt dies zunächſt und in abgeſchwächter Weiſe bis auf unſere Tage. Es entſtehen Theorien, die, obwohl teilweiſe auf Erfahrung und Beobachtung ruhend, obwohl auf Erkennen gerichtet, doch in erſter Linie praktiſchen Zwecken dienen. Aus den Bedürfniſſen der Geſellſchaft und ihrer Neugeſtaltung heraus werden Ideale aufgeſtellt, werden Wege gewieſen, Reformen gefordert, und dazu wird eine Lehre, eine Theorie als Stützpunkt auf- geſtellt. Und die Möglichkeiten ſind ſo auseinandergehend, die Auffaſſung und Beurteilung deſſen, was not thut, iſt nach philoſophiſchem und kirchlichem Standpunkte, nach Klaſſen- intereſſe und Parteiloſung, nach Bildung und Weltanſchauung ſo verſchieden, daß in verſtärktem Maße das Schauſpiel des ſpäteren Altertums und des Mittelalters ſich wiederholt: eine Reihe entgegengeſetzter Theorien entwickelt ſich und erhält ſich neben- einander, wie in der Moral, ſo auch in der Staatslehre, der Nationalökonomie, der Socialpolitik. Die letzten Urſachen hievon ſind die von uns ſchon (S. 69—70) beſprochenen. Aus den Bruchſtücken wirklicher Erkenntnis läßt ſich zunächſt nur durch Hypotheſen und teleologiſche Konſtruktionen ein Ganzes machen. Aber ein ſolches iſt nötig, weil der Einheitsdrang unſeres Selbſtbewußtſeins nur ſo zur Ruhe kommt, und weil nur durch geſchloſſene, einheitliche Syſteme der menſchliche Wille praktiſch geleitet werden kann. Der nie ruhende Kampf dieſer Syſteme und Theorien hat eine kaum zu über- ſchätzende praktiſche und theoretiſche Bedeutung; die jeweilig zur Herrſchaft kommenden Theorien übernehmen die Führung in der Politik und die Umgeſtaltung der Geſellſchaft, und aus der immer wiederholten gegenſeitigen Kritik und Reibung entſteht der Anlaß zum wirklichen Fortſchritte im Leben und in der Erkenntnis. Die ſpäteren Syſteme und Theorien enthalten einen ſteigenden Anteil geſicherten Wiſſens neben ihren vergäng- lichen Beſtandteilen. Wir betrachten nacheinander das ſogenannte Naturrecht, den Kreis der merkantiliſtiſchen Schriften, die Naturlehre der Volkswirtſchaft und die ſocialiſtiſchen Syſteme als die am meiſten hervortretenden ſich folgenden Richtungen des volkswirtſchaftlichen Denkens, ſofern es in beſtimmte Ideale und Syſteme der praktiſchen Politik auslief, um erſt Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 6

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/97>, abgerufen am 24.11.2024.