Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.Einleitung. Begriff. Psychologische und sittliche Grundlage. Litteratur und Methode. nachher von der Methode der Volkswirtschaft und den neueren Versuchen zu reden, aufGrund tieferer Forschung ein wirklich wissenschaftliches Gebäude derselben zu errichten. Es erklärt sich aus der Natur dieser Litteratur, daß ihre Träger nur teilweise 38. Das Naturrecht. Die sogenannte natürliche Religionslehre, das Natur- Das sogenannte Naturrecht jener Tage, wie es uns ausgebildet hauptsächlich in Bodinus Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode. nachher von der Methode der Volkswirtſchaft und den neueren Verſuchen zu reden, aufGrund tieferer Forſchung ein wirklich wiſſenſchaftliches Gebäude derſelben zu errichten. Es erklärt ſich aus der Natur dieſer Litteratur, daß ihre Träger nur teilweiſe 38. Das Naturrecht. Die ſogenannte natürliche Religionslehre, das Natur- Das ſogenannte Naturrecht jener Tage, wie es uns ausgebildet hauptſächlich in Bodinus <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0098" n="82"/><fw place="top" type="header">Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.</fw><lb/> nachher von der Methode der Volkswirtſchaft und den neueren Verſuchen zu reden, auf<lb/> Grund tieferer Forſchung ein wirklich wiſſenſchaftliches Gebäude derſelben zu errichten.</p><lb/> <p>Es erklärt ſich aus der Natur dieſer Litteratur, daß ihre Träger nur teilweiſe<lb/> Gelehrte des Faches ſind; man findet unter ihnen Staatsmänner, Ärzte, Naturforſcher,<lb/> Praktiker aller Art, Tagespolitiker. Die Begründer der neuen Theorien ſind häufig<lb/> meſſiasartige Perſönlichkeiten, die nach Sektenart Gläubige um ſich ſammeln, die einen<lb/> halb myſtiſchen Glauben an beſtimmte Formeln und politiſche Rezepte haben. Es fehlen<lb/> unter ihnen nicht die marktſchreieriſchen und agitatoriſchen Elemente, ebenſowenig aber<lb/> die edelſten Idealiſten, die mehr intuitiv und mit dem Gemüte die Aufgaben der Zeit<lb/> erfaſſen als mit umfaſſender Gelehrſamkeit und nüchternem Scharfſinn die Erſcheinungen<lb/> unterſuchen. Große Kenner des Lebens ſind darunter wie Stubengelehrte, die kühne<lb/> Gebäude aus den unvollſtändigen Elementen unſeres Wiſſens zimmern. Immer aber ſind<lb/> die Führer der betreffenden Schulen Pfadfinder geweſen auf dem dornenvollen Wege<lb/> der Neugeſtaltung; ſie haben der Geſellſchaft eine praktiſche Leuchte vorangetragen, die,<lb/> wenn ſie nicht die ganze Zukunft, ſo doch partielle Wege derſelben aufhellte.</p><lb/> <p>38. <hi rendition="#g">Das Naturrecht</hi>. Die ſogenannte natürliche Religionslehre, das Natur-<lb/> recht oder die natürliche Lehre vom Recht, Staat und Geſellſchaft, ſowie die natürliche<lb/> Pädagogik ſind Früchte desſelben Baumes, ſie gehören alle derſelben großen geiſtigen<lb/> Bewegung an, die im 16. Jahrhundert entſprang, im 17. und 18. als Aufklärung<lb/> vorherrſchte. Aus dem gehäſſigen Kampfe der Konfeſſionen und Sekten, der Religions-<lb/> kriege entſprang die Sehnſucht nach einem reinen Gottesglauben, der, aus dem Weſen<lb/> des natürlichen, von Gott mit gewiſſen Gaben ausgeſtatteten Menſchen abgeleitet, alle<lb/> Völker und Raſſen, alle chriſtlichen Konfeſſionen unter Zurückdrängung der Dogmen und<lb/> der mit der natürlichen Vernunft im Widerſpruch ſtehenden Glaubenselemente einigen<lb/> könnte. Geläuterte chriſtliche Empfindungen und ſtoiſche Traditionen verbanden ſich zu<lb/> jenem univerſal-religiöſen Theismus, zu jener Lehre von der Toleranz, zu jener<lb/> natürlichen Religion, welche die edelſten Geiſter jener Zeit einte: Erasmus,<lb/> Sebaſtian Frank, Thomas Morus, Coornhert, Bodinus, Hugo Grotius, Spinoza,<lb/> Pufendorf, die Socinianer und Arminianer. Auch Zwingli und Melanchthon hatten<lb/> ſich dieſem Gedankenkreiſe ſtark genähert; letzterer mit ſeiner Theorie, daß dem<lb/> Menſchen ein natürliches Licht mitgegeben ſei, in dem die wichtigſten theoretiſchen und<lb/> praktiſchen Wahrheiten enthalten ſeien; gewiſſe <hi rendition="#aq">notitae,</hi> ſagt er, hauptſächlich die Grund-<lb/> lagen der Ethik, der Staats- und Rechtslehre ſeien dem Menſchen von Gott eingepflanzt,<lb/> ſtünden mit dem göttlichen Denken in Übereinſtimmung. Von da war es nur ein kleiner<lb/> Schritt zu der Annahme, die menſchliche Vernunft habe an ſich das Vermögen, die<lb/> religiös-moraliſchen Wahrheiten zu erkennen, wie ſie Herbert von Cherbury für die<lb/> Religion, Bacon unter Berufung auf das Naturgeſetz für die ſittlichen Ordnungen an-<lb/> nahm. In der Übereinſtimmung der Völker und in der Analyſe der menſchlichen Natur<lb/> findet Hugo Grotius die Wege, zu dieſen Wahrheiten zu kommen. Die Unterordnung der<lb/> neuen großartigen Naturerkenntnis unter oberſte logiſch-mathematiſche Principien ſteigerte<lb/> das ſtolze Bewußtſein der Autonomie des menſchlichen Intellektes, und man war raſch<lb/> bereit, in ähnlicher Weiſe oberſte Sätze als mit dem Weſen Gottes, der Vernunft und<lb/> der menſchlichen Natur, welche drei Begriffe man in ſtoiſcher Weiſe identifizierte, als<lb/> gegeben anzunehmen; ſie erſchienen nun tauglich zu einer Konſtruktion der natürlichen<lb/> Religion, des natürlichen Rechtes, der natürlichen Geſellſchaftsverfaſſung.</p><lb/> <p>Das ſogenannte Naturrecht jener Tage, wie es uns ausgebildet hauptſächlich in Bodinus<lb/><hi rendition="#aq">(De la république 1577)</hi>, Joh. Althuſius <hi rendition="#aq">(Politica 1603)</hi>, Hugo Grotius <hi rendition="#aq">(De jure belli et<lb/> pacis 1625)</hi>, Hobbes <hi rendition="#aq">(Leviathan 1651)</hi>, Pufendorf <hi rendition="#aq">(De jure naturae et gentium 1672)</hi>,<lb/> Locke <hi rendition="#aq">(Two treatises on government 1689)</hi>, Chriſtian Wolf <hi rendition="#aq">(Jus naturae 1740)</hi> entgegen-<lb/> tritt, will die geſamte ſtaatswiſſenſchaftliche, rechtliche und volkswirtſchaftliche Erkenntnis<lb/> der Zeit ſyſtematiſch darſtellen: Völkerrecht, Verfaſſungsformen, Strafrecht, Privatrecht,<lb/> Finanzen, Eigentum, Geldweſen, Verkehr, Wert, Verträge ſollen als überall wieder-<lb/> kehrende, gleichmäßige Lebnesformen dargelegt, aus der menſchlichen Natur abgeleitet werden.<lb/> Ein urſprünglicher Naturzuſtand, ein Übergang desſelben in die ſogenannte bürgerliche<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [82/0098]
Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
nachher von der Methode der Volkswirtſchaft und den neueren Verſuchen zu reden, auf
Grund tieferer Forſchung ein wirklich wiſſenſchaftliches Gebäude derſelben zu errichten.
Es erklärt ſich aus der Natur dieſer Litteratur, daß ihre Träger nur teilweiſe
Gelehrte des Faches ſind; man findet unter ihnen Staatsmänner, Ärzte, Naturforſcher,
Praktiker aller Art, Tagespolitiker. Die Begründer der neuen Theorien ſind häufig
meſſiasartige Perſönlichkeiten, die nach Sektenart Gläubige um ſich ſammeln, die einen
halb myſtiſchen Glauben an beſtimmte Formeln und politiſche Rezepte haben. Es fehlen
unter ihnen nicht die marktſchreieriſchen und agitatoriſchen Elemente, ebenſowenig aber
die edelſten Idealiſten, die mehr intuitiv und mit dem Gemüte die Aufgaben der Zeit
erfaſſen als mit umfaſſender Gelehrſamkeit und nüchternem Scharfſinn die Erſcheinungen
unterſuchen. Große Kenner des Lebens ſind darunter wie Stubengelehrte, die kühne
Gebäude aus den unvollſtändigen Elementen unſeres Wiſſens zimmern. Immer aber ſind
die Führer der betreffenden Schulen Pfadfinder geweſen auf dem dornenvollen Wege
der Neugeſtaltung; ſie haben der Geſellſchaft eine praktiſche Leuchte vorangetragen, die,
wenn ſie nicht die ganze Zukunft, ſo doch partielle Wege derſelben aufhellte.
38. Das Naturrecht. Die ſogenannte natürliche Religionslehre, das Natur-
recht oder die natürliche Lehre vom Recht, Staat und Geſellſchaft, ſowie die natürliche
Pädagogik ſind Früchte desſelben Baumes, ſie gehören alle derſelben großen geiſtigen
Bewegung an, die im 16. Jahrhundert entſprang, im 17. und 18. als Aufklärung
vorherrſchte. Aus dem gehäſſigen Kampfe der Konfeſſionen und Sekten, der Religions-
kriege entſprang die Sehnſucht nach einem reinen Gottesglauben, der, aus dem Weſen
des natürlichen, von Gott mit gewiſſen Gaben ausgeſtatteten Menſchen abgeleitet, alle
Völker und Raſſen, alle chriſtlichen Konfeſſionen unter Zurückdrängung der Dogmen und
der mit der natürlichen Vernunft im Widerſpruch ſtehenden Glaubenselemente einigen
könnte. Geläuterte chriſtliche Empfindungen und ſtoiſche Traditionen verbanden ſich zu
jenem univerſal-religiöſen Theismus, zu jener Lehre von der Toleranz, zu jener
natürlichen Religion, welche die edelſten Geiſter jener Zeit einte: Erasmus,
Sebaſtian Frank, Thomas Morus, Coornhert, Bodinus, Hugo Grotius, Spinoza,
Pufendorf, die Socinianer und Arminianer. Auch Zwingli und Melanchthon hatten
ſich dieſem Gedankenkreiſe ſtark genähert; letzterer mit ſeiner Theorie, daß dem
Menſchen ein natürliches Licht mitgegeben ſei, in dem die wichtigſten theoretiſchen und
praktiſchen Wahrheiten enthalten ſeien; gewiſſe notitae, ſagt er, hauptſächlich die Grund-
lagen der Ethik, der Staats- und Rechtslehre ſeien dem Menſchen von Gott eingepflanzt,
ſtünden mit dem göttlichen Denken in Übereinſtimmung. Von da war es nur ein kleiner
Schritt zu der Annahme, die menſchliche Vernunft habe an ſich das Vermögen, die
religiös-moraliſchen Wahrheiten zu erkennen, wie ſie Herbert von Cherbury für die
Religion, Bacon unter Berufung auf das Naturgeſetz für die ſittlichen Ordnungen an-
nahm. In der Übereinſtimmung der Völker und in der Analyſe der menſchlichen Natur
findet Hugo Grotius die Wege, zu dieſen Wahrheiten zu kommen. Die Unterordnung der
neuen großartigen Naturerkenntnis unter oberſte logiſch-mathematiſche Principien ſteigerte
das ſtolze Bewußtſein der Autonomie des menſchlichen Intellektes, und man war raſch
bereit, in ähnlicher Weiſe oberſte Sätze als mit dem Weſen Gottes, der Vernunft und
der menſchlichen Natur, welche drei Begriffe man in ſtoiſcher Weiſe identifizierte, als
gegeben anzunehmen; ſie erſchienen nun tauglich zu einer Konſtruktion der natürlichen
Religion, des natürlichen Rechtes, der natürlichen Geſellſchaftsverfaſſung.
Das ſogenannte Naturrecht jener Tage, wie es uns ausgebildet hauptſächlich in Bodinus
(De la république 1577), Joh. Althuſius (Politica 1603), Hugo Grotius (De jure belli et
pacis 1625), Hobbes (Leviathan 1651), Pufendorf (De jure naturae et gentium 1672),
Locke (Two treatises on government 1689), Chriſtian Wolf (Jus naturae 1740) entgegen-
tritt, will die geſamte ſtaatswiſſenſchaftliche, rechtliche und volkswirtſchaftliche Erkenntnis
der Zeit ſyſtematiſch darſtellen: Völkerrecht, Verfaſſungsformen, Strafrecht, Privatrecht,
Finanzen, Eigentum, Geldweſen, Verkehr, Wert, Verträge ſollen als überall wieder-
kehrende, gleichmäßige Lebnesformen dargelegt, aus der menſchlichen Natur abgeleitet werden.
Ein urſprünglicher Naturzuſtand, ein Übergang desſelben in die ſogenannte bürgerliche
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |