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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Einleitung. Begriff. Psychologische und sittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
das praktische hatte. In der neueren geistigen Entwickelung ist es die ältere psychologisch-
ethische Schule der Engländer Schaftesbury, Hutcheson, Hume, A. Smith, in Deutsch-
land sind es Herbart, Lotze, Horwicz, Wundt, Paulsen, die überwiegend hieher gerechnet
werden müssen. Diese Richtung, welche eine empirische Ethik versucht, schließt allgemein
an die Spitze des Systems gestellte Konzeptionen über einheitliche Entwickelung und Ver-
vollkommnung nicht aus, wie wir an Herbert Spencer sehen, der alles, auch das sittliche
Leben, aus der Entwickelungstheorie ableitet. Aber das Metaphysisch-Idealistische tritt
doch mehr zurück. Und am deutlichsten tritt die Richtung mit ihren Grundtendenzen
dadurch hervor, daß man neben den ethischen Systemen, welche das Ganze der mensch-
lichen Handlungen darstellen und lehren wollen, versuchte sog. Sociologien zu schreiben.

Diese neuere Gesellschaftslehre will nicht bloß, wie seiner Zeit R. Mohl, ein Gefäß
sein, um einige in Staatslehre, Statistik und Nationalökonomie nicht recht unter-
zubringende Erörterungen über die Gesellschaft aufzunehmen, nein, sie will die Gesamtheit
der gesellschaftlichen Erscheinungen, welche in der Ethik oft übersehen, oft stiefmütterlich
als sittliche Güter behandelt, jedenfalls nur vom Standpunkte eines bestimmten Moral-
systems betrachtet wurden, als ein zusammenhängendes natürlich-geistiges, kausales
System von Erscheinungen schildern, begreifen und erklären. Gewiß eine Riesenaufgabe,
an die man erst denken konnte, nachdem in einer Reihe Specialwissenschaften, wie in
der Staatslehre, Nationalökonomie, Finanz, Statistik wenigstens für gewisse Teile der
Anfang einer streng wissenschaftlichen Einzelerkenntnis begonnen. Es ist daher auch
natürlich, daß die Einzelforscher den Sociologen zurufen, laßt uns doch bei unserer
Detailarbeit. Aber ebenso notwendig hat die empirische Begründung der Ethik, wie
das Bedürfnis, für die gesellschaftlichen Specialwissenschaften eine allgemeinere Grundlage
zu gewinnen, zu jenen erwähnten Versuchen geführt, deren wichtigste wir in Aug. Comtes
Werken, in Spencers Sociologie, in Schäffles Bau und Leben des socialen Körpers vor
uns haben. Es sind gewiß unvollkommene Versuche, aber doch die wichtigsten Stützen
für eine empirische Ethik und unentbehrliche Hülfsmittel für die allgemeinen Fragen der
socialen Specialwissenschaften. Mag man dabei den Nachdruck mehr auf die Zusammen-
fassung oder auf die Specialuntersuchung der allen diesen Wissenschaften gemeinsamen
Fragen legen, man wird dieser Sociologie, die freilich nur eine Art ausgebildeter
empirischer Ethik ist, ihr Bürgerrecht in dem Reiche der Wissenschaften nicht mehr ab-
streiten können.

c) Die praktische Wirksamkeit der Moralsysteme wie der später aus ihnen ab-
geleiteten Systeme der Wirtschafts- und sonstigen Politik wurde stets in dem Maße
erhöht, als es ihnen gelang, für die dauernd oder jeweilig bevorzugten Richtungen des
Handelns und der Reform möglichst einheitliche Schlagworte und packende Gedanken,
sog. ethische Principien und Ideale an die Spitze zu stellen. Zwar ist es kaum je
gelungen, ein einziges Princip oder eine Formel so zu finden, daß mit vollständiger
logischer Folgerichtigkeit daraus alle anderen sittlichen Ideale und Forderungen ab-
geleitet werden könnten; aber es hat doch jedes System versuchen müssen, die sämtlichen
verschiedenen gepredigten Pflichten, sittlichen Forderungen und Ideale entweder in eine
gewisse Beziehung zu einem Grundgedanken zu bringen oder sie auf eine kleine Anzahl
koordinierter Principien zu reduzieren. Dabei mußten diese Principien oder der Grund-
gedanke, um an die Spitze zu treten, möglichst generell gefaßt werden; aber es ergab
sich damit die Kehrseite, daß sie verschiedener Anwendung und Deutung unterlagen;
auch konnte nie ausbleiben, daß auf die Formulierung die jeweiligen Kultur- und
Gesellschaftsverhältnisse, die geistigen Strömungen der Zeit Einfluß erhielten.

Wir haben nun hier nicht etwa den Versuch zu machen, den großen Prozeß der
Entwickelung dieser Leitideen, wie die Geschichte der Religionen, der Moralsysteme und
der ganzen menschlichen Kultur ihn uns enthüllt, zu skizzieren und die einzelnen Systeme
und ihre Ideale zu kritisieren, sondern wir haben nur kurz zu resümieren, wie die
wichtigsten neueren dieser Formeln und leitenden Ideen lauten und welche Bedeutung
sie für das volkswirtschaftliche Leben gehabt haben und noch haben.

Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
das praktiſche hatte. In der neueren geiſtigen Entwickelung iſt es die ältere pſychologiſch-
ethiſche Schule der Engländer Schaftesbury, Hutcheſon, Hume, A. Smith, in Deutſch-
land ſind es Herbart, Lotze, Horwicz, Wundt, Paulſen, die überwiegend hieher gerechnet
werden müſſen. Dieſe Richtung, welche eine empiriſche Ethik verſucht, ſchließt allgemein
an die Spitze des Syſtems geſtellte Konzeptionen über einheitliche Entwickelung und Ver-
vollkommnung nicht aus, wie wir an Herbert Spencer ſehen, der alles, auch das ſittliche
Leben, aus der Entwickelungstheorie ableitet. Aber das Metaphyſiſch-Idealiſtiſche tritt
doch mehr zurück. Und am deutlichſten tritt die Richtung mit ihren Grundtendenzen
dadurch hervor, daß man neben den ethiſchen Syſtemen, welche das Ganze der menſch-
lichen Handlungen darſtellen und lehren wollen, verſuchte ſog. Sociologien zu ſchreiben.

Dieſe neuere Geſellſchaftslehre will nicht bloß, wie ſeiner Zeit R. Mohl, ein Gefäß
ſein, um einige in Staatslehre, Statiſtik und Nationalökonomie nicht recht unter-
zubringende Erörterungen über die Geſellſchaft aufzunehmen, nein, ſie will die Geſamtheit
der geſellſchaftlichen Erſcheinungen, welche in der Ethik oft überſehen, oft ſtiefmütterlich
als ſittliche Güter behandelt, jedenfalls nur vom Standpunkte eines beſtimmten Moral-
ſyſtems betrachtet wurden, als ein zuſammenhängendes natürlich-geiſtiges, kauſales
Syſtem von Erſcheinungen ſchildern, begreifen und erklären. Gewiß eine Rieſenaufgabe,
an die man erſt denken konnte, nachdem in einer Reihe Specialwiſſenſchaften, wie in
der Staatslehre, Nationalökonomie, Finanz, Statiſtik wenigſtens für gewiſſe Teile der
Anfang einer ſtreng wiſſenſchaftlichen Einzelerkenntnis begonnen. Es iſt daher auch
natürlich, daß die Einzelforſcher den Sociologen zurufen, laßt uns doch bei unſerer
Detailarbeit. Aber ebenſo notwendig hat die empiriſche Begründung der Ethik, wie
das Bedürfnis, für die geſellſchaftlichen Specialwiſſenſchaften eine allgemeinere Grundlage
zu gewinnen, zu jenen erwähnten Verſuchen geführt, deren wichtigſte wir in Aug. Comtes
Werken, in Spencers Sociologie, in Schäffles Bau und Leben des ſocialen Körpers vor
uns haben. Es ſind gewiß unvollkommene Verſuche, aber doch die wichtigſten Stützen
für eine empiriſche Ethik und unentbehrliche Hülfsmittel für die allgemeinen Fragen der
ſocialen Specialwiſſenſchaften. Mag man dabei den Nachdruck mehr auf die Zuſammen-
faſſung oder auf die Specialunterſuchung der allen dieſen Wiſſenſchaften gemeinſamen
Fragen legen, man wird dieſer Sociologie, die freilich nur eine Art ausgebildeter
empiriſcher Ethik iſt, ihr Bürgerrecht in dem Reiche der Wiſſenſchaften nicht mehr ab-
ſtreiten können.

c) Die praktiſche Wirkſamkeit der Moralſyſteme wie der ſpäter aus ihnen ab-
geleiteten Syſteme der Wirtſchafts- und ſonſtigen Politik wurde ſtets in dem Maße
erhöht, als es ihnen gelang, für die dauernd oder jeweilig bevorzugten Richtungen des
Handelns und der Reform möglichſt einheitliche Schlagworte und packende Gedanken,
ſog. ethiſche Principien und Ideale an die Spitze zu ſtellen. Zwar iſt es kaum je
gelungen, ein einziges Princip oder eine Formel ſo zu finden, daß mit vollſtändiger
logiſcher Folgerichtigkeit daraus alle anderen ſittlichen Ideale und Forderungen ab-
geleitet werden könnten; aber es hat doch jedes Syſtem verſuchen müſſen, die ſämtlichen
verſchiedenen gepredigten Pflichten, ſittlichen Forderungen und Ideale entweder in eine
gewiſſe Beziehung zu einem Grundgedanken zu bringen oder ſie auf eine kleine Anzahl
koordinierter Principien zu reduzieren. Dabei mußten dieſe Principien oder der Grund-
gedanke, um an die Spitze zu treten, möglichſt generell gefaßt werden; aber es ergab
ſich damit die Kehrſeite, daß ſie verſchiedener Anwendung und Deutung unterlagen;
auch konnte nie ausbleiben, daß auf die Formulierung die jeweiligen Kultur- und
Geſellſchaftsverhältniſſe, die geiſtigen Strömungen der Zeit Einfluß erhielten.

Wir haben nun hier nicht etwa den Verſuch zu machen, den großen Prozeß der
Entwickelung dieſer Leitideen, wie die Geſchichte der Religionen, der Moralſyſteme und
der ganzen menſchlichen Kultur ihn uns enthüllt, zu ſkizzieren und die einzelnen Syſteme
und ihre Ideale zu kritiſieren, ſondern wir haben nur kurz zu reſümieren, wie die
wichtigſten neueren dieſer Formeln und leitenden Ideen lauten und welche Bedeutung
ſie für das volkswirtſchaftliche Leben gehabt haben und noch haben.

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[72/0088] Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode. das praktiſche hatte. In der neueren geiſtigen Entwickelung iſt es die ältere pſychologiſch- ethiſche Schule der Engländer Schaftesbury, Hutcheſon, Hume, A. Smith, in Deutſch- land ſind es Herbart, Lotze, Horwicz, Wundt, Paulſen, die überwiegend hieher gerechnet werden müſſen. Dieſe Richtung, welche eine empiriſche Ethik verſucht, ſchließt allgemein an die Spitze des Syſtems geſtellte Konzeptionen über einheitliche Entwickelung und Ver- vollkommnung nicht aus, wie wir an Herbert Spencer ſehen, der alles, auch das ſittliche Leben, aus der Entwickelungstheorie ableitet. Aber das Metaphyſiſch-Idealiſtiſche tritt doch mehr zurück. Und am deutlichſten tritt die Richtung mit ihren Grundtendenzen dadurch hervor, daß man neben den ethiſchen Syſtemen, welche das Ganze der menſch- lichen Handlungen darſtellen und lehren wollen, verſuchte ſog. Sociologien zu ſchreiben. Dieſe neuere Geſellſchaftslehre will nicht bloß, wie ſeiner Zeit R. Mohl, ein Gefäß ſein, um einige in Staatslehre, Statiſtik und Nationalökonomie nicht recht unter- zubringende Erörterungen über die Geſellſchaft aufzunehmen, nein, ſie will die Geſamtheit der geſellſchaftlichen Erſcheinungen, welche in der Ethik oft überſehen, oft ſtiefmütterlich als ſittliche Güter behandelt, jedenfalls nur vom Standpunkte eines beſtimmten Moral- ſyſtems betrachtet wurden, als ein zuſammenhängendes natürlich-geiſtiges, kauſales Syſtem von Erſcheinungen ſchildern, begreifen und erklären. Gewiß eine Rieſenaufgabe, an die man erſt denken konnte, nachdem in einer Reihe Specialwiſſenſchaften, wie in der Staatslehre, Nationalökonomie, Finanz, Statiſtik wenigſtens für gewiſſe Teile der Anfang einer ſtreng wiſſenſchaftlichen Einzelerkenntnis begonnen. Es iſt daher auch natürlich, daß die Einzelforſcher den Sociologen zurufen, laßt uns doch bei unſerer Detailarbeit. Aber ebenſo notwendig hat die empiriſche Begründung der Ethik, wie das Bedürfnis, für die geſellſchaftlichen Specialwiſſenſchaften eine allgemeinere Grundlage zu gewinnen, zu jenen erwähnten Verſuchen geführt, deren wichtigſte wir in Aug. Comtes Werken, in Spencers Sociologie, in Schäffles Bau und Leben des ſocialen Körpers vor uns haben. Es ſind gewiß unvollkommene Verſuche, aber doch die wichtigſten Stützen für eine empiriſche Ethik und unentbehrliche Hülfsmittel für die allgemeinen Fragen der ſocialen Specialwiſſenſchaften. Mag man dabei den Nachdruck mehr auf die Zuſammen- faſſung oder auf die Specialunterſuchung der allen dieſen Wiſſenſchaften gemeinſamen Fragen legen, man wird dieſer Sociologie, die freilich nur eine Art ausgebildeter empiriſcher Ethik iſt, ihr Bürgerrecht in dem Reiche der Wiſſenſchaften nicht mehr ab- ſtreiten können. c) Die praktiſche Wirkſamkeit der Moralſyſteme wie der ſpäter aus ihnen ab- geleiteten Syſteme der Wirtſchafts- und ſonſtigen Politik wurde ſtets in dem Maße erhöht, als es ihnen gelang, für die dauernd oder jeweilig bevorzugten Richtungen des Handelns und der Reform möglichſt einheitliche Schlagworte und packende Gedanken, ſog. ethiſche Principien und Ideale an die Spitze zu ſtellen. Zwar iſt es kaum je gelungen, ein einziges Princip oder eine Formel ſo zu finden, daß mit vollſtändiger logiſcher Folgerichtigkeit daraus alle anderen ſittlichen Ideale und Forderungen ab- geleitet werden könnten; aber es hat doch jedes Syſtem verſuchen müſſen, die ſämtlichen verſchiedenen gepredigten Pflichten, ſittlichen Forderungen und Ideale entweder in eine gewiſſe Beziehung zu einem Grundgedanken zu bringen oder ſie auf eine kleine Anzahl koordinierter Principien zu reduzieren. Dabei mußten dieſe Principien oder der Grund- gedanke, um an die Spitze zu treten, möglichſt generell gefaßt werden; aber es ergab ſich damit die Kehrſeite, daß ſie verſchiedener Anwendung und Deutung unterlagen; auch konnte nie ausbleiben, daß auf die Formulierung die jeweiligen Kultur- und Geſellſchaftsverhältniſſe, die geiſtigen Strömungen der Zeit Einfluß erhielten. Wir haben nun hier nicht etwa den Verſuch zu machen, den großen Prozeß der Entwickelung dieſer Leitideen, wie die Geſchichte der Religionen, der Moralſyſteme und der ganzen menſchlichen Kultur ihn uns enthüllt, zu ſkizzieren und die einzelnen Syſteme und ihre Ideale zu kritiſieren, ſondern wir haben nur kurz zu reſümieren, wie die wichtigſten neueren dieſer Formeln und leitenden Ideen lauten und welche Bedeutung ſie für das volkswirtſchaftliche Leben gehabt haben und noch haben.

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/88>, abgerufen am 25.11.2024.