des Menschengeschlechtes auf der nur durch tastende Versuche fortgebildeten Bahn besserer Organisation.
b) So sind seit dem fünften Jahrhundert vor Christi in Griechenland und dann seit dem Wiedererwachen wissenschaftlicher und philosophischer Studien gegen Ende des Mittelalters hauptsächlich zwei Gruppen von Systemen der Moral miteinander im Kampfe, die sensualistisch-materialistischen und die metaphysisch-idealistischen. Die ersteren, mehr von der nächsten Wirklichkeit ausgehend, ohne großen Überblick und tieferen Sinn für das Überirdische und Ideale, waren das Ferment der Auflösung der über- lieferten Religionen, die Totengräber der überlebten Kultur, die Erzieher der Indivi- dualität, die Begründer moderner Einrichtungen, teilweise auch die Vernichter der vor- handenen sittlichen Spannkräfte und der bestehenden Gesellschaftsinstitutionen. Ihnen stellten sich immer wieder die idealistischen Systeme gegenüber, teils versuchend, das Gute der Vergangenheit zu retten, teils Idealbilder einer besseren Zukunft vorzuführen.
Zu den ersteren gehören im Altertum die Sophisten und Epikur, in neuerer Zeit Gassendi, Hobbes, Locke, die französischen Encyklopädisten, Bentham, J. St. Mill, Benecke, Feuerbach und ihre modernsten Nachfolger; zu den letzteren Plato, die Stoa, der Neuplatonismus, Augustin, Thomas von Aquino, Hugo Grotius und die an die Stoa sich anschließenden Naturrechtslehrer, dann Leibniz, Kant, Schelling, Hegel, in gewissem Sinne auch Auguste Comte. Die ersteren Schulen wollen eine Formel für das Gute, für das richtige Handeln finden; sie stellen die Lust, das Nützliche, die Gemüts- ruhe des Individuums, neuerdings das Glück der einzelnen oder der Gesellschaft in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung. Staat, Gesellschaft und Volkswirtschaft lassen sie durch äußeres Zusammentreten der Individuen entstehen, die sie bald mehr als im Kampf, bald als von Natur in friedlichen Beziehungen begriffen sich denken. Das indivi- dualistische Naturrecht des 17. und 18. Jahrhunderts und die neuere Utilitätsethik sind ihre Höhepunkte; beide wesentlich beeinflußt von den antiken Lehren Epikurs, des flachen Verteidigers der individuellen Glückslehre einer absterbenden Kulturepoche. Die Systeme dieser Richtung haben vieles einzelne richtig beobachtet, sie haben in richtiger Weise stets das Sittliche an das Natürliche angeknüpft, sie haben darin Recht, daß das Streben nach Glück im Centrum aller ethischen Betrachtung steht. Aber im ganzen ist ihre Beobachtung des sittlichen Thatbestandes, der sittlichen Kräfte und Güter doch eine ein- seitige, das Leben nicht erschöpfende; sie überschätzen die Reflexion und die Verstandes- thätigkeit, sie stehen den großen gesellschaftlichen Erscheinungen und den großen Epochen schöpferischer Leistungen teilweise ohne das rechte innere Verständnis gegenüber.
Die idealistischen Moralsysteme gewinnen ihre Kraft durch großartige und tief- gedachte Welt- und Geschichtsbilder, durch religiös empfundene, künstlerisch abgerundete Vorstellungsreihen über Gott, die Welt und die Menschheit. Mit der Wucht idealistischer Forderungen, mit der Autorität schlechthin über das Menschliche erhabener sittlicher Gebote treten sie den Menschen entgegen, leiten die Pflichten aus angeborenen Vernunftideen oder Erinnerungen der Menschenseele an ihren göttlichen Ursprung ab. Sie stellen das Gute in schroffen Gegensatz zum Natürlichen, verschmähen häufig das Glück als Beweg- grund des Sittlichen; sie stellen Staat und Gesellschaft stets als das Ganze, als das Höhere und Gute, als einen Teil der sittlichen Weltordnung dem Individuum und dem Egoismus gegenüber. Sie haben Großes gewirkt für die Erziehung der sittlichen Kräfte, für die Heiligung eines strengen Pflichtbegriffes, für das Verständnis und die Würde der gesellschaftlichen Institutionen. Aber sie ruhten vielfach mehr auf Hypothesen und idealistischen Annahmen, übersahen das empirische Detail der psychologischen Vorgänge und gesellschaftlichen Einrichtungen. Sie hielten nicht Stand vor der fortschreitenden strengeren Wissenschaft.
Diese Wissenschaft, welche nicht sowohl ein Sollen lehren und Ideale aufstellen, als das sittliche Leben empirisch beschreiben, aus den psychologischen und gesellschaft- lichen Elementarthatsachen verstehen und ableiten will, hat sich so naturgemäß seit alter Zeit neben beiden Arten von Systemen entwickelt. Wir können Aristoteles als den großen Ethiker feiern, in dem zuerst das wissenschaftliche Interesse das Übergewicht über
Der Urſprung der Moralſyſteme, ihre Hauptarten.
des Menſchengeſchlechtes auf der nur durch taſtende Verſuche fortgebildeten Bahn beſſerer Organiſation.
b) So ſind ſeit dem fünften Jahrhundert vor Chriſti in Griechenland und dann ſeit dem Wiedererwachen wiſſenſchaftlicher und philoſophiſcher Studien gegen Ende des Mittelalters hauptſächlich zwei Gruppen von Syſtemen der Moral miteinander im Kampfe, die ſenſualiſtiſch-materialiſtiſchen und die metaphyſiſch-idealiſtiſchen. Die erſteren, mehr von der nächſten Wirklichkeit ausgehend, ohne großen Überblick und tieferen Sinn für das Überirdiſche und Ideale, waren das Ferment der Auflöſung der über- lieferten Religionen, die Totengräber der überlebten Kultur, die Erzieher der Indivi- dualität, die Begründer moderner Einrichtungen, teilweiſe auch die Vernichter der vor- handenen ſittlichen Spannkräfte und der beſtehenden Geſellſchaftsinſtitutionen. Ihnen ſtellten ſich immer wieder die idealiſtiſchen Syſteme gegenüber, teils verſuchend, das Gute der Vergangenheit zu retten, teils Idealbilder einer beſſeren Zukunft vorzuführen.
Zu den erſteren gehören im Altertum die Sophiſten und Epikur, in neuerer Zeit Gaſſendi, Hobbes, Locke, die franzöſiſchen Encyklopädiſten, Bentham, J. St. Mill, Benecke, Feuerbach und ihre modernſten Nachfolger; zu den letzteren Plato, die Stoa, der Neuplatonismus, Auguſtin, Thomas von Aquino, Hugo Grotius und die an die Stoa ſich anſchließenden Naturrechtslehrer, dann Leibniz, Kant, Schelling, Hegel, in gewiſſem Sinne auch Auguſte Comte. Die erſteren Schulen wollen eine Formel für das Gute, für das richtige Handeln finden; ſie ſtellen die Luſt, das Nützliche, die Gemüts- ruhe des Individuums, neuerdings das Glück der einzelnen oder der Geſellſchaft in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung. Staat, Geſellſchaft und Volkswirtſchaft laſſen ſie durch äußeres Zuſammentreten der Individuen entſtehen, die ſie bald mehr als im Kampf, bald als von Natur in friedlichen Beziehungen begriffen ſich denken. Das indivi- dualiſtiſche Naturrecht des 17. und 18. Jahrhunderts und die neuere Utilitätsethik ſind ihre Höhepunkte; beide weſentlich beeinflußt von den antiken Lehren Epikurs, des flachen Verteidigers der individuellen Glückslehre einer abſterbenden Kulturepoche. Die Syſteme dieſer Richtung haben vieles einzelne richtig beobachtet, ſie haben in richtiger Weiſe ſtets das Sittliche an das Natürliche angeknüpft, ſie haben darin Recht, daß das Streben nach Glück im Centrum aller ethiſchen Betrachtung ſteht. Aber im ganzen iſt ihre Beobachtung des ſittlichen Thatbeſtandes, der ſittlichen Kräfte und Güter doch eine ein- ſeitige, das Leben nicht erſchöpfende; ſie überſchätzen die Reflexion und die Verſtandes- thätigkeit, ſie ſtehen den großen geſellſchaftlichen Erſcheinungen und den großen Epochen ſchöpferiſcher Leiſtungen teilweiſe ohne das rechte innere Verſtändnis gegenüber.
Die idealiſtiſchen Moralſyſteme gewinnen ihre Kraft durch großartige und tief- gedachte Welt- und Geſchichtsbilder, durch religiös empfundene, künſtleriſch abgerundete Vorſtellungsreihen über Gott, die Welt und die Menſchheit. Mit der Wucht idealiſtiſcher Forderungen, mit der Autorität ſchlechthin über das Menſchliche erhabener ſittlicher Gebote treten ſie den Menſchen entgegen, leiten die Pflichten aus angeborenen Vernunftideen oder Erinnerungen der Menſchenſeele an ihren göttlichen Urſprung ab. Sie ſtellen das Gute in ſchroffen Gegenſatz zum Natürlichen, verſchmähen häufig das Glück als Beweg- grund des Sittlichen; ſie ſtellen Staat und Geſellſchaft ſtets als das Ganze, als das Höhere und Gute, als einen Teil der ſittlichen Weltordnung dem Individuum und dem Egoismus gegenüber. Sie haben Großes gewirkt für die Erziehung der ſittlichen Kräfte, für die Heiligung eines ſtrengen Pflichtbegriffes, für das Verſtändnis und die Würde der geſellſchaftlichen Inſtitutionen. Aber ſie ruhten vielfach mehr auf Hypotheſen und idealiſtiſchen Annahmen, überſahen das empiriſche Detail der pſychologiſchen Vorgänge und geſellſchaftlichen Einrichtungen. Sie hielten nicht Stand vor der fortſchreitenden ſtrengeren Wiſſenſchaft.
Dieſe Wiſſenſchaft, welche nicht ſowohl ein Sollen lehren und Ideale aufſtellen, als das ſittliche Leben empiriſch beſchreiben, aus den pſychologiſchen und geſellſchaft- lichen Elementarthatſachen verſtehen und ableiten will, hat ſich ſo naturgemäß ſeit alter Zeit neben beiden Arten von Syſtemen entwickelt. Wir können Ariſtoteles als den großen Ethiker feiern, in dem zuerſt das wiſſenſchaftliche Intereſſe das Übergewicht über
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[71/0087]
Der Urſprung der Moralſyſteme, ihre Hauptarten.
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Organiſation.
b) So ſind ſeit dem fünften Jahrhundert vor Chriſti in Griechenland und dann
ſeit dem Wiedererwachen wiſſenſchaftlicher und philoſophiſcher Studien gegen Ende
des Mittelalters hauptſächlich zwei Gruppen von Syſtemen der Moral miteinander
im Kampfe, die ſenſualiſtiſch-materialiſtiſchen und die metaphyſiſch-idealiſtiſchen. Die
erſteren, mehr von der nächſten Wirklichkeit ausgehend, ohne großen Überblick und tieferen
Sinn für das Überirdiſche und Ideale, waren das Ferment der Auflöſung der über-
lieferten Religionen, die Totengräber der überlebten Kultur, die Erzieher der Indivi-
dualität, die Begründer moderner Einrichtungen, teilweiſe auch die Vernichter der vor-
handenen ſittlichen Spannkräfte und der beſtehenden Geſellſchaftsinſtitutionen. Ihnen
ſtellten ſich immer wieder die idealiſtiſchen Syſteme gegenüber, teils verſuchend, das
Gute der Vergangenheit zu retten, teils Idealbilder einer beſſeren Zukunft vorzuführen.
Zu den erſteren gehören im Altertum die Sophiſten und Epikur, in neuerer Zeit
Gaſſendi, Hobbes, Locke, die franzöſiſchen Encyklopädiſten, Bentham, J. St. Mill,
Benecke, Feuerbach und ihre modernſten Nachfolger; zu den letzteren Plato, die Stoa,
der Neuplatonismus, Auguſtin, Thomas von Aquino, Hugo Grotius und die an die
Stoa ſich anſchließenden Naturrechtslehrer, dann Leibniz, Kant, Schelling, Hegel, in
gewiſſem Sinne auch Auguſte Comte. Die erſteren Schulen wollen eine Formel für das
Gute, für das richtige Handeln finden; ſie ſtellen die Luſt, das Nützliche, die Gemüts-
ruhe des Individuums, neuerdings das Glück der einzelnen oder der Geſellſchaft in den
Mittelpunkt ihrer Betrachtung. Staat, Geſellſchaft und Volkswirtſchaft laſſen ſie durch
äußeres Zuſammentreten der Individuen entſtehen, die ſie bald mehr als im Kampf,
bald als von Natur in friedlichen Beziehungen begriffen ſich denken. Das indivi-
dualiſtiſche Naturrecht des 17. und 18. Jahrhunderts und die neuere Utilitätsethik ſind
ihre Höhepunkte; beide weſentlich beeinflußt von den antiken Lehren Epikurs, des flachen
Verteidigers der individuellen Glückslehre einer abſterbenden Kulturepoche. Die Syſteme
dieſer Richtung haben vieles einzelne richtig beobachtet, ſie haben in richtiger Weiſe
ſtets das Sittliche an das Natürliche angeknüpft, ſie haben darin Recht, daß das Streben
nach Glück im Centrum aller ethiſchen Betrachtung ſteht. Aber im ganzen iſt ihre
Beobachtung des ſittlichen Thatbeſtandes, der ſittlichen Kräfte und Güter doch eine ein-
ſeitige, das Leben nicht erſchöpfende; ſie überſchätzen die Reflexion und die Verſtandes-
thätigkeit, ſie ſtehen den großen geſellſchaftlichen Erſcheinungen und den großen Epochen
ſchöpferiſcher Leiſtungen teilweiſe ohne das rechte innere Verſtändnis gegenüber.
Die idealiſtiſchen Moralſyſteme gewinnen ihre Kraft durch großartige und tief-
gedachte Welt- und Geſchichtsbilder, durch religiös empfundene, künſtleriſch abgerundete
Vorſtellungsreihen über Gott, die Welt und die Menſchheit. Mit der Wucht idealiſtiſcher
Forderungen, mit der Autorität ſchlechthin über das Menſchliche erhabener ſittlicher
Gebote treten ſie den Menſchen entgegen, leiten die Pflichten aus angeborenen Vernunftideen
oder Erinnerungen der Menſchenſeele an ihren göttlichen Urſprung ab. Sie ſtellen das
Gute in ſchroffen Gegenſatz zum Natürlichen, verſchmähen häufig das Glück als Beweg-
grund des Sittlichen; ſie ſtellen Staat und Geſellſchaft ſtets als das Ganze, als das
Höhere und Gute, als einen Teil der ſittlichen Weltordnung dem Individuum und dem
Egoismus gegenüber. Sie haben Großes gewirkt für die Erziehung der ſittlichen Kräfte,
für die Heiligung eines ſtrengen Pflichtbegriffes, für das Verſtändnis und die Würde
der geſellſchaftlichen Inſtitutionen. Aber ſie ruhten vielfach mehr auf Hypotheſen und
idealiſtiſchen Annahmen, überſahen das empiriſche Detail der pſychologiſchen Vorgänge
und geſellſchaftlichen Einrichtungen. Sie hielten nicht Stand vor der fortſchreitenden
ſtrengeren Wiſſenſchaft.
Dieſe Wiſſenſchaft, welche nicht ſowohl ein Sollen lehren und Ideale aufſtellen,
als das ſittliche Leben empiriſch beſchreiben, aus den pſychologiſchen und geſellſchaft-
lichen Elementarthatſachen verſtehen und ableiten will, hat ſich ſo naturgemäß ſeit alter
Zeit neben beiden Arten von Syſtemen entwickelt. Wir können Ariſtoteles als den
großen Ethiker feiern, in dem zuerſt das wiſſenſchaftliche Intereſſe das Übergewicht über
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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/87>, abgerufen am 16.02.2025.
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