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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Die Leitideen und Ziele der verschiedenen Moralsysteme.

Die Moralsysteme, welche den Egoismus überhaupt oder den verfeinerten Egoismus
als Grundprincip predigten, haben sich in neuerer Zeit teils zu einer individuellen Glück-
seligkeitslehre, teils zu der Theorie erhoben, daß aller sittliche Fortschritt in dem Streben
bestehe, die größte Summe von Glück oder Lust für die größte Menschenzahl her-
zustellen; diese Utilitätslehre, scheinbar von Christentum und idealistischer Moral so
weit entfernt, will in den Händen edler und feinfühliger Ethiker und Politiker im ganzen
dasselbe. Sagt doch selbst Lotze: "alle moralischen Gesetze sind Maximen der allgemeinen
Lustökonomie". Auch die idealistischen Systeme schmuggeln indirekt eine Glückslehre ein.
Die Wirksamkeit dieser realistischen Schule ist in der Gegenwart fast noch im Wachsen;
der ganze englische Radikalismus mit seinen politischen und wirtschaftlichen Idealen ist
auf diesem Boden erwachsen. Aber freilich kann dieses Ideal der Glückssteigerung je
nach der Klassifikation, nach der Einzeldarstellung und Ausführung der Lustarten sehr
verschieden sich gestalten und deshalb ebenso leicht zu irreführenden socialen Ideen, zu
einer falschen Ordnung der menschlichen Zwecke als zu einer richtigen führen. Auch
dem feinsten Theoretiker des Utilitarismus, J. St. Mill, ist es nicht gelungen zu
beweisen, daß seine Behauptung, es sei vorzuziehen, ein unbefriedigter Mensch, als ein
befriedigtes Schwein zu sein, allgemein geteilt werde und als Princip den sittlichen
Fortschritt beherrschen könne.

Die idealistischen Moralsysteme haben ihre Formeln und idealistischen Zweck-
gedanken aus der sittlichen und politischen Geschichte der Menschheit abstrahiert; ich
nenne nur: die Hingabe des Menschen an Gott und an die gesellschaftlichen Gemein-
schaften sowie die Ausbildung der Persönlichkeit (mit der Selbstbehauptung und Berufs-
ausbildung), die fortschreitende Vervollkommnung des einzelnen und der Gesellschaft, die
Ausbildung des Wohlwollens, des Mitleides, des sog. Altruismus, die Ideen der
Gerechtigkeit, der Freiheit und der Gleichheit. Es sind Ideale und Zweckideen, welche
seit Jahrtausenden ausgebildet, auch in allen höheren Religionen im Mittelpunkte der
ethischen Betrachtung stehen, ja in allen Kulturmenschen einen wesentlichen Bestandteil
ihres höheren Gefühlslebens, ihrer Pflichtbegriffe, ihres gesellschaftlichen Handelns bilden.
Ihre jeweilige Gestaltung in den leitenden Geistern, in der herrschenden Litteratur, in
den Strömungen der Zeit drückt dem praktischen Leben, vor allem auch dem volks-
wirtschaftlichen und socialen, seinen Stempel auf; und zwar deshalb mehr als die noch
so feinen Überlegungen und Vorstellungen der Lustvermehrung, weil solche Ideale mit
dem Siege der höheren Gefühle stets an sich an Kraft gewinnen und zumal in bewegten
Zeiten die Herzen der Masse ganz anders erfassen, elektrisieren können als jene.

Ihre jeweilige praktische Einzelgestaltung erhalten diese Leitideen und Zweckideale
durch die natürlichen, technischen, wirtschaftlichen und socialen Zustände des betreffenden
Volkes; ihre innerste Natur aber liegt im sittlichen Wesen des Menschen und seiner
gesellschaftlich-historischen Entwickelung überhaupt; es sind Ideale, die vor Jahrtausenden
schon in derselben Grundrichtung wirkten wie heute und wie sie in späteren Jahrtausenden
wirken werden. Es wird keine Zeit kommen, in der man nicht Billigkeit und Gerechtig-
keit, Wohlwollen und Hingabe an die socialen Gemeinschaften als Ideale anerkennen
wird. In ihrer allgemeinen Tendenz und Wirksamkeit sind diese Ideen das höchste, was
im menschlichen Geiste existiert. Sie stellen auch die höchsten Kräfte der Geschichte und
der gesellschaftlichen Entwickelung dar. Sie werden immer als die Führer auf dem
Pfade des Fortschrittes dienen. Die großen Zeiten und Männer sind es, welche im
Kampfe für sie Reformen durchgesetzt haben. Das gilt auch für alle wirtschaftlichen
und socialen Reformen.

Aber das schließt nicht aus, daß daneben in ihrem Namen oft das Thörichtste
gefordert wurde. Jedes einzelne dieser Ideale drückt eine partielle Richtung der psychisch-
sittlichen und gesellschaftlichen Entwickelung aus, ohne Maß, Grenzen, Gestaltung derselben,
Möglichkeit der Durchführung anzugeben. Jedes hat sich im praktischen Leben zu paaren
mit einem gewissermaßen entgegengesetzten Ideal: die Ausbildung des Individuums muß
sich der der Gesellschaft anpassen und unterordnen; die Selbstbehauptung muß sich mit
den Forderungen des Staates, die Freiheit mit der Ordnung des Ganzen vertragen.

Die Leitideen und Ziele der verſchiedenen Moralſyſteme.

Die Moralſyſteme, welche den Egoismus überhaupt oder den verfeinerten Egoismus
als Grundprincip predigten, haben ſich in neuerer Zeit teils zu einer individuellen Glück-
ſeligkeitslehre, teils zu der Theorie erhoben, daß aller ſittliche Fortſchritt in dem Streben
beſtehe, die größte Summe von Glück oder Luſt für die größte Menſchenzahl her-
zuſtellen; dieſe Utilitätslehre, ſcheinbar von Chriſtentum und idealiſtiſcher Moral ſo
weit entfernt, will in den Händen edler und feinfühliger Ethiker und Politiker im ganzen
dasſelbe. Sagt doch ſelbſt Lotze: „alle moraliſchen Geſetze ſind Maximen der allgemeinen
Luſtökonomie“. Auch die idealiſtiſchen Syſteme ſchmuggeln indirekt eine Glückslehre ein.
Die Wirkſamkeit dieſer realiſtiſchen Schule iſt in der Gegenwart faſt noch im Wachſen;
der ganze engliſche Radikalismus mit ſeinen politiſchen und wirtſchaftlichen Idealen iſt
auf dieſem Boden erwachſen. Aber freilich kann dieſes Ideal der Glücksſteigerung je
nach der Klaſſifikation, nach der Einzeldarſtellung und Ausführung der Luſtarten ſehr
verſchieden ſich geſtalten und deshalb ebenſo leicht zu irreführenden ſocialen Ideen, zu
einer falſchen Ordnung der menſchlichen Zwecke als zu einer richtigen führen. Auch
dem feinſten Theoretiker des Utilitarismus, J. St. Mill, iſt es nicht gelungen zu
beweiſen, daß ſeine Behauptung, es ſei vorzuziehen, ein unbefriedigter Menſch, als ein
befriedigtes Schwein zu ſein, allgemein geteilt werde und als Princip den ſittlichen
Fortſchritt beherrſchen könne.

Die idealiſtiſchen Moralſyſteme haben ihre Formeln und idealiſtiſchen Zweck-
gedanken aus der ſittlichen und politiſchen Geſchichte der Menſchheit abſtrahiert; ich
nenne nur: die Hingabe des Menſchen an Gott und an die geſellſchaftlichen Gemein-
ſchaften ſowie die Ausbildung der Perſönlichkeit (mit der Selbſtbehauptung und Berufs-
ausbildung), die fortſchreitende Vervollkommnung des einzelnen und der Geſellſchaft, die
Ausbildung des Wohlwollens, des Mitleides, des ſog. Altruismus, die Ideen der
Gerechtigkeit, der Freiheit und der Gleichheit. Es ſind Ideale und Zweckideen, welche
ſeit Jahrtauſenden ausgebildet, auch in allen höheren Religionen im Mittelpunkte der
ethiſchen Betrachtung ſtehen, ja in allen Kulturmenſchen einen weſentlichen Beſtandteil
ihres höheren Gefühlslebens, ihrer Pflichtbegriffe, ihres geſellſchaftlichen Handelns bilden.
Ihre jeweilige Geſtaltung in den leitenden Geiſtern, in der herrſchenden Litteratur, in
den Strömungen der Zeit drückt dem praktiſchen Leben, vor allem auch dem volks-
wirtſchaftlichen und ſocialen, ſeinen Stempel auf; und zwar deshalb mehr als die noch
ſo feinen Überlegungen und Vorſtellungen der Luſtvermehrung, weil ſolche Ideale mit
dem Siege der höheren Gefühle ſtets an ſich an Kraft gewinnen und zumal in bewegten
Zeiten die Herzen der Maſſe ganz anders erfaſſen, elektriſieren können als jene.

Ihre jeweilige praktiſche Einzelgeſtaltung erhalten dieſe Leitideen und Zweckideale
durch die natürlichen, techniſchen, wirtſchaftlichen und ſocialen Zuſtände des betreffenden
Volkes; ihre innerſte Natur aber liegt im ſittlichen Weſen des Menſchen und ſeiner
geſellſchaftlich-hiſtoriſchen Entwickelung überhaupt; es ſind Ideale, die vor Jahrtauſenden
ſchon in derſelben Grundrichtung wirkten wie heute und wie ſie in ſpäteren Jahrtauſenden
wirken werden. Es wird keine Zeit kommen, in der man nicht Billigkeit und Gerechtig-
keit, Wohlwollen und Hingabe an die ſocialen Gemeinſchaften als Ideale anerkennen
wird. In ihrer allgemeinen Tendenz und Wirkſamkeit ſind dieſe Ideen das höchſte, was
im menſchlichen Geiſte exiſtiert. Sie ſtellen auch die höchſten Kräfte der Geſchichte und
der geſellſchaftlichen Entwickelung dar. Sie werden immer als die Führer auf dem
Pfade des Fortſchrittes dienen. Die großen Zeiten und Männer ſind es, welche im
Kampfe für ſie Reformen durchgeſetzt haben. Das gilt auch für alle wirtſchaftlichen
und ſocialen Reformen.

Aber das ſchließt nicht aus, daß daneben in ihrem Namen oft das Thörichtſte
gefordert wurde. Jedes einzelne dieſer Ideale drückt eine partielle Richtung der pſychiſch-
ſittlichen und geſellſchaftlichen Entwickelung aus, ohne Maß, Grenzen, Geſtaltung derſelben,
Möglichkeit der Durchführung anzugeben. Jedes hat ſich im praktiſchen Leben zu paaren
mit einem gewiſſermaßen entgegengeſetzten Ideal: die Ausbildung des Individuums muß
ſich der der Geſellſchaft anpaſſen und unterordnen; die Selbſtbehauptung muß ſich mit
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[73/0089] Die Leitideen und Ziele der verſchiedenen Moralſyſteme. Die Moralſyſteme, welche den Egoismus überhaupt oder den verfeinerten Egoismus als Grundprincip predigten, haben ſich in neuerer Zeit teils zu einer individuellen Glück- ſeligkeitslehre, teils zu der Theorie erhoben, daß aller ſittliche Fortſchritt in dem Streben beſtehe, die größte Summe von Glück oder Luſt für die größte Menſchenzahl her- zuſtellen; dieſe Utilitätslehre, ſcheinbar von Chriſtentum und idealiſtiſcher Moral ſo weit entfernt, will in den Händen edler und feinfühliger Ethiker und Politiker im ganzen dasſelbe. Sagt doch ſelbſt Lotze: „alle moraliſchen Geſetze ſind Maximen der allgemeinen Luſtökonomie“. Auch die idealiſtiſchen Syſteme ſchmuggeln indirekt eine Glückslehre ein. Die Wirkſamkeit dieſer realiſtiſchen Schule iſt in der Gegenwart faſt noch im Wachſen; der ganze engliſche Radikalismus mit ſeinen politiſchen und wirtſchaftlichen Idealen iſt auf dieſem Boden erwachſen. Aber freilich kann dieſes Ideal der Glücksſteigerung je nach der Klaſſifikation, nach der Einzeldarſtellung und Ausführung der Luſtarten ſehr verſchieden ſich geſtalten und deshalb ebenſo leicht zu irreführenden ſocialen Ideen, zu einer falſchen Ordnung der menſchlichen Zwecke als zu einer richtigen führen. Auch dem feinſten Theoretiker des Utilitarismus, J. St. Mill, iſt es nicht gelungen zu beweiſen, daß ſeine Behauptung, es ſei vorzuziehen, ein unbefriedigter Menſch, als ein befriedigtes Schwein zu ſein, allgemein geteilt werde und als Princip den ſittlichen Fortſchritt beherrſchen könne. Die idealiſtiſchen Moralſyſteme haben ihre Formeln und idealiſtiſchen Zweck- gedanken aus der ſittlichen und politiſchen Geſchichte der Menſchheit abſtrahiert; ich nenne nur: die Hingabe des Menſchen an Gott und an die geſellſchaftlichen Gemein- ſchaften ſowie die Ausbildung der Perſönlichkeit (mit der Selbſtbehauptung und Berufs- ausbildung), die fortſchreitende Vervollkommnung des einzelnen und der Geſellſchaft, die Ausbildung des Wohlwollens, des Mitleides, des ſog. Altruismus, die Ideen der Gerechtigkeit, der Freiheit und der Gleichheit. Es ſind Ideale und Zweckideen, welche ſeit Jahrtauſenden ausgebildet, auch in allen höheren Religionen im Mittelpunkte der ethiſchen Betrachtung ſtehen, ja in allen Kulturmenſchen einen weſentlichen Beſtandteil ihres höheren Gefühlslebens, ihrer Pflichtbegriffe, ihres geſellſchaftlichen Handelns bilden. Ihre jeweilige Geſtaltung in den leitenden Geiſtern, in der herrſchenden Litteratur, in den Strömungen der Zeit drückt dem praktiſchen Leben, vor allem auch dem volks- wirtſchaftlichen und ſocialen, ſeinen Stempel auf; und zwar deshalb mehr als die noch ſo feinen Überlegungen und Vorſtellungen der Luſtvermehrung, weil ſolche Ideale mit dem Siege der höheren Gefühle ſtets an ſich an Kraft gewinnen und zumal in bewegten Zeiten die Herzen der Maſſe ganz anders erfaſſen, elektriſieren können als jene. Ihre jeweilige praktiſche Einzelgeſtaltung erhalten dieſe Leitideen und Zweckideale durch die natürlichen, techniſchen, wirtſchaftlichen und ſocialen Zuſtände des betreffenden Volkes; ihre innerſte Natur aber liegt im ſittlichen Weſen des Menſchen und ſeiner geſellſchaftlich-hiſtoriſchen Entwickelung überhaupt; es ſind Ideale, die vor Jahrtauſenden ſchon in derſelben Grundrichtung wirkten wie heute und wie ſie in ſpäteren Jahrtauſenden wirken werden. Es wird keine Zeit kommen, in der man nicht Billigkeit und Gerechtig- keit, Wohlwollen und Hingabe an die ſocialen Gemeinſchaften als Ideale anerkennen wird. In ihrer allgemeinen Tendenz und Wirkſamkeit ſind dieſe Ideen das höchſte, was im menſchlichen Geiſte exiſtiert. Sie ſtellen auch die höchſten Kräfte der Geſchichte und der geſellſchaftlichen Entwickelung dar. Sie werden immer als die Führer auf dem Pfade des Fortſchrittes dienen. Die großen Zeiten und Männer ſind es, welche im Kampfe für ſie Reformen durchgeſetzt haben. Das gilt auch für alle wirtſchaftlichen und ſocialen Reformen. Aber das ſchließt nicht aus, daß daneben in ihrem Namen oft das Thörichtſte gefordert wurde. Jedes einzelne dieſer Ideale drückt eine partielle Richtung der pſychiſch- ſittlichen und geſellſchaftlichen Entwickelung aus, ohne Maß, Grenzen, Geſtaltung derſelben, Möglichkeit der Durchführung anzugeben. Jedes hat ſich im praktiſchen Leben zu paaren mit einem gewiſſermaßen entgegengeſetzten Ideal: die Ausbildung des Individuums muß ſich der der Geſellſchaft anpaſſen und unterordnen; die Selbſtbehauptung muß ſich mit den Forderungen des Staates, die Freiheit mit der Ordnung des Ganzen vertragen.

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/89>, abgerufen am 22.11.2024.