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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Ältere und neuere Verfassung der Hausindustrie.

In den letzten zwei Menschenaltern hat die Konkurrenz mit der technisch und meist
auch social überlegenen Großindustrie den Verdienst in den wichtigsten westeuropäischen
Hausindustrien so herabgedrückt, daß zumal in Gegenden starker Bevölkerungszunahme
und bei Leuten, die anderem Erwerb sich nicht zuwenden konnten, die furchtbarste Ver-
längerung der Arbeitszeit, die traurigste Ausbeutung der Kinder und Frauen, die kümmer-
lichste Ernährung und das elendeste Wohnen, kurz die traurigsten proletarischen Zustände
entstanden. Wo es so steht, ist der Übergang zur Fabrikarbeit ein technischer und
socialer Fortschritt. Er hat sich in Westeuropa schon ganz in der Spinnerei, zum
großen Teil in der Weberei, teilweise auch in den Bekleidungs- und Konfektionsgewerben,
in der Uhrmacherei, der Eisenverarbeitung, der Holzindustrie vollzogen.

Die heute noch vorkommenden Formen der Hausindustrie sind, von den Klein-
produzenten abgesehen, welche ihre eigenen Hausierer sind und teilweise genossenschaft-
lichen Absatz sich heute geschaffen haben, durch technische und kaufmännische Schulung über
das durchschnittliche hausindustrielle Niveau überhaupt am leichtesten herausgehoben werden
können, folgende: 1. die städtischen geringeren Handwerke, welche übersetzt, durch frühes
Heiraten der Gesellen vermehrt, keinen eigenen Absatz mehr finden, für Magazine, Ver-
leger, größere Meister und Fabrikanten arbeiten. Die Schuhmacherei, Schneiderei und
Tischlerei, welche mehr und mehr aus allerwärts verbreiteten Lokalgewerben konzentrierte
Industrien an begünstigten Orten werden, sind die Hauptrepräsentanten dieser Form.
Wo die alten Werkstatt- und Handwerkstraditionen noch vorhalten, der Meister mit
Gesellen und Familie arbeitet, ist ihre Lage noch nicht so kümmerlich wie da, wo
die Werkstatt sich ganz auflöst, die Gesellen, irgendwo eingemietet, isoliert arbeiten,
neben ihnen die verschiedensten Arbeitskräfte sich in das Gewerbe drängen. Die Heim-
arbeiter dieser Art sind heute überwiegend bloße Lohnarbeiter, welche nur den Arbeits-
raum und einige Hülfsstoffe stellen, den Rohstoff zugeschnitten erhalten, ganz nach der
Vorschrift des Magazins arbeiten. Ihre Lage kann da eine etwas bessere werden, wo
Centralwerkstätten mit billiger Platz- eventuell Kraftvermietung als selbständige oder
städtische Unternehmungen bestehen und sie aufnehmen.

2. Die zahlreichen ländlichen Hausindustrien, welche in Gegenden dichter Be-
völkerung oder im Gebirge die freie Zeit von Kleinbauern und Tagelöhnern nebst ihren
Familien ausnützen wollen; sie ziehen teilweise auch einem billigen decentralisierten Roh-
stoff nach und liefern, hauptsächlich im Gebirge, für die kümmerlichen sonstigen Nahrungs-
quellen die unentbehrliche Ergänzung. Die Technik ist meist eine einfache und primitive,
teilweise auch eine durch Gewerbeschulen gehobene. Auf diesem Boden ist teilweise noch
die Verbindung der Acker- und Gartenarbeit mit der gewerblichen für Gesundheit und
Familienleben förderlich; die Lage kann noch leidlich sein, wenigstens wo die Zahl der
Hausindustriellen nicht übermäßig angewachsen ist, wo nicht die Mehrzahl als ganz
besitzlose Mieter der Bauern ihr Dasein fristet. Wo das der Fall ist, erzeugt diese
ländliche Hausindustrie auch schlimme proletarische Zustände.

3. Die jüngere Hauptzunahme der Hausindustrie fällt auf neu ausgebildete
Gewerbszweige, welche von der Maschinentechnik noch nicht erfaßt, von handwerks-
mäßigen Traditionen nicht berührt, die billigen Arbeitskräfte der großen Städte, besonders
die weiblichen, oft das zugewanderte Proletariat, in London die Juden, in Newyork die
Italiener ausnützen wollen. Die Konfektion, die Wäsche- und Kleider-, die Schuhindustrie
sind ihre Hauptbeispiele. Die Magazine und Exportgeschäfte beschäftigen diese Kräfte
meist durch sogenannte Zwischenmeister, welche teilweise eigene Werkstätten für 2 bis
20 Personen haben, teilweise die Arbeit den Weibern ins Haus geben. Das Elend
dieser Arbeiter hat in England zu der Bezeichnung des Schwitzsystems (sweating)
geführt. Der starke Zuzug nach den Städten, der zu geringe Verdienst der Familien-
väter, das Schicksal von Witwen, die um jeden Preis einen Verdienst suchen müssen,
hat zur Ausbildung dieser Betriebsform ebenso hingeführt wie der Vorteil für den
Unternehmer, der Fabrik und Werkstatt damit spart. Die wenigen etwas feineren
Arbeiten werden in die Zwischenmeisterwerkstatt verlegt, im übrigen wird durch die
weitgehendste Arbeitsteilung bei der Ausgabe der Arbeit eine sehr billige Produktion

Ältere und neuere Verfaſſung der Hausinduſtrie.

In den letzten zwei Menſchenaltern hat die Konkurrenz mit der techniſch und meiſt
auch ſocial überlegenen Großinduſtrie den Verdienſt in den wichtigſten weſteuropäiſchen
Hausinduſtrien ſo herabgedrückt, daß zumal in Gegenden ſtarker Bevölkerungszunahme
und bei Leuten, die anderem Erwerb ſich nicht zuwenden konnten, die furchtbarſte Ver-
längerung der Arbeitszeit, die traurigſte Ausbeutung der Kinder und Frauen, die kümmer-
lichſte Ernährung und das elendeſte Wohnen, kurz die traurigſten proletariſchen Zuſtände
entſtanden. Wo es ſo ſteht, iſt der Übergang zur Fabrikarbeit ein techniſcher und
ſocialer Fortſchritt. Er hat ſich in Weſteuropa ſchon ganz in der Spinnerei, zum
großen Teil in der Weberei, teilweiſe auch in den Bekleidungs- und Konfektionsgewerben,
in der Uhrmacherei, der Eiſenverarbeitung, der Holzinduſtrie vollzogen.

Die heute noch vorkommenden Formen der Hausinduſtrie ſind, von den Klein-
produzenten abgeſehen, welche ihre eigenen Hauſierer ſind und teilweiſe genoſſenſchaft-
lichen Abſatz ſich heute geſchaffen haben, durch techniſche und kaufmänniſche Schulung über
das durchſchnittliche hausinduſtrielle Niveau überhaupt am leichteſten herausgehoben werden
können, folgende: 1. die ſtädtiſchen geringeren Handwerke, welche überſetzt, durch frühes
Heiraten der Geſellen vermehrt, keinen eigenen Abſatz mehr finden, für Magazine, Ver-
leger, größere Meiſter und Fabrikanten arbeiten. Die Schuhmacherei, Schneiderei und
Tiſchlerei, welche mehr und mehr aus allerwärts verbreiteten Lokalgewerben konzentrierte
Induſtrien an begünſtigten Orten werden, ſind die Hauptrepräſentanten dieſer Form.
Wo die alten Werkſtatt- und Handwerkstraditionen noch vorhalten, der Meiſter mit
Geſellen und Familie arbeitet, iſt ihre Lage noch nicht ſo kümmerlich wie da, wo
die Werkſtatt ſich ganz auflöſt, die Geſellen, irgendwo eingemietet, iſoliert arbeiten,
neben ihnen die verſchiedenſten Arbeitskräfte ſich in das Gewerbe drängen. Die Heim-
arbeiter dieſer Art ſind heute überwiegend bloße Lohnarbeiter, welche nur den Arbeits-
raum und einige Hülfsſtoffe ſtellen, den Rohſtoff zugeſchnitten erhalten, ganz nach der
Vorſchrift des Magazins arbeiten. Ihre Lage kann da eine etwas beſſere werden, wo
Centralwerkſtätten mit billiger Platz- eventuell Kraftvermietung als ſelbſtändige oder
ſtädtiſche Unternehmungen beſtehen und ſie aufnehmen.

2. Die zahlreichen ländlichen Hausinduſtrien, welche in Gegenden dichter Be-
völkerung oder im Gebirge die freie Zeit von Kleinbauern und Tagelöhnern nebſt ihren
Familien ausnützen wollen; ſie ziehen teilweiſe auch einem billigen decentraliſierten Roh-
ſtoff nach und liefern, hauptſächlich im Gebirge, für die kümmerlichen ſonſtigen Nahrungs-
quellen die unentbehrliche Ergänzung. Die Technik iſt meiſt eine einfache und primitive,
teilweiſe auch eine durch Gewerbeſchulen gehobene. Auf dieſem Boden iſt teilweiſe noch
die Verbindung der Acker- und Gartenarbeit mit der gewerblichen für Geſundheit und
Familienleben förderlich; die Lage kann noch leidlich ſein, wenigſtens wo die Zahl der
Hausinduſtriellen nicht übermäßig angewachſen iſt, wo nicht die Mehrzahl als ganz
beſitzloſe Mieter der Bauern ihr Daſein friſtet. Wo das der Fall iſt, erzeugt dieſe
ländliche Hausinduſtrie auch ſchlimme proletariſche Zuſtände.

3. Die jüngere Hauptzunahme der Hausinduſtrie fällt auf neu ausgebildete
Gewerbszweige, welche von der Maſchinentechnik noch nicht erfaßt, von handwerks-
mäßigen Traditionen nicht berührt, die billigen Arbeitskräfte der großen Städte, beſonders
die weiblichen, oft das zugewanderte Proletariat, in London die Juden, in Newyork die
Italiener ausnützen wollen. Die Konfektion, die Wäſche- und Kleider-, die Schuhinduſtrie
ſind ihre Hauptbeiſpiele. Die Magazine und Exportgeſchäfte beſchäftigen dieſe Kräfte
meiſt durch ſogenannte Zwiſchenmeiſter, welche teilweiſe eigene Werkſtätten für 2 bis
20 Perſonen haben, teilweiſe die Arbeit den Weibern ins Haus geben. Das Elend
dieſer Arbeiter hat in England zu der Bezeichnung des Schwitzſyſtems (sweating)
geführt. Der ſtarke Zuzug nach den Städten, der zu geringe Verdienſt der Familien-
väter, das Schickſal von Witwen, die um jeden Preis einen Verdienſt ſuchen müſſen,
hat zur Ausbildung dieſer Betriebsform ebenſo hingeführt wie der Vorteil für den
Unternehmer, der Fabrik und Werkſtatt damit ſpart. Die wenigen etwas feineren
Arbeiten werden in die Zwiſchenmeiſterwerkſtatt verlegt, im übrigen wird durch die
weitgehendſte Arbeitsteilung bei der Ausgabe der Arbeit eine ſehr billige Produktion

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[427/0443] Ältere und neuere Verfaſſung der Hausinduſtrie. In den letzten zwei Menſchenaltern hat die Konkurrenz mit der techniſch und meiſt auch ſocial überlegenen Großinduſtrie den Verdienſt in den wichtigſten weſteuropäiſchen Hausinduſtrien ſo herabgedrückt, daß zumal in Gegenden ſtarker Bevölkerungszunahme und bei Leuten, die anderem Erwerb ſich nicht zuwenden konnten, die furchtbarſte Ver- längerung der Arbeitszeit, die traurigſte Ausbeutung der Kinder und Frauen, die kümmer- lichſte Ernährung und das elendeſte Wohnen, kurz die traurigſten proletariſchen Zuſtände entſtanden. Wo es ſo ſteht, iſt der Übergang zur Fabrikarbeit ein techniſcher und ſocialer Fortſchritt. Er hat ſich in Weſteuropa ſchon ganz in der Spinnerei, zum großen Teil in der Weberei, teilweiſe auch in den Bekleidungs- und Konfektionsgewerben, in der Uhrmacherei, der Eiſenverarbeitung, der Holzinduſtrie vollzogen. Die heute noch vorkommenden Formen der Hausinduſtrie ſind, von den Klein- produzenten abgeſehen, welche ihre eigenen Hauſierer ſind und teilweiſe genoſſenſchaft- lichen Abſatz ſich heute geſchaffen haben, durch techniſche und kaufmänniſche Schulung über das durchſchnittliche hausinduſtrielle Niveau überhaupt am leichteſten herausgehoben werden können, folgende: 1. die ſtädtiſchen geringeren Handwerke, welche überſetzt, durch frühes Heiraten der Geſellen vermehrt, keinen eigenen Abſatz mehr finden, für Magazine, Ver- leger, größere Meiſter und Fabrikanten arbeiten. Die Schuhmacherei, Schneiderei und Tiſchlerei, welche mehr und mehr aus allerwärts verbreiteten Lokalgewerben konzentrierte Induſtrien an begünſtigten Orten werden, ſind die Hauptrepräſentanten dieſer Form. Wo die alten Werkſtatt- und Handwerkstraditionen noch vorhalten, der Meiſter mit Geſellen und Familie arbeitet, iſt ihre Lage noch nicht ſo kümmerlich wie da, wo die Werkſtatt ſich ganz auflöſt, die Geſellen, irgendwo eingemietet, iſoliert arbeiten, neben ihnen die verſchiedenſten Arbeitskräfte ſich in das Gewerbe drängen. Die Heim- arbeiter dieſer Art ſind heute überwiegend bloße Lohnarbeiter, welche nur den Arbeits- raum und einige Hülfsſtoffe ſtellen, den Rohſtoff zugeſchnitten erhalten, ganz nach der Vorſchrift des Magazins arbeiten. Ihre Lage kann da eine etwas beſſere werden, wo Centralwerkſtätten mit billiger Platz- eventuell Kraftvermietung als ſelbſtändige oder ſtädtiſche Unternehmungen beſtehen und ſie aufnehmen. 2. Die zahlreichen ländlichen Hausinduſtrien, welche in Gegenden dichter Be- völkerung oder im Gebirge die freie Zeit von Kleinbauern und Tagelöhnern nebſt ihren Familien ausnützen wollen; ſie ziehen teilweiſe auch einem billigen decentraliſierten Roh- ſtoff nach und liefern, hauptſächlich im Gebirge, für die kümmerlichen ſonſtigen Nahrungs- quellen die unentbehrliche Ergänzung. Die Technik iſt meiſt eine einfache und primitive, teilweiſe auch eine durch Gewerbeſchulen gehobene. Auf dieſem Boden iſt teilweiſe noch die Verbindung der Acker- und Gartenarbeit mit der gewerblichen für Geſundheit und Familienleben förderlich; die Lage kann noch leidlich ſein, wenigſtens wo die Zahl der Hausinduſtriellen nicht übermäßig angewachſen iſt, wo nicht die Mehrzahl als ganz beſitzloſe Mieter der Bauern ihr Daſein friſtet. Wo das der Fall iſt, erzeugt dieſe ländliche Hausinduſtrie auch ſchlimme proletariſche Zuſtände. 3. Die jüngere Hauptzunahme der Hausinduſtrie fällt auf neu ausgebildete Gewerbszweige, welche von der Maſchinentechnik noch nicht erfaßt, von handwerks- mäßigen Traditionen nicht berührt, die billigen Arbeitskräfte der großen Städte, beſonders die weiblichen, oft das zugewanderte Proletariat, in London die Juden, in Newyork die Italiener ausnützen wollen. Die Konfektion, die Wäſche- und Kleider-, die Schuhinduſtrie ſind ihre Hauptbeiſpiele. Die Magazine und Exportgeſchäfte beſchäftigen dieſe Kräfte meiſt durch ſogenannte Zwiſchenmeiſter, welche teilweiſe eigene Werkſtätten für 2 bis 20 Perſonen haben, teilweiſe die Arbeit den Weibern ins Haus geben. Das Elend dieſer Arbeiter hat in England zu der Bezeichnung des Schwitzſyſtems (sweating) geführt. Der ſtarke Zuzug nach den Städten, der zu geringe Verdienſt der Familien- väter, das Schickſal von Witwen, die um jeden Preis einen Verdienſt ſuchen müſſen, hat zur Ausbildung dieſer Betriebsform ebenſo hingeführt wie der Vorteil für den Unternehmer, der Fabrik und Werkſtatt damit ſpart. Die wenigen etwas feineren Arbeiten werden in die Zwiſchenmeiſterwerkſtatt verlegt, im übrigen wird durch die weitgehendſte Arbeitsteilung bei der Ausgabe der Arbeit eine ſehr billige Produktion

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 427. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/443>, abgerufen am 22.11.2024.