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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Die Tendenzen der Concentration und der Decentralisation der Wohnweise.
Wohnen und Siedeln hindrängen. Und je nachdem die Menschen die Zwecke und die
Möglichkeit ihrer Durchführung klar erkennen oder nicht, je nachdem die natürlichen
örtlichen Vorbedingungen in ihrem Verhältnis zu den Zwecken klar oder unklar erfaßt
werden, desto mehr oder weniger werden die Familien und größeren Gruppen, die Massen
und die Obrigkeiten darauf hindrängen, das Maximum der Förderung und das Minimum
der Hinderung für ihre gesamten Zwecke durch die Art ihrer Siedlung zu erreichen.
Das Einzelne der Ergebnisse ist dabei von Klima und Wasser, von Boden- und Wärme-
verhältnissen beeinflußt und beherrscht; das Allgemeine derselben von den überlieferten
Sitten und gesellschaftlichen Institutionen, sowie von den überlieferten Resten früherer
Siedlung. Die vorgefundenen Gebäude, Wege, Grenzen, Grundeigentums- und Feld-
einteilung sparen immer so viel Arbeit, daß man sie möglichst benutzt. Und jede spätere
Änderung ist schwer; ein einzelner Zweck mag sie anzeigen, die anderen Zwecke können
aber noch gut in der alten Weise befriedigt werden oder widerstreben wenigstens durch
das Schwergewicht des Hergebrachten der Änderung.

Alle Wandlungen der Kultur, der Technik, der Lebens- und Ernährungsweise,
alle Änderung der gesellschaftlichen Institutionen rücken stets wieder andere Zwecke in
den Vordergrund und erzeugen Tendenzen zu anderer Siedlung. Es ist ein nie ganz
ruhender socialer und individueller Anpassungsprozeß, welcher die Menschen im Raume
bald mehr konzentriert, bald wieder mehr zerstreut, welcher aber doch nur in ganz großen
Perioden verschiedene Gesamtbilder der Siedlung und des Wohnens erzeugt.

Im ganzen werden wir sagen können: in den älteren Zeiten habe der Bluts- und
Geschlechtszusammenhang, das Schutzbedürfnis, dann auch Verwaltungs-, Schul-, Kultus-
rücksichten neben den wirtschaftlichen die Hauptrolle gespielt; bei höherer wirtschaftlicher
Kultur, mit ausgebildetem Verkehr, in fest und gut geordneten Staaten hätten die rein
wirtschaftlichen Motive und Zwecke eine steigende Rolle gespielt, weil die anderen Zwecke
(Schutz, Unterricht etc.) jetzt leichter bei jeder Art des Siedelns zu befriedigen gewesen seien.

Auf eine sehr lange Periode der reinen Dorfsiedlung folgte mit der beginnenden
Staatsbildung und mit Gewerbe und Handel der Gegensatz von kleinen Dörfern und
mäßigen Städten. Mit der Ausbildung größerer Staaten und verbesserter Verkehrswege
steigerte sich im späteren Altertum und in den letzten Jahrhunderten der Gegensatz zu
den vier Gliedern: Hof, Dorf, Klein- und Mittelstadt, Großstadt. Es sind vier Typen
der Wohnweise, des Gemeindelebens, welche verschiedene Arten von Menschen, von
Nachbarverhältnissen, von wirtschaftlichen Einrichtungen erzeugen. Und gerade ihre
neueste Ausbildung scheint dahin zu gehen, die Eigentümlichkeit der Typen und ihrer
einzelnen Erscheinungen nach gewissen Richtungen zu steigern, nach anderen sie zu ver-
mindern. Das städtische Leben ist heute vom ländlichen sicher viel verschiedener als vor
100 und 200 Jahren, aber die einzelnen Groß- und Mittelstädte werden zugleich immer
verschiedener und eigentümlicher, passen sich verschiedenartigen Specialzwecken arbeitsteilig
an: als Handels-, Industrie-, See-, Binnen-, Universitäts-, Residenz-, Festungs-,
Garnison-, Badestädte etc. Neben die kleinen treten große und die Fabrikdörfer; neben
die Höfe die Weiler; die Zahl der Einzelwohnhäuser steigt. Zugleich ist mit dem
wachsenden Verkehr eine Tendenz vorhanden, das platte Land gewissermaßen zu ver-
städtern, einen Teil der Städte, besonders die Familienwohnungen, ins Grüne, in Vor-
orte zu verlegen, teilweise auch Gewerbe, die bisher in der Stadt sein mußten (wegen
des Verkehrs, der Arbeiter, der Kunden, des Modeeinflusses), aufs Land zu verlegen,
wohin jetzt die früher nur in der Stadt vorhandenen Einflüsse auch reichen.

b) Jede bestehende Ordnung des Wohnens erzeugt Sitten und Gewohnheiten des
täglichen Lebens, der Familienwirtschaft, der Arbeitsteilung, der Betriebsformen, des
Verkehrs; sie erzeugt bestimmte Formen und Einrichtungen der Gemeindeverfassung
und der Staatsverwaltung. Sie ist stets ein Ergebnis ebenso sehr der öffentlichen
Gewalten wie der Individuen und Familien. Je weiter wir in der Geschichte zurück-
gehen, desto mehr scheint die Ordnung des Siedelns überwiegend in den Händen der
Stammes- und Volksorgane, der Fürsten, der Korporationen oder wenigstens der Ge-
nossenschaften gelegen zu haben. Wo Stamm und Staat, Provinz und Gemeinde schon

Schmoller, Grundriß der Volkswirtschaftslehre. I. 18

Die Tendenzen der Concentration und der Decentraliſation der Wohnweiſe.
Wohnen und Siedeln hindrängen. Und je nachdem die Menſchen die Zwecke und die
Möglichkeit ihrer Durchführung klar erkennen oder nicht, je nachdem die natürlichen
örtlichen Vorbedingungen in ihrem Verhältnis zu den Zwecken klar oder unklar erfaßt
werden, deſto mehr oder weniger werden die Familien und größeren Gruppen, die Maſſen
und die Obrigkeiten darauf hindrängen, das Maximum der Förderung und das Minimum
der Hinderung für ihre geſamten Zwecke durch die Art ihrer Siedlung zu erreichen.
Das Einzelne der Ergebniſſe iſt dabei von Klima und Waſſer, von Boden- und Wärme-
verhältniſſen beeinflußt und beherrſcht; das Allgemeine derſelben von den überlieferten
Sitten und geſellſchaftlichen Inſtitutionen, ſowie von den überlieferten Reſten früherer
Siedlung. Die vorgefundenen Gebäude, Wege, Grenzen, Grundeigentums- und Feld-
einteilung ſparen immer ſo viel Arbeit, daß man ſie möglichſt benutzt. Und jede ſpätere
Änderung iſt ſchwer; ein einzelner Zweck mag ſie anzeigen, die anderen Zwecke können
aber noch gut in der alten Weiſe befriedigt werden oder widerſtreben wenigſtens durch
das Schwergewicht des Hergebrachten der Änderung.

Alle Wandlungen der Kultur, der Technik, der Lebens- und Ernährungsweiſe,
alle Änderung der geſellſchaftlichen Inſtitutionen rücken ſtets wieder andere Zwecke in
den Vordergrund und erzeugen Tendenzen zu anderer Siedlung. Es iſt ein nie ganz
ruhender ſocialer und individueller Anpaſſungsprozeß, welcher die Menſchen im Raume
bald mehr konzentriert, bald wieder mehr zerſtreut, welcher aber doch nur in ganz großen
Perioden verſchiedene Geſamtbilder der Siedlung und des Wohnens erzeugt.

Im ganzen werden wir ſagen können: in den älteren Zeiten habe der Bluts- und
Geſchlechtszuſammenhang, das Schutzbedürfnis, dann auch Verwaltungs-, Schul-, Kultus-
rückſichten neben den wirtſchaftlichen die Hauptrolle geſpielt; bei höherer wirtſchaftlicher
Kultur, mit ausgebildetem Verkehr, in feſt und gut geordneten Staaten hätten die rein
wirtſchaftlichen Motive und Zwecke eine ſteigende Rolle geſpielt, weil die anderen Zwecke
(Schutz, Unterricht ꝛc.) jetzt leichter bei jeder Art des Siedelns zu befriedigen geweſen ſeien.

Auf eine ſehr lange Periode der reinen Dorfſiedlung folgte mit der beginnenden
Staatsbildung und mit Gewerbe und Handel der Gegenſatz von kleinen Dörfern und
mäßigen Städten. Mit der Ausbildung größerer Staaten und verbeſſerter Verkehrswege
ſteigerte ſich im ſpäteren Altertum und in den letzten Jahrhunderten der Gegenſatz zu
den vier Gliedern: Hof, Dorf, Klein- und Mittelſtadt, Großſtadt. Es ſind vier Typen
der Wohnweiſe, des Gemeindelebens, welche verſchiedene Arten von Menſchen, von
Nachbarverhältniſſen, von wirtſchaftlichen Einrichtungen erzeugen. Und gerade ihre
neueſte Ausbildung ſcheint dahin zu gehen, die Eigentümlichkeit der Typen und ihrer
einzelnen Erſcheinungen nach gewiſſen Richtungen zu ſteigern, nach anderen ſie zu ver-
mindern. Das ſtädtiſche Leben iſt heute vom ländlichen ſicher viel verſchiedener als vor
100 und 200 Jahren, aber die einzelnen Groß- und Mittelſtädte werden zugleich immer
verſchiedener und eigentümlicher, paſſen ſich verſchiedenartigen Specialzwecken arbeitsteilig
an: als Handels-, Induſtrie-, See-, Binnen-, Univerſitäts-, Reſidenz-, Feſtungs-,
Garniſon-, Badeſtädte ꝛc. Neben die kleinen treten große und die Fabrikdörfer; neben
die Höfe die Weiler; die Zahl der Einzelwohnhäuſer ſteigt. Zugleich iſt mit dem
wachſenden Verkehr eine Tendenz vorhanden, das platte Land gewiſſermaßen zu ver-
ſtädtern, einen Teil der Städte, beſonders die Familienwohnungen, ins Grüne, in Vor-
orte zu verlegen, teilweiſe auch Gewerbe, die bisher in der Stadt ſein mußten (wegen
des Verkehrs, der Arbeiter, der Kunden, des Modeeinfluſſes), aufs Land zu verlegen,
wohin jetzt die früher nur in der Stadt vorhandenen Einflüſſe auch reichen.

b) Jede beſtehende Ordnung des Wohnens erzeugt Sitten und Gewohnheiten des
täglichen Lebens, der Familienwirtſchaft, der Arbeitsteilung, der Betriebsformen, des
Verkehrs; ſie erzeugt beſtimmte Formen und Einrichtungen der Gemeindeverfaſſung
und der Staatsverwaltung. Sie iſt ſtets ein Ergebnis ebenſo ſehr der öffentlichen
Gewalten wie der Individuen und Familien. Je weiter wir in der Geſchichte zurück-
gehen, deſto mehr ſcheint die Ordnung des Siedelns überwiegend in den Händen der
Stammes- und Volksorgane, der Fürſten, der Korporationen oder wenigſtens der Ge-
noſſenſchaften gelegen zu haben. Wo Stamm und Staat, Provinz und Gemeinde ſchon

Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 18
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[273/0289] Die Tendenzen der Concentration und der Decentraliſation der Wohnweiſe. Wohnen und Siedeln hindrängen. Und je nachdem die Menſchen die Zwecke und die Möglichkeit ihrer Durchführung klar erkennen oder nicht, je nachdem die natürlichen örtlichen Vorbedingungen in ihrem Verhältnis zu den Zwecken klar oder unklar erfaßt werden, deſto mehr oder weniger werden die Familien und größeren Gruppen, die Maſſen und die Obrigkeiten darauf hindrängen, das Maximum der Förderung und das Minimum der Hinderung für ihre geſamten Zwecke durch die Art ihrer Siedlung zu erreichen. Das Einzelne der Ergebniſſe iſt dabei von Klima und Waſſer, von Boden- und Wärme- verhältniſſen beeinflußt und beherrſcht; das Allgemeine derſelben von den überlieferten Sitten und geſellſchaftlichen Inſtitutionen, ſowie von den überlieferten Reſten früherer Siedlung. Die vorgefundenen Gebäude, Wege, Grenzen, Grundeigentums- und Feld- einteilung ſparen immer ſo viel Arbeit, daß man ſie möglichſt benutzt. Und jede ſpätere Änderung iſt ſchwer; ein einzelner Zweck mag ſie anzeigen, die anderen Zwecke können aber noch gut in der alten Weiſe befriedigt werden oder widerſtreben wenigſtens durch das Schwergewicht des Hergebrachten der Änderung. Alle Wandlungen der Kultur, der Technik, der Lebens- und Ernährungsweiſe, alle Änderung der geſellſchaftlichen Inſtitutionen rücken ſtets wieder andere Zwecke in den Vordergrund und erzeugen Tendenzen zu anderer Siedlung. Es iſt ein nie ganz ruhender ſocialer und individueller Anpaſſungsprozeß, welcher die Menſchen im Raume bald mehr konzentriert, bald wieder mehr zerſtreut, welcher aber doch nur in ganz großen Perioden verſchiedene Geſamtbilder der Siedlung und des Wohnens erzeugt. Im ganzen werden wir ſagen können: in den älteren Zeiten habe der Bluts- und Geſchlechtszuſammenhang, das Schutzbedürfnis, dann auch Verwaltungs-, Schul-, Kultus- rückſichten neben den wirtſchaftlichen die Hauptrolle geſpielt; bei höherer wirtſchaftlicher Kultur, mit ausgebildetem Verkehr, in feſt und gut geordneten Staaten hätten die rein wirtſchaftlichen Motive und Zwecke eine ſteigende Rolle geſpielt, weil die anderen Zwecke (Schutz, Unterricht ꝛc.) jetzt leichter bei jeder Art des Siedelns zu befriedigen geweſen ſeien. Auf eine ſehr lange Periode der reinen Dorfſiedlung folgte mit der beginnenden Staatsbildung und mit Gewerbe und Handel der Gegenſatz von kleinen Dörfern und mäßigen Städten. Mit der Ausbildung größerer Staaten und verbeſſerter Verkehrswege ſteigerte ſich im ſpäteren Altertum und in den letzten Jahrhunderten der Gegenſatz zu den vier Gliedern: Hof, Dorf, Klein- und Mittelſtadt, Großſtadt. Es ſind vier Typen der Wohnweiſe, des Gemeindelebens, welche verſchiedene Arten von Menſchen, von Nachbarverhältniſſen, von wirtſchaftlichen Einrichtungen erzeugen. Und gerade ihre neueſte Ausbildung ſcheint dahin zu gehen, die Eigentümlichkeit der Typen und ihrer einzelnen Erſcheinungen nach gewiſſen Richtungen zu ſteigern, nach anderen ſie zu ver- mindern. Das ſtädtiſche Leben iſt heute vom ländlichen ſicher viel verſchiedener als vor 100 und 200 Jahren, aber die einzelnen Groß- und Mittelſtädte werden zugleich immer verſchiedener und eigentümlicher, paſſen ſich verſchiedenartigen Specialzwecken arbeitsteilig an: als Handels-, Induſtrie-, See-, Binnen-, Univerſitäts-, Reſidenz-, Feſtungs-, Garniſon-, Badeſtädte ꝛc. Neben die kleinen treten große und die Fabrikdörfer; neben die Höfe die Weiler; die Zahl der Einzelwohnhäuſer ſteigt. Zugleich iſt mit dem wachſenden Verkehr eine Tendenz vorhanden, das platte Land gewiſſermaßen zu ver- ſtädtern, einen Teil der Städte, beſonders die Familienwohnungen, ins Grüne, in Vor- orte zu verlegen, teilweiſe auch Gewerbe, die bisher in der Stadt ſein mußten (wegen des Verkehrs, der Arbeiter, der Kunden, des Modeeinfluſſes), aufs Land zu verlegen, wohin jetzt die früher nur in der Stadt vorhandenen Einflüſſe auch reichen. b) Jede beſtehende Ordnung des Wohnens erzeugt Sitten und Gewohnheiten des täglichen Lebens, der Familienwirtſchaft, der Arbeitsteilung, der Betriebsformen, des Verkehrs; ſie erzeugt beſtimmte Formen und Einrichtungen der Gemeindeverfaſſung und der Staatsverwaltung. Sie iſt ſtets ein Ergebnis ebenſo ſehr der öffentlichen Gewalten wie der Individuen und Familien. Je weiter wir in der Geſchichte zurück- gehen, deſto mehr ſcheint die Ordnung des Siedelns überwiegend in den Händen der Stammes- und Volksorgane, der Fürſten, der Korporationen oder wenigſtens der Ge- noſſenſchaften gelegen zu haben. Wo Stamm und Staat, Provinz und Gemeinde ſchon Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 18

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 273. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/289>, abgerufen am 22.11.2024.