Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.Zweites Buch. Die gesellschaftliche Verfassung der Volkswirtschaft. eine gewisse feste Ordnung erlangt haben, da werden die einzelnen Menschen und Fa-milien eine steigende Rolle in dem Prozesse spielen, und das hat die bedeutsame Folge, daß sie, von Erwerbs- und Spekulationsabsichten geleitet, mehr ihre Sonderinteressen und nur die nächsten Jahre im Auge, nicht immer das für die Zukunft und die Gesamtinteressen Beste anstreben. Aber es wäre bei der Kompliziertheit der heutigen Verhältnisse und dem notwendigen großen Spielraum für individuelle Bethätigung gar nicht möglich, alle Siedlung und alles Wohnwesen einheitlich von oben her zu leiten. Und doch entstehen dadurch Interessenkonflikte und falsche Bewegungen. So lange man im Anschluß an A. Smith und in naivem Optimismus annahm, Das gilt auch für alle früheren und alle heutigen Kämpfe in der sonstigen Um- Wenn in älteren und großen Kulturstaaten mit der Ausbildung eines einheitlichen Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft. eine gewiſſe feſte Ordnung erlangt haben, da werden die einzelnen Menſchen und Fa-milien eine ſteigende Rolle in dem Prozeſſe ſpielen, und das hat die bedeutſame Folge, daß ſie, von Erwerbs- und Spekulationsabſichten geleitet, mehr ihre Sonderintereſſen und nur die nächſten Jahre im Auge, nicht immer das für die Zukunft und die Geſamtintereſſen Beſte anſtreben. Aber es wäre bei der Kompliziertheit der heutigen Verhältniſſe und dem notwendigen großen Spielraum für individuelle Bethätigung gar nicht möglich, alle Siedlung und alles Wohnweſen einheitlich von oben her zu leiten. Und doch entſtehen dadurch Intereſſenkonflikte und falſche Bewegungen. So lange man im Anſchluß an A. Smith und in naivem Optimismus annahm, Das gilt auch für alle früheren und alle heutigen Kämpfe in der ſonſtigen Um- Wenn in älteren und großen Kulturſtaaten mit der Ausbildung eines einheitlichen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0290" n="274"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.</fw><lb/> eine gewiſſe feſte Ordnung erlangt haben, da werden die einzelnen Menſchen und Fa-<lb/> milien eine ſteigende Rolle in dem Prozeſſe ſpielen, und das hat die bedeutſame Folge,<lb/> daß ſie, von Erwerbs- und Spekulationsabſichten geleitet, mehr ihre Sonderintereſſen<lb/> und nur die nächſten Jahre im Auge, nicht immer das für die Zukunft und die<lb/> Geſamtintereſſen Beſte anſtreben. Aber es wäre bei der Kompliziertheit der heutigen<lb/> Verhältniſſe und dem notwendigen großen Spielraum für individuelle Bethätigung gar<lb/> nicht möglich, alle Siedlung und alles Wohnweſen einheitlich von oben her zu leiten.<lb/> Und doch entſtehen dadurch Intereſſenkonflikte und falſche Bewegungen.</p><lb/> <p>So lange man im Anſchluß an A. Smith und in naivem Optimismus annahm,<lb/> ſtets fördere der Egoismus der einzelnen das Geſamtintereſſe am beſten, und ſtets<lb/> griffen die Obrigkeiten in ihren Maßnahmen fehl, beurteilte man beſonders die hier<lb/> einſchlägigen hiſtoriſchen und praktiſchen Fragen oftmals falſch. A. Smiths Ausführungen<lb/> über das ältere Städteweſen gehören zum Schwächſten, was er geſchrieben hat; alle<lb/> Städtebildung erſcheint ihm faſt nur als Folge der mittelalterlichen Barbarei: die<lb/> Grundherren und ihre Brutalität haben den geſunden Landbau gehindert; übermäßig<lb/> viel Menſchen flüchteten ſich hinter die Stadtmauern, die viel natürlicher ihr Kapital<lb/> im Landbau angelegt hätten. Auch die oft erörterte Schulfrage, ob die Städte von<lb/> ſelbſt „natürlich“ gewachſen oder abſichtlich „künſtlich“ gegründet und geſchaffen worden<lb/> ſeien, beantwortete man mit Vorliebe früher in erſterem Sinne. Man wird nach unſerer<lb/> heutigen Kenntniß ſagen müſſen: viele Städte ſeien überwiegend „von ſelbſt“ entſtanden,<lb/> viele auch abſichtlich gegründet worden. Aber letztere gediehen auch nur, wenn die<lb/> wirtſchaftlichen Bedingungen ihres Wachstums vorhanden, die rechten Stellen, die rechte<lb/> Zeit gewählt, die rechten Mittel ergriffen waren. Und die erſteren, die von ſelbſt<lb/> erwachſenen Städte, konnten nur vorankommen, wenn ſie die rechte Ordnung fanden<lb/> oder erhielten (durch Privilegien, Übertragung eines Stadtrechtes, durch Vorhandenſein<lb/> guter Gemeindegeſetze), wenn ausgezeichnete Perſonen mit weitem Blicke, mit Patriotis-<lb/> mus und genoſſenſchaftlichem Geiſte an der Spitze ſtanden, die rechten Einrichtungen<lb/> und lokalen Statuten ſchufen. Jede Stadt iſt ein komplizierter Organismus, der nur<lb/> gedeihen kann, wenn die für die Zukunft und die Geſamtintereſſen notwendigen<lb/> Schranken und Ordnungen dem Egoismus der einzelnen die erlaubten Wege weiſen und<lb/> die Grenzen ſetzen.</p><lb/> <p>Das gilt auch für alle früheren und alle heutigen Kämpfe in der ſonſtigen Um-<lb/> bildung beſtehender Siedlungsverhältniſſe. Stets haben dabei die Obrigkeiten und die<lb/> Individuen zuſammen gewirkt, oft gemeinſam nach demſelben Ziele, oft auch nach ent-<lb/> gegengeſetzten getrachtet. Machthaber, die den Fortſchritt vertraten, haben einſtmals<lb/> verſucht, die am Alten Klebenden zu anderer Wohnweiſe zu zwingen; Geſetze und<lb/> Magiſtrate werden heute noch verſuchen, in dieſer oder jener Weiſe eine veränderte<lb/> Siedlungsart zu begünſtigen. Ob dabei die Individuen und ihre Anſchauungen, ob<lb/> die Organe der Geſamtheit die größere Berechtigung für ſich haben, das Richtige treffen,<lb/> hängt von ihrer Bildung, von der Tüchtigkeit der Spitzen des Staates und der Ge-<lb/> meinden ab. Der Zwang zu ſtädtiſcher Siedlung oder die große Privilegierung der-<lb/> ſelben war zeitweiſe früher ſo berechtigt, wie unter anderen Verhältniſſen einmal eine<lb/> Hinderung ungeſunder Maſſenanſammlung, die Förderung des zerſtreuten Wohnens, des<lb/> Ausbaues und des Höfeſyſtems ſein kann. Konventionelle Einrichtungen, wie das amerika-<lb/> niſche Landvermeſſungsſyſtem, Wegebauten, Kanalbauten und Derartiges können indirekt<lb/> einen ebenſo wirkſamen Zwang ausüben wie Niederlaſſungs- und Gemeindegeſetze.</p><lb/> <p>Wenn in älteren und großen Kulturſtaaten mit der Ausbildung eines einheitlichen<lb/> Staatsbürgertums und unbegrenzter Freizügigkeit ein Hauptteil der Weiterbildung und<lb/> Veränderung der Siedlungs-, Standorts- und Wohnungsverhältniſſe den Individuen<lb/> und ihrer wirtſchaftlichen Überlegung anheimgegeben iſt, wenn das praktiſch ſich aus-<lb/> drückt im freien Konkurrenzkampfe der Grundſtücksverkäufer und -Vermieter mit denen,<lb/> welche der Plätze, Wohnungen und Grundſtücke bedürfen, ſo iſt das eine Form der<lb/> Raumverteilung an die Familien und Unternehmungen, welche mit ihrer Beweglichkeit<lb/> und Flüſſigkeit, mit dem ſtarken Reize der möglichen Gewinne raſch veraltete Zuſtände<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [274/0290]
Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
eine gewiſſe feſte Ordnung erlangt haben, da werden die einzelnen Menſchen und Fa-
milien eine ſteigende Rolle in dem Prozeſſe ſpielen, und das hat die bedeutſame Folge,
daß ſie, von Erwerbs- und Spekulationsabſichten geleitet, mehr ihre Sonderintereſſen
und nur die nächſten Jahre im Auge, nicht immer das für die Zukunft und die
Geſamtintereſſen Beſte anſtreben. Aber es wäre bei der Kompliziertheit der heutigen
Verhältniſſe und dem notwendigen großen Spielraum für individuelle Bethätigung gar
nicht möglich, alle Siedlung und alles Wohnweſen einheitlich von oben her zu leiten.
Und doch entſtehen dadurch Intereſſenkonflikte und falſche Bewegungen.
So lange man im Anſchluß an A. Smith und in naivem Optimismus annahm,
ſtets fördere der Egoismus der einzelnen das Geſamtintereſſe am beſten, und ſtets
griffen die Obrigkeiten in ihren Maßnahmen fehl, beurteilte man beſonders die hier
einſchlägigen hiſtoriſchen und praktiſchen Fragen oftmals falſch. A. Smiths Ausführungen
über das ältere Städteweſen gehören zum Schwächſten, was er geſchrieben hat; alle
Städtebildung erſcheint ihm faſt nur als Folge der mittelalterlichen Barbarei: die
Grundherren und ihre Brutalität haben den geſunden Landbau gehindert; übermäßig
viel Menſchen flüchteten ſich hinter die Stadtmauern, die viel natürlicher ihr Kapital
im Landbau angelegt hätten. Auch die oft erörterte Schulfrage, ob die Städte von
ſelbſt „natürlich“ gewachſen oder abſichtlich „künſtlich“ gegründet und geſchaffen worden
ſeien, beantwortete man mit Vorliebe früher in erſterem Sinne. Man wird nach unſerer
heutigen Kenntniß ſagen müſſen: viele Städte ſeien überwiegend „von ſelbſt“ entſtanden,
viele auch abſichtlich gegründet worden. Aber letztere gediehen auch nur, wenn die
wirtſchaftlichen Bedingungen ihres Wachstums vorhanden, die rechten Stellen, die rechte
Zeit gewählt, die rechten Mittel ergriffen waren. Und die erſteren, die von ſelbſt
erwachſenen Städte, konnten nur vorankommen, wenn ſie die rechte Ordnung fanden
oder erhielten (durch Privilegien, Übertragung eines Stadtrechtes, durch Vorhandenſein
guter Gemeindegeſetze), wenn ausgezeichnete Perſonen mit weitem Blicke, mit Patriotis-
mus und genoſſenſchaftlichem Geiſte an der Spitze ſtanden, die rechten Einrichtungen
und lokalen Statuten ſchufen. Jede Stadt iſt ein komplizierter Organismus, der nur
gedeihen kann, wenn die für die Zukunft und die Geſamtintereſſen notwendigen
Schranken und Ordnungen dem Egoismus der einzelnen die erlaubten Wege weiſen und
die Grenzen ſetzen.
Das gilt auch für alle früheren und alle heutigen Kämpfe in der ſonſtigen Um-
bildung beſtehender Siedlungsverhältniſſe. Stets haben dabei die Obrigkeiten und die
Individuen zuſammen gewirkt, oft gemeinſam nach demſelben Ziele, oft auch nach ent-
gegengeſetzten getrachtet. Machthaber, die den Fortſchritt vertraten, haben einſtmals
verſucht, die am Alten Klebenden zu anderer Wohnweiſe zu zwingen; Geſetze und
Magiſtrate werden heute noch verſuchen, in dieſer oder jener Weiſe eine veränderte
Siedlungsart zu begünſtigen. Ob dabei die Individuen und ihre Anſchauungen, ob
die Organe der Geſamtheit die größere Berechtigung für ſich haben, das Richtige treffen,
hängt von ihrer Bildung, von der Tüchtigkeit der Spitzen des Staates und der Ge-
meinden ab. Der Zwang zu ſtädtiſcher Siedlung oder die große Privilegierung der-
ſelben war zeitweiſe früher ſo berechtigt, wie unter anderen Verhältniſſen einmal eine
Hinderung ungeſunder Maſſenanſammlung, die Förderung des zerſtreuten Wohnens, des
Ausbaues und des Höfeſyſtems ſein kann. Konventionelle Einrichtungen, wie das amerika-
niſche Landvermeſſungsſyſtem, Wegebauten, Kanalbauten und Derartiges können indirekt
einen ebenſo wirkſamen Zwang ausüben wie Niederlaſſungs- und Gemeindegeſetze.
Wenn in älteren und großen Kulturſtaaten mit der Ausbildung eines einheitlichen
Staatsbürgertums und unbegrenzter Freizügigkeit ein Hauptteil der Weiterbildung und
Veränderung der Siedlungs-, Standorts- und Wohnungsverhältniſſe den Individuen
und ihrer wirtſchaftlichen Überlegung anheimgegeben iſt, wenn das praktiſch ſich aus-
drückt im freien Konkurrenzkampfe der Grundſtücksverkäufer und -Vermieter mit denen,
welche der Plätze, Wohnungen und Grundſtücke bedürfen, ſo iſt das eine Form der
Raumverteilung an die Familien und Unternehmungen, welche mit ihrer Beweglichkeit
und Flüſſigkeit, mit dem ſtarken Reize der möglichen Gewinne raſch veraltete Zuſtände
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