Einleitung. Begriff. Psychologische und sittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
49. Die historische und sonstige realistische Forschung hat neben und mit der Statistik unserer Wissenschaft im 19. Jahrhundert einen ganz neuen Boden gegeben. In Deutschland hatte die Philologie und Altertumswissenschaft in F. A. Wolf, F. G. Welcker, A. Böckh und K. O. Müller, die Geschichte in B. G. Niebuhr und L. Ranke, die geschichtliche Rechtswissenschaft und die Verfassungsgeschichte in Eichhorn, Savigny, Waitz, Dahlmann, Mommsen, Gneist ihr goldenes Zeitalter erlebt. Nicht bloß Methode, Kritik und Quellenkunde wurden damit für alle Geisteswissenschaften andere, sondern auch der allgemeine Sinn für kausale Zusammenhänge; wer durch diese Schule gegangen war, konnte mit den kahlen und dürren rationalistischen Erwägungen und Schluß- folgerungen des alten Naturrechts nicht mehr auskommen. Und Werke wie Böckhs Staats- haushalt der Athener (1817; 3. Aufl. ed. Fränkel, 1886) wurden zugleich Perlen der nationalökonomischen Litteratur; was Niebuhr, Nitzsch und Mommsen uns über sociale Klassenkämpfe lehrten, stand hoch über den luftigen Kartenhäusern der Socialisten. Die Erdkunde wurde durch A. v. Humboldt und K. Ritter erst eine Wissenschaft, die Reise- litteratur und Kenntnis der Naturvölker nahm rasch zu und lieferte auch volkswirtschaftlichen Stoff aller Art. Die anthropologische und urgeschichtliche Forschung erweiterte unseren ganzen Horizont unermeßlich. Tylor, Lubbock, H. Spencer, Bastian, Th. Waitz (An- thropologie der Naturvölker, 1859--72), Lewis H. Morgan (Ancient society, 1875, deutsch Die Urgesellschaft, 1891), Pictet (Les origines indoeuropeennes, 1877, 2. Ausg.), O. Schrader (Sprachvergleichung und Urgeschichte, 1883; Zur Handelsgeschichte und Warenkunde, 1886), Sumner H. Maine (Ancient law, 1861; Early history of institutions, 1875), F. Ratzel (Völkerkunde, 3 Bde., 1885; Anthropogeographie, 2 Bde., 1882 u. 91) sind heute neben zahlreichen speciellen Reisewerken und ethnographischen Monographien unentbehrliche Hülfsmittel der volkswirtschaftlichen Forschung. Daneben konnte die eigentlich nationalökonomische Beobachtung nicht zurückbleiben; man drang ganz anders als früher in die Hütte des Arbeiters wie in die Werkstatt und Fabrik, man schilderte den Familienhaushalt und den Bauernhof. Die Vereinigung zahlreicher disciplinierter Einzelkräfte zu wissenschaftlicher Gesamtarbeit auf Kongressen, bei Enqueten, in Sammel- werken und Zeitschriften erlaubte Leistungen, wie sie im Bereiche der Geschichte früher nur etwa aus den Benediktinerabteien hervorgegangen waren. Die Einsicht, daß A. Smith, Ricardo und Marx doch alle von einem zu kleinen, begrenzten Erfahrungs- feld ausgegangen waren, siegte definitiv. Es entstand eine Richtung der wissenschaftlichen Arbeit, die vielleicht in mancher ihrer Hülfskräfte das Materialsammeln zu hoch, dessen rationale Bemeisterung zu niedrig schätzte; aber sie war nötig in einem Zeitalter, in dem selbst die Philosophie zum Experiment griff, in dem jede Wissenschaft komplizierter Lebensvorgänge einen vollendeten deskriptiven Teil als Vorarbeit forderte. Und auch die einseitigen Anhänger der alten Schulen bekundeten die Berechtigung des Umschwungs, indem sie ihrerseits an der realistischen Arbeit teilnahmen.
Das Ergebnis dieser neuen Richtung der Studien war natürlich je nach Personen, Ländern, Vorbildung und Zwecken ein sehr verschiedenes. Hier sammelte man Material, um die Sätze der alten Schuldogmatik oder die neuen socialistischen Ideale zu beweisen, dort schilderte man objektiv und unparteiisch; die einen bauten aus einem Übersichts- material rasch große hypothetische Gebäude, die anderen blieben bei einer minutiösen Detailschilderung und ganz fest begrenzten Schlüssen. Der engste Specialist und der universalste Geist konnte gleichmäßig in den Dienst des Realismus treten. Aber die rasch fertigen dogmatischen Lehrbücher, die in Rezeptform unterrichteten und rasche prak- tische Anweisung gaben, mußten in Mißkredit kommen. Die Monographie trat mehr und mehr in den Vordergrund des wissenschaftlichen Betriebes.
Der erste Nationalökonom, der europäische mit amerikanischen Wirtschaftserfahrungen, historische Kenntnisse mit praktischer Beobachtung des Lebens in großem Stile verband und daraus eine bedeutsame Theorie der volkswirtschaftlichen Entwickelung ableitete, war der deutsche Professor Friedrich List (Das nationale System der politischen Ökonomie, 1841; 7. Aufl. ed. Eheberg, 1883; ges. Werke ed. Häusser, 3 Bde., 1850). Hätte er mit seiner genialen Begabung die nötige Nüchternheit und die Ruhe eines Gelehrtenlebens verbunden,
Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
49. Die hiſtoriſche und ſonſtige realiſtiſche Forſchung hat neben und mit der Statiſtik unſerer Wiſſenſchaft im 19. Jahrhundert einen ganz neuen Boden gegeben. In Deutſchland hatte die Philologie und Altertumswiſſenſchaft in F. A. Wolf, F. G. Welcker, A. Böckh und K. O. Müller, die Geſchichte in B. G. Niebuhr und L. Ranke, die geſchichtliche Rechtswiſſenſchaft und die Verfaſſungsgeſchichte in Eichhorn, Savigny, Waitz, Dahlmann, Mommſen, Gneiſt ihr goldenes Zeitalter erlebt. Nicht bloß Methode, Kritik und Quellenkunde wurden damit für alle Geiſteswiſſenſchaften andere, ſondern auch der allgemeine Sinn für kauſale Zuſammenhänge; wer durch dieſe Schule gegangen war, konnte mit den kahlen und dürren rationaliſtiſchen Erwägungen und Schluß- folgerungen des alten Naturrechts nicht mehr auskommen. Und Werke wie Böckhs Staats- haushalt der Athener (1817; 3. Aufl. ed. Fränkel, 1886) wurden zugleich Perlen der nationalökonomiſchen Litteratur; was Niebuhr, Nitzſch und Mommſen uns über ſociale Klaſſenkämpfe lehrten, ſtand hoch über den luftigen Kartenhäuſern der Socialiſten. Die Erdkunde wurde durch A. v. Humboldt und K. Ritter erſt eine Wiſſenſchaft, die Reiſe- litteratur und Kenntnis der Naturvölker nahm raſch zu und lieferte auch volkswirtſchaftlichen Stoff aller Art. Die anthropologiſche und urgeſchichtliche Forſchung erweiterte unſeren ganzen Horizont unermeßlich. Tylor, Lubbock, H. Spencer, Baſtian, Th. Waitz (An- thropologie der Naturvölker, 1859—72), Lewis H. Morgan (Ancient society, 1875, deutſch Die Urgeſellſchaft, 1891), Pictet (Les origines indoeuropéennes, 1877, 2. Ausg.), O. Schrader (Sprachvergleichung und Urgeſchichte, 1883; Zur Handelsgeſchichte und Warenkunde, 1886), Sumner H. Maine (Ancient law, 1861; Early history of institutions, 1875), F. Ratzel (Völkerkunde, 3 Bde., 1885; Anthropogeographie, 2 Bde., 1882 u. 91) ſind heute neben zahlreichen ſpeciellen Reiſewerken und ethnographiſchen Monographien unentbehrliche Hülfsmittel der volkswirtſchaftlichen Forſchung. Daneben konnte die eigentlich nationalökonomiſche Beobachtung nicht zurückbleiben; man drang ganz anders als früher in die Hütte des Arbeiters wie in die Werkſtatt und Fabrik, man ſchilderte den Familienhaushalt und den Bauernhof. Die Vereinigung zahlreicher disciplinierter Einzelkräfte zu wiſſenſchaftlicher Geſamtarbeit auf Kongreſſen, bei Enqueten, in Sammel- werken und Zeitſchriften erlaubte Leiſtungen, wie ſie im Bereiche der Geſchichte früher nur etwa aus den Benediktinerabteien hervorgegangen waren. Die Einſicht, daß A. Smith, Ricardo und Marx doch alle von einem zu kleinen, begrenzten Erfahrungs- feld ausgegangen waren, ſiegte definitiv. Es entſtand eine Richtung der wiſſenſchaftlichen Arbeit, die vielleicht in mancher ihrer Hülfskräfte das Materialſammeln zu hoch, deſſen rationale Bemeiſterung zu niedrig ſchätzte; aber ſie war nötig in einem Zeitalter, in dem ſelbſt die Philoſophie zum Experiment griff, in dem jede Wiſſenſchaft komplizierter Lebensvorgänge einen vollendeten deſkriptiven Teil als Vorarbeit forderte. Und auch die einſeitigen Anhänger der alten Schulen bekundeten die Berechtigung des Umſchwungs, indem ſie ihrerſeits an der realiſtiſchen Arbeit teilnahmen.
Das Ergebnis dieſer neuen Richtung der Studien war natürlich je nach Perſonen, Ländern, Vorbildung und Zwecken ein ſehr verſchiedenes. Hier ſammelte man Material, um die Sätze der alten Schuldogmatik oder die neuen ſocialiſtiſchen Ideale zu beweiſen, dort ſchilderte man objektiv und unparteiiſch; die einen bauten aus einem Überſichts- material raſch große hypothetiſche Gebäude, die anderen blieben bei einer minutiöſen Detailſchilderung und ganz feſt begrenzten Schlüſſen. Der engſte Specialiſt und der univerſalſte Geiſt konnte gleichmäßig in den Dienſt des Realismus treten. Aber die raſch fertigen dogmatiſchen Lehrbücher, die in Rezeptform unterrichteten und raſche prak- tiſche Anweiſung gaben, mußten in Mißkredit kommen. Die Monographie trat mehr und mehr in den Vordergrund des wiſſenſchaftlichen Betriebes.
Der erſte Nationalökonom, der europäiſche mit amerikaniſchen Wirtſchaftserfahrungen, hiſtoriſche Kenntniſſe mit praktiſcher Beobachtung des Lebens in großem Stile verband und daraus eine bedeutſame Theorie der volkswirtſchaftlichen Entwickelung ableitete, war der deutſche Profeſſor Friedrich Liſt (Das nationale Syſtem der politiſchen Ökonomie, 1841; 7. Aufl. ed. Eheberg, 1883; geſ. Werke ed. Häuſſer, 3 Bde., 1850). Hätte er mit ſeiner genialen Begabung die nötige Nüchternheit und die Ruhe eines Gelehrtenlebens verbunden,
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[116/0132]
Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
49. Die hiſtoriſche und ſonſtige realiſtiſche Forſchung hat neben
und mit der Statiſtik unſerer Wiſſenſchaft im 19. Jahrhundert einen ganz neuen Boden
gegeben. In Deutſchland hatte die Philologie und Altertumswiſſenſchaft in F. A. Wolf,
F. G. Welcker, A. Böckh und K. O. Müller, die Geſchichte in B. G. Niebuhr und
L. Ranke, die geſchichtliche Rechtswiſſenſchaft und die Verfaſſungsgeſchichte in Eichhorn,
Savigny, Waitz, Dahlmann, Mommſen, Gneiſt ihr goldenes Zeitalter erlebt. Nicht bloß
Methode, Kritik und Quellenkunde wurden damit für alle Geiſteswiſſenſchaften andere,
ſondern auch der allgemeine Sinn für kauſale Zuſammenhänge; wer durch dieſe Schule
gegangen war, konnte mit den kahlen und dürren rationaliſtiſchen Erwägungen und Schluß-
folgerungen des alten Naturrechts nicht mehr auskommen. Und Werke wie Böckhs Staats-
haushalt der Athener (1817; 3. Aufl. ed. Fränkel, 1886) wurden zugleich Perlen der
nationalökonomiſchen Litteratur; was Niebuhr, Nitzſch und Mommſen uns über ſociale
Klaſſenkämpfe lehrten, ſtand hoch über den luftigen Kartenhäuſern der Socialiſten. Die
Erdkunde wurde durch A. v. Humboldt und K. Ritter erſt eine Wiſſenſchaft, die Reiſe-
litteratur und Kenntnis der Naturvölker nahm raſch zu und lieferte auch volkswirtſchaftlichen
Stoff aller Art. Die anthropologiſche und urgeſchichtliche Forſchung erweiterte unſeren
ganzen Horizont unermeßlich. Tylor, Lubbock, H. Spencer, Baſtian, Th. Waitz (An-
thropologie der Naturvölker, 1859—72), Lewis H. Morgan (Ancient society, 1875,
deutſch Die Urgeſellſchaft, 1891), Pictet (Les origines indoeuropéennes, 1877, 2. Ausg.),
O. Schrader (Sprachvergleichung und Urgeſchichte, 1883; Zur Handelsgeſchichte und
Warenkunde, 1886), Sumner H. Maine (Ancient law, 1861; Early history of institutions,
1875), F. Ratzel (Völkerkunde, 3 Bde., 1885; Anthropogeographie, 2 Bde., 1882 u. 91)
ſind heute neben zahlreichen ſpeciellen Reiſewerken und ethnographiſchen Monographien
unentbehrliche Hülfsmittel der volkswirtſchaftlichen Forſchung. Daneben konnte die
eigentlich nationalökonomiſche Beobachtung nicht zurückbleiben; man drang ganz anders
als früher in die Hütte des Arbeiters wie in die Werkſtatt und Fabrik, man ſchilderte
den Familienhaushalt und den Bauernhof. Die Vereinigung zahlreicher disciplinierter
Einzelkräfte zu wiſſenſchaftlicher Geſamtarbeit auf Kongreſſen, bei Enqueten, in Sammel-
werken und Zeitſchriften erlaubte Leiſtungen, wie ſie im Bereiche der Geſchichte früher
nur etwa aus den Benediktinerabteien hervorgegangen waren. Die Einſicht, daß
A. Smith, Ricardo und Marx doch alle von einem zu kleinen, begrenzten Erfahrungs-
feld ausgegangen waren, ſiegte definitiv. Es entſtand eine Richtung der wiſſenſchaftlichen
Arbeit, die vielleicht in mancher ihrer Hülfskräfte das Materialſammeln zu hoch, deſſen
rationale Bemeiſterung zu niedrig ſchätzte; aber ſie war nötig in einem Zeitalter, in
dem ſelbſt die Philoſophie zum Experiment griff, in dem jede Wiſſenſchaft komplizierter
Lebensvorgänge einen vollendeten deſkriptiven Teil als Vorarbeit forderte. Und auch
die einſeitigen Anhänger der alten Schulen bekundeten die Berechtigung des Umſchwungs,
indem ſie ihrerſeits an der realiſtiſchen Arbeit teilnahmen.
Das Ergebnis dieſer neuen Richtung der Studien war natürlich je nach Perſonen,
Ländern, Vorbildung und Zwecken ein ſehr verſchiedenes. Hier ſammelte man Material,
um die Sätze der alten Schuldogmatik oder die neuen ſocialiſtiſchen Ideale zu beweiſen,
dort ſchilderte man objektiv und unparteiiſch; die einen bauten aus einem Überſichts-
material raſch große hypothetiſche Gebäude, die anderen blieben bei einer minutiöſen
Detailſchilderung und ganz feſt begrenzten Schlüſſen. Der engſte Specialiſt und der
univerſalſte Geiſt konnte gleichmäßig in den Dienſt des Realismus treten. Aber die
raſch fertigen dogmatiſchen Lehrbücher, die in Rezeptform unterrichteten und raſche prak-
tiſche Anweiſung gaben, mußten in Mißkredit kommen. Die Monographie trat mehr
und mehr in den Vordergrund des wiſſenſchaftlichen Betriebes.
Der erſte Nationalökonom, der europäiſche mit amerikaniſchen Wirtſchaftserfahrungen,
hiſtoriſche Kenntniſſe mit praktiſcher Beobachtung des Lebens in großem Stile verband
und daraus eine bedeutſame Theorie der volkswirtſchaftlichen Entwickelung ableitete, war
der deutſche Profeſſor Friedrich Liſt (Das nationale Syſtem der politiſchen Ökonomie, 1841;
7. Aufl. ed. Eheberg, 1883; geſ. Werke ed. Häuſſer, 3 Bde., 1850). Hätte er mit ſeiner
genialen Begabung die nötige Nüchternheit und die Ruhe eines Gelehrtenlebens verbunden,
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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/132>, abgerufen am 09.11.2024.
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