Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.Die Bedeutung der Statistik. erlaubt Hypothesen, bestätigt oder beseitigt sie. Aber nicht mehr. Und dann: es sindimmer nur wenige äußerliche Fragen, die gestellt und präcis beantwortet werden können. Man kann das Vieh zählen, aber kaum das Gewicht jedes Ochsen feststellen; man kann die vor Gericht oder Polizei kommenden Verbrechen zählen, aber nicht die begangenen noch weniger ihre innerliche Qualifikation; man kann feststellen, zu welchem Preise an einem Tage auf einem Markte nach dem Urteil eines Sachverständigen gehandelt wurde, aber nie alle wirklich verabredeten und gezahlten Preise und alle zu solchen Preisen geschlossenen Verträge feststellen. Jede Zahl ohne Kenntnis ihrer Entstehungsgeschichte ist problematisch, schon weil die Gruppenabgrenzung des Gezählten so oft zweifelhaft ist. Die Statistik ist und bleibt ein roher Apparat, in der Hand des Dilettanten ein Mittel des Mißbrauches und des Irrtums, nur in der Hand des Kenners und Meisters, des nüchternen, wahrheitsuchenden Gelehrten ein Schlüssel zu tieferer Erkenntnis. Und doch, was hat sie schon geleistet! Sie hat die Bevölkerungslehre und Moral- Die Männer, welche sich um ihre Ausbildung in den statistischen Ämtern haupt- Über das Wesen der Statistik als Wissenschaft haben außer den Genannten sich 8*
Die Bedeutung der Statiſtik. erlaubt Hypotheſen, beſtätigt oder beſeitigt ſie. Aber nicht mehr. Und dann: es ſindimmer nur wenige äußerliche Fragen, die geſtellt und präcis beantwortet werden können. Man kann das Vieh zählen, aber kaum das Gewicht jedes Ochſen feſtſtellen; man kann die vor Gericht oder Polizei kommenden Verbrechen zählen, aber nicht die begangenen noch weniger ihre innerliche Qualifikation; man kann feſtſtellen, zu welchem Preiſe an einem Tage auf einem Markte nach dem Urteil eines Sachverſtändigen gehandelt wurde, aber nie alle wirklich verabredeten und gezahlten Preiſe und alle zu ſolchen Preiſen geſchloſſenen Verträge feſtſtellen. Jede Zahl ohne Kenntnis ihrer Entſtehungsgeſchichte iſt problematiſch, ſchon weil die Gruppenabgrenzung des Gezählten ſo oft zweifelhaft iſt. Die Statiſtik iſt und bleibt ein roher Apparat, in der Hand des Dilettanten ein Mittel des Mißbrauches und des Irrtums, nur in der Hand des Kenners und Meiſters, des nüchternen, wahrheitſuchenden Gelehrten ein Schlüſſel zu tieferer Erkenntnis. Und doch, was hat ſie ſchon geleiſtet! Sie hat die Bevölkerungslehre und Moral- Die Männer, welche ſich um ihre Ausbildung in den ſtatiſtiſchen Ämtern haupt- Über das Weſen der Statiſtik als Wiſſenſchaft haben außer den Genannten ſich 8*
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Quetelet, der die belgiſche<lb/> Statiſtik zeitweiſe zur erſten in Europa machte und durch ſein Buch (<hi rendition="#aq">Sur l’homme,</hi><lb/> 2 Bde., 1835, deutſch 1838) mit ſeinen freilich ſchiefen, mechaniſch-naturaliſtiſchen Ten-<lb/> denzen einen Jahrzehnte dauernden fruchtbaren wiſſenſchaftlichen Streit anregte; Moreau<lb/> de Jonn<hi rendition="#aq">è</hi>s, der von 1833 an die franzöſiſche Statiſtik leitete und eine Reihe wertvoller<lb/> ſtatiſtiſch-hiſtoriſcher Werke ſchrieb; Ernſt Engel, der mit einer naturwiſſenſchaftlich-techno-<lb/> logiſchen Bildung den Spuren Quetelets folgte und die ſächſiſche und preußiſche Statiſtik<lb/> nach dem Vorbilde der belgiſchen mit ſeltener Rührigkeit und Beweglichkeit ausbildete;<lb/> Georg v. 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Die Bedeutung der Statiſtik.
erlaubt Hypotheſen, beſtätigt oder beſeitigt ſie. Aber nicht mehr. Und dann: es ſind
immer nur wenige äußerliche Fragen, die geſtellt und präcis beantwortet werden können.
Man kann das Vieh zählen, aber kaum das Gewicht jedes Ochſen feſtſtellen; man kann
die vor Gericht oder Polizei kommenden Verbrechen zählen, aber nicht die begangenen
noch weniger ihre innerliche Qualifikation; man kann feſtſtellen, zu welchem Preiſe an
einem Tage auf einem Markte nach dem Urteil eines Sachverſtändigen gehandelt wurde,
aber nie alle wirklich verabredeten und gezahlten Preiſe und alle zu ſolchen Preiſen
geſchloſſenen Verträge feſtſtellen. Jede Zahl ohne Kenntnis ihrer Entſtehungsgeſchichte
iſt problematiſch, ſchon weil die Gruppenabgrenzung des Gezählten ſo oft zweifelhaft iſt.
Die Statiſtik iſt und bleibt ein roher Apparat, in der Hand des Dilettanten ein Mittel
des Mißbrauches und des Irrtums, nur in der Hand des Kenners und Meiſters, des
nüchternen, wahrheitſuchenden Gelehrten ein Schlüſſel zu tieferer Erkenntnis.
Und doch, was hat ſie ſchon geleiſtet! Sie hat die Bevölkerungslehre und Moral-
ſtatiſtik erſt geſchaffen; ſie hat dem ganzen deſkriptiven Teil der Staats- und Social-
wiſſenſchaften erſt Präciſion und wiſſenſchaftlichen Charakter gegeben, ſie hat die abſtrakten
Schlüſſe aus den Quantitätsverhältniſſen in der Wert- und Preislehre auf ihr rechtes
Maß zurückgeführt, zahlloſe Irrtümer in der Geld- und Kreditlehre, in der Frage der
Getreidepreiſe, der Löhne, des Konſums, der Ernteergebniſſe beſeitigt. Sie hat das
naturaliſtiſche Wirtſchaften mit Phraſen und halbwahren Hypotheſen auf dem ganzen
Wiſſensgebiet eingeſchränkt; die Frageſtellungen überall verſchärft, ein gelehrtes ſyſtema-
tiſches Verfahren an die Stelle des Raiſonnierens aus dem Handgelenk geſetzt.
Die Männer, welche ſich um ihre Ausbildung in den ſtatiſtiſchen Ämtern haupt-
ſächlich verdient gemacht haben, ſind: J. G. Hoffmann in Preußen, der auch durch ſeine
realiſtiſchen Schriften (Lehre vom Geld, 1838; Lehre von den Steuern, 1840; Befugnis
zum Gewerbebetrieb, 1841) zu den vorzüglichen Darſtellern konkreter Wirtſchaftsverhält-
niſſe gehört; der Aſtronom und Naturforſcher L. A. J. Quetelet, der die belgiſche
Statiſtik zeitweiſe zur erſten in Europa machte und durch ſein Buch (Sur l’homme,
2 Bde., 1835, deutſch 1838) mit ſeinen freilich ſchiefen, mechaniſch-naturaliſtiſchen Ten-
denzen einen Jahrzehnte dauernden fruchtbaren wiſſenſchaftlichen Streit anregte; Moreau
de Jonnès, der von 1833 an die franzöſiſche Statiſtik leitete und eine Reihe wertvoller
ſtatiſtiſch-hiſtoriſcher Werke ſchrieb; Ernſt Engel, der mit einer naturwiſſenſchaftlich-techno-
logiſchen Bildung den Spuren Quetelets folgte und die ſächſiſche und preußiſche Statiſtik
nach dem Vorbilde der belgiſchen mit ſeltener Rührigkeit und Beweglichkeit ausbildete;
Georg v. Mayr, der nach dem Vorgang Hermanns die bayriſche Statiſtik für viele Jahre
mit zur angeſehenſten in Deutſchland erhob und allgemeine Werke über Statiſtik ſchrieb
(Geſetzmäßigkeit im Geſellſchaftsleben, 1877; Statiſtik und Geſellſchaftslehre, 2 Bde.,
1894—97), neuerdings ein ſtatiſtiſches Archiv als Zeitſchrift begründete (ſeit 1890);
endlich Guſtav Rümelin, der eine Reihe muſterhafter Arbeiten über die württembergiſche
Statiſtik und über die Theorie der Statiſtik (in ſeinen Reden und Aufſätzen, 3 Bde.)
lieferte. Neuerdings hat ſich hauptſächlich die italieniſche Statiſtik unter Luigi Bodio durch
umfangreiche und tüchtige Leiſtungen ausgezeichnet. Und in Frankreich ſteht jetzt
Erneſt Levaſſeur mit ſeinem großen hiſtoriſch-ſtatiſtiſchen Werke La population française
(3 Bde., 1889 ff.) an der Spitze.
Über das Weſen der Statiſtik als Wiſſenſchaft haben außer den Genannten ſich
in bemerkenswerter Weiſe ausgeſprochen: Karl Knies (Die Statiſtik als ſelbſtändige
Wiſſenſchaft, 1850), G. F. Knapp (Die neueren Anſichten über Moralſtatiſtik, J. f. N.
1. F. 16, 1871; über Quetelet, daſelbſt 18, 1873; Theorie des Bevölkerungswechſels,
1874), W. Lexis (Theorie der Maſſenerſcheinungen in der menſchlichen Geſellſchaft, 1877),
Maurice Block (Traité théorique et pratique de la statistique, 1878, deutſch 1879
von v. Scheel), Auguſt Meitzen (Geſchichte, Theorie und Technik der Statiſtik, 1886),
W. Weſtergaard (Grundzüge der Theorie der Statiſtik, 1890). Die Bevölkerungslehre
haben 1859 Wappäus, die Moralſtatiſtik 1868 von Oettingen, die Verwaltungsſtatiſtik
E. Miſchler (1 Bd.), 1892 in ihren weſentlichen Reſultaten zuſammengefaßt.
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