Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.Einleitung. Begriff. Psychologische und sittliche Grundlage. Litteratur und Methode. Gesetzmäßigkeit kausaler Verknüpfung erkannte oder ahnte, so sehr man auf einzelneUrsachen sofort verfiel, wie die Naturrechtslehrer die allgemeine Menschennatur, die Merkantilisten den Geldverkehr, A. Smith die Arbeit und den Erwerbstrieb in den Vordergrund der Kausalerklärung rückten, so wenig konnte ein solches summarisches Hinweisen auf eine Ursache oder Ursachengruppe genügen, noch weniger konnte eine Art rohen Analogieverfahrens als das Hauptprincip der Erklärung befriedigen. So wenn man Bevölkerung, Volkswirtschaft und Gesellschaft nach dem Vorbilde der Physik als ein mechanisches System von Kräften ansah, die sich im Gleichgewicht halten, oder wenn man glaubte, durch den bei Pflanzen und Tieren beobachteten Kampf ums Dasein den socialen Entwickelungsprozeß analog erklären zu können. Gewiß können solche Analogien manches anschaulicher machen, können Zusammenhänge finden helfen, aber sie führen ebenso oft auf Irrwege und können die Erklärung aus den konkreten Einzelursachen nie ersetzen. Seit die neuere Wissenschaft zu dem freilich nicht beweisbaren, aber trotzdem Aber die Aufgabe ist eine unendlich schwierige. Was ist Ursache? was ist Folge? Schon die Doppelbedingtheit aller volkswirtschaftlichen Erscheinungen durch ma- Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode. Geſetzmäßigkeit kauſaler Verknüpfung erkannte oder ahnte, ſo ſehr man auf einzelneUrſachen ſofort verfiel, wie die Naturrechtslehrer die allgemeine Menſchennatur, die Merkantiliſten den Geldverkehr, A. Smith die Arbeit und den Erwerbstrieb in den Vordergrund der Kauſalerklärung rückten, ſo wenig konnte ein ſolches ſummariſches Hinweiſen auf eine Urſache oder Urſachengruppe genügen, noch weniger konnte eine Art rohen Analogieverfahrens als das Hauptprincip der Erklärung befriedigen. So wenn man Bevölkerung, Volkswirtſchaft und Geſellſchaft nach dem Vorbilde der Phyſik als ein mechaniſches Syſtem von Kräften anſah, die ſich im Gleichgewicht halten, oder wenn man glaubte, durch den bei Pflanzen und Tieren beobachteten Kampf ums Daſein den ſocialen Entwickelungsprozeß analog erklären zu können. Gewiß können ſolche Analogien manches anſchaulicher machen, können Zuſammenhänge finden helfen, aber ſie führen ebenſo oft auf Irrwege und können die Erklärung aus den konkreten Einzelurſachen nie erſetzen. Seit die neuere Wiſſenſchaft zu dem freilich nicht beweisbaren, aber trotzdem Aber die Aufgabe iſt eine unendlich ſchwierige. Was iſt Urſache? was iſt Folge? Schon die Doppelbedingtheit aller volkswirtſchaftlichen Erſcheinungen durch ma- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0122" n="106"/><fw place="top" type="header">Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.</fw><lb/> Geſetzmäßigkeit kauſaler Verknüpfung erkannte oder ahnte, ſo ſehr man auf einzelne<lb/> Urſachen ſofort verfiel, wie die Naturrechtslehrer die allgemeine Menſchennatur, die<lb/> Merkantiliſten den Geldverkehr, A. Smith die Arbeit und den Erwerbstrieb in den<lb/> Vordergrund der Kauſalerklärung rückten, ſo wenig konnte ein ſolches ſummariſches<lb/> Hinweiſen auf eine Urſache oder Urſachengruppe genügen, noch weniger konnte eine Art<lb/> rohen Analogieverfahrens als das Hauptprincip der Erklärung befriedigen. So wenn<lb/> man Bevölkerung, Volkswirtſchaft und Geſellſchaft nach dem Vorbilde der Phyſik als ein<lb/> mechaniſches Syſtem von Kräften anſah, die ſich im Gleichgewicht halten, oder wenn<lb/> man glaubte, durch den bei Pflanzen und Tieren beobachteten Kampf ums Daſein den<lb/> ſocialen Entwickelungsprozeß analog erklären zu können. 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So hoffen wir zu einer erſchöpfenden Erklärung der Welt,<lb/> der Koexiſtenz und Folge der Dinge zu kommen.</p><lb/> <p>Aber die Aufgabe iſt eine unendlich ſchwierige. Was iſt Urſache? was iſt Folge?<lb/> Wenn wir antworten, <hi rendition="#aq">A</hi> iſt die Urſache von <hi rendition="#aq">B</hi>, wenn <hi rendition="#aq">A</hi> das unbedingte und notwendige<lb/> Antecedens von <hi rendition="#aq">B</hi> iſt, ſo fügen wir doch gleich bei, daß <hi rendition="#aq">B</hi> nicht logiſch in <hi rendition="#aq">A</hi> enthalten<lb/> ſei, daß <hi rendition="#aq">B</hi> nur erfahrungsmäßig als ſtets integrierender Teil eines Ganzen ſich uns<lb/> darſtelle, in dem <hi rendition="#aq">A</hi> den Vortritt vor <hi rendition="#aq">B</hi> habe. 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Das komplizierte Nebeneinander<lb/> des Seienden geht ſtets auf frühere Kombinationen, auf geſetzlich geordnete aber fern<lb/> liegende, uns unerforſchliche Zuſtände zurück, über die wir uns nur Vermutungen und<lb/> Hypotheſen erlauben, die wir nur durch teleologiſche Betrachtungen uns verſtändlich<lb/> machen können.</p><lb/> <p>Schon die Doppelbedingtheit aller volkswirtſchaftlichen Erſcheinungen durch ma-<lb/> terielle und geiſtige Urſachen erzeugt für die Unterſuchung beſondere Schwierigkeiten.<lb/> Der häufig gemachte Verſuch, die letzteren auf die erſteren zurückzuführen, wie es die<lb/> Materialiſten und Buckle gethan, der aus Klima, Boden und ähnlichen Faktoren die<lb/> geiſtige Entwickelung eines Volkes ableiten will, oder wie die Marxianer aus der öko-<lb/> nomiſchen Produktion alles höhere Kulturleben reſtlos glauben erklären zu können, muß<lb/> immer wieder ſcheitern. Denn ſo ſehr heute der Zuſammenhang alles geiſtigen Lebens<lb/> mit dem Nervenleben, der Parallelismus der pſychiſchen und biologiſchen Erſcheinungen<lb/> erkannt wird, aus rein materiellen Elementen iſt nie und wird wohl nie das Seelen-<lb/> leben erklärt werden. Gewiß finden heute auch die umgekehrten Sätze der Idealiſten<lb/> keinen Glauben mehr; ſo z. B. der Ausſpruch des engliſchen Hiſtorikers Froude: „Wenn<lb/> es einem Menſchen frei ſteht zu thun, was er will, ſo giebt es keine genaue Wiſſen-<lb/> ſchaft von ihm; wenn es eine Wiſſenſchaft von ihm giebt, ſo giebt es keine freie Wahl.“<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [106/0122]
Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
Geſetzmäßigkeit kauſaler Verknüpfung erkannte oder ahnte, ſo ſehr man auf einzelne
Urſachen ſofort verfiel, wie die Naturrechtslehrer die allgemeine Menſchennatur, die
Merkantiliſten den Geldverkehr, A. Smith die Arbeit und den Erwerbstrieb in den
Vordergrund der Kauſalerklärung rückten, ſo wenig konnte ein ſolches ſummariſches
Hinweiſen auf eine Urſache oder Urſachengruppe genügen, noch weniger konnte eine Art
rohen Analogieverfahrens als das Hauptprincip der Erklärung befriedigen. So wenn
man Bevölkerung, Volkswirtſchaft und Geſellſchaft nach dem Vorbilde der Phyſik als ein
mechaniſches Syſtem von Kräften anſah, die ſich im Gleichgewicht halten, oder wenn
man glaubte, durch den bei Pflanzen und Tieren beobachteten Kampf ums Daſein den
ſocialen Entwickelungsprozeß analog erklären zu können. Gewiß können ſolche Analogien
manches anſchaulicher machen, können Zuſammenhänge finden helfen, aber ſie führen
ebenſo oft auf Irrwege und können die Erklärung aus den konkreten Einzelurſachen nie
erſetzen.
Seit die neuere Wiſſenſchaft zu dem freilich nicht beweisbaren, aber trotzdem
unerſchütterlichen Glauben von einem gleichmäßigen, in ſich ſtets lückenlos zuſammen-
hängenden, durch beſtimmte Kräfte beherrſchten Entwickelungsprozeß der Natur, der
Geſchichte und der menſchlichen Geſellſchaft gekommen iſt, erſcheint die Feſtſtellung der
ſpeciellen und zwar der ſämtlichen Urſachen jeder einzelnen Erſcheinung als die wichtigſte
Aufgabe des wiſſenſchaftlichen Verfahrens. Nur ſo kommt diejenige Einheit und Ord-
nung in die unendliche Mannigfaltigkeit der Erſcheinungen, welche uns befriedigt. Von
den vielen verſchiedenen und nächſtliegenden Urſachen verſuchen wir dann aufzuſteigen
zu den wenigen und einfachen. So hoffen wir zu einer erſchöpfenden Erklärung der Welt,
der Koexiſtenz und Folge der Dinge zu kommen.
Aber die Aufgabe iſt eine unendlich ſchwierige. Was iſt Urſache? was iſt Folge?
Wenn wir antworten, A iſt die Urſache von B, wenn A das unbedingte und notwendige
Antecedens von B iſt, ſo fügen wir doch gleich bei, daß B nicht logiſch in A enthalten
ſei, daß B nur erfahrungsmäßig als ſtets integrierender Teil eines Ganzen ſich uns
darſtelle, in dem A den Vortritt vor B habe. Wir ſehen, daß ſelbſt bei einfachen
phyſiſchen oder biologiſchen Vorgängen der Eintritt einer Thatſache meiſt von einer
Summe von Zuſtänden und Vorbedingungen abhängt, deren nur eine zu fehlen braucht,
um den Eintritt, wenigſtens in dieſer Form, zu hindern. Es iſt nur eine Art ſprach-
licher Aushülfe, wenn man den zuletzt hinzutretenden Faktor als Urſache, die vorher
vorhandenen als Bedingungen bezeichnet. Vollends alle geſellſchaftlichen und volkswirt-
ſchaftlichen Erſcheinungen haben wir regelmäßig auf eine Reihe phyſiſcher und biologiſcher
Urſachen einerſeits, auf eine Reihe pſychiſcher und moraliſcher andererſeits zurückzuführen.
Und jede dieſer Einzelurſachen weiſt auf zeitlich weiter zurückliegende Urſachenketten und
-komplexe hin, die wir niemals ganz erfaſſen können. Das komplizierte Nebeneinander
des Seienden geht ſtets auf frühere Kombinationen, auf geſetzlich geordnete aber fern
liegende, uns unerforſchliche Zuſtände zurück, über die wir uns nur Vermutungen und
Hypotheſen erlauben, die wir nur durch teleologiſche Betrachtungen uns verſtändlich
machen können.
Schon die Doppelbedingtheit aller volkswirtſchaftlichen Erſcheinungen durch ma-
terielle und geiſtige Urſachen erzeugt für die Unterſuchung beſondere Schwierigkeiten.
Der häufig gemachte Verſuch, die letzteren auf die erſteren zurückzuführen, wie es die
Materialiſten und Buckle gethan, der aus Klima, Boden und ähnlichen Faktoren die
geiſtige Entwickelung eines Volkes ableiten will, oder wie die Marxianer aus der öko-
nomiſchen Produktion alles höhere Kulturleben reſtlos glauben erklären zu können, muß
immer wieder ſcheitern. Denn ſo ſehr heute der Zuſammenhang alles geiſtigen Lebens
mit dem Nervenleben, der Parallelismus der pſychiſchen und biologiſchen Erſcheinungen
erkannt wird, aus rein materiellen Elementen iſt nie und wird wohl nie das Seelen-
leben erklärt werden. Gewiß finden heute auch die umgekehrten Sätze der Idealiſten
keinen Glauben mehr; ſo z. B. der Ausſpruch des engliſchen Hiſtorikers Froude: „Wenn
es einem Menſchen frei ſteht zu thun, was er will, ſo giebt es keine genaue Wiſſen-
ſchaft von ihm; wenn es eine Wiſſenſchaft von ihm giebt, ſo giebt es keine freie Wahl.“
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