Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.Wesen von Ursache und Folge. Mechanische und psychische Kausalität. Wir wissen heute, daß die psychische Kausalität eine andere ist als die mechanische, aberwir betrachten sie als eine gleich notwendige. Wenn wir einen Menschen ganz durch- schauen, wenn wir einen Volkscharakter vollständig kennen, so deduzieren wir mit voll- ständiger Sicherheit aus ihm. Wir glauben nicht mit den materialistischen Statistikern, daß ein blindes Schicksal jährlich so vielen Menschen die Pistole zum Selbstmord in die Hand drücke, aber wohl, daß bei der gleichmäßigen Fortdauer bestimmter moralischer und materieller Zustände in der gleichen Zahl von Selbstmorden und Verbrechen ein notwendiges Kausalergebnis liege. Wir finden die Freiheit des sittlichen Charakters nicht in der Leugnung der psychischen Kausalität, sondern in der Anerkennung der individuellen Energie als des wichtigsten Faktors unserer Entschließungen, in der Garantie, die der edle, durchgebildete Charakter giebt, nur gut handeln zu können. Wir finden die Berechtigung der Strafe für den Verbrecher gerade darin, daß die Strafe nicht bloß die Antwort auf eine einzelne That, sondern auf eine lange innere Geschichte ist, die bis zum Verbrechen mit Notwendigkeit führt. Aber wir fragen, wie ist es möglich, den Menschen, die Menschen und alle Menschen Und es wird kein Zweifel sein, daß wir in Bezug auf die kompliziertesten Zu- Aber trotzdem werden wir uns nicht abschrecken lassen, immer wieder die Kausalitäts- Weſen von Urſache und Folge. Mechaniſche und pſychiſche Kauſalität. Wir wiſſen heute, daß die pſychiſche Kauſalität eine andere iſt als die mechaniſche, aberwir betrachten ſie als eine gleich notwendige. Wenn wir einen Menſchen ganz durch- ſchauen, wenn wir einen Volkscharakter vollſtändig kennen, ſo deduzieren wir mit voll- ſtändiger Sicherheit aus ihm. Wir glauben nicht mit den materialiſtiſchen Statiſtikern, daß ein blindes Schickſal jährlich ſo vielen Menſchen die Piſtole zum Selbſtmord in die Hand drücke, aber wohl, daß bei der gleichmäßigen Fortdauer beſtimmter moraliſcher und materieller Zuſtände in der gleichen Zahl von Selbſtmorden und Verbrechen ein notwendiges Kauſalergebnis liege. Wir finden die Freiheit des ſittlichen Charakters nicht in der Leugnung der pſychiſchen Kauſalität, ſondern in der Anerkennung der individuellen Energie als des wichtigſten Faktors unſerer Entſchließungen, in der Garantie, die der edle, durchgebildete Charakter giebt, nur gut handeln zu können. Wir finden die Berechtigung der Strafe für den Verbrecher gerade darin, daß die Strafe nicht bloß die Antwort auf eine einzelne That, ſondern auf eine lange innere Geſchichte iſt, die bis zum Verbrechen mit Notwendigkeit führt. Aber wir fragen, wie iſt es möglich, den Menſchen, die Menſchen und alle Menſchen Und es wird kein Zweifel ſein, daß wir in Bezug auf die komplizierteſten Zu- Aber trotzdem werden wir uns nicht abſchrecken laſſen, immer wieder die Kauſalitäts- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0123" n="107"/><fw place="top" type="header">Weſen von Urſache und Folge. Mechaniſche und pſychiſche Kauſalität.</fw><lb/> Wir wiſſen heute, daß die pſychiſche Kauſalität eine andere iſt als die mechaniſche, aber<lb/> wir betrachten ſie als eine gleich notwendige. Wenn wir einen Menſchen ganz durch-<lb/> ſchauen, wenn wir einen Volkscharakter vollſtändig kennen, ſo deduzieren wir mit voll-<lb/> ſtändiger Sicherheit aus ihm. Wir glauben nicht mit den materialiſtiſchen Statiſtikern,<lb/> daß ein blindes Schickſal jährlich ſo vielen Menſchen die Piſtole zum Selbſtmord in die<lb/> Hand drücke, aber wohl, daß bei der gleichmäßigen Fortdauer beſtimmter moraliſcher<lb/> und materieller Zuſtände in der gleichen Zahl von Selbſtmorden und Verbrechen ein<lb/> notwendiges Kauſalergebnis liege. 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Die Pſychologie iſt<lb/> uns der Schlüſſel zu allen Geiſteswiſſenſchaften und alſo auch zur Nationalökonomie.<lb/> Wir wiſſen, daß das Einfachere in ihr ſeit Jahrtauſenden allen Denkern klar iſt, weil<lb/> es auf der inneren Wahrnehmung, der ſicherſten Quelle aller Erkenntnis, beruht. Daher<lb/> iſt es auch erklärlich, daß das Verſtändnis für gewiſſe elementare pſychologiſche Ver-<lb/> urſachungen ſehr alt iſt; und ſo mußte es auch für die Nationalökonomie, die ſich in<lb/> der Epoche des Tauſch- und Geldverkehrs ausbildete, nahe liegen, aus dem egoiſtiſchen<lb/> Erwerbstrieb deduktiv zahlreiche Sätze abzuleiten; jeder Menſchenkenner und jeder Poli-<lb/> tiker wendet jeden Moment weitere derartige generelle pſychologiſche Wahrheiten an, um<lb/> deduktiv aus ihnen vieles zu erklären. Aber von einer empiriſchen, wiſſenſchaftlich<lb/> vollendeten Pſychologie, von einer ausreichenden pſychologiſchen Völker- und Klaſſenkunde<lb/> können wir leider heute doch noch entfernt nicht reden. Und gerade ſie müßten wir an<lb/> Stelle der wenigen zu Gemeinplätzen gewordenen pſychologiſchen Wahrheiten, mit denen<lb/> wir jetzt haushalten, beſitzen, um beſſeren Boden in der Volkswirtſchafts- und Staats-<lb/> lehre unter den Füßen zu haben. Jeder Forſcher, der uns die Induſtrie eines Volkes,<lb/> der uns nur die Arbeiter eines Fabrikzweiges vorführt, beginnt mit einer pſychologiſchen<lb/> Zeichnung; bei jedem allgemeinen Schluß über die Wirkung einer Inſtitution, einer<lb/> Veränderung von Angebot und Nachfrage auf die Entſchließungen der Menſchen handelt<lb/> es ſich darum, die pſychologiſchen Zwiſchenglieder der Unterſuchung richtig zu beſtimmen.<lb/> Aber die Frage iſt immer, ob und in wie weit man dieſe pſychiſchen Faktoren genau<lb/> genug kenne, in ihrer unendlichen Kompliziertheit beherrſche, ob man ihr Zuſammen-<lb/> wirken mit den entſprechenden natürlichen Urſachen überhaupt ganz verfolgen könne.</p><lb/> <p>Und es wird kein Zweifel ſein, daß wir in Bezug auf die komplizierteſten Zu-<lb/> ſammenhänge in den Geiſteswiſſenſchaften überhaupt die Strenge der Naturwiſſenſchaften<lb/> nicht leicht erreichen können. Zumal das wenige, was wir über die entferntere Ver-<lb/> gangenheit wiſſen, wird uns nie in den Stand ſetzen, den Gang der Geſchichte als<lb/> einen abſolut notwendigen zu verſtehen, wir werden zufrieden ſein, wenn wir ihn nur<lb/> im allgemeinen begreiflich und verſtändlich finden. Das Individuelle, das das Schickſal<lb/> jedes Volkes hat, liegt eben in der Kompliziertheit der Kauſalitätsbeziehungen. Nirgends<lb/> wiederholt ſich da ganz dasſelbe Schauſpiel, wie freilich auch kein einziger Baum auf<lb/> Erden ganz das Abbild eines anderen iſt. Wir werden in Bezug auf das Geſamtſchickſal<lb/> der Völker, auch in Bezug auf ihr wirtſchaftliches, niemals zu einer ganz ſicheren Vor-<lb/> ausſagung kommen, weil wir nie die geſamten Urſachen einheitlich überblicken, ſie quan-<lb/> titativ meſſen können.</p><lb/> <p>Aber trotzdem werden wir uns nicht abſchrecken laſſen, immer wieder die Kauſalitäts-<lb/> verhältniſſe ſo genau als möglich zu erfaſſen, um ſo viel als möglich zu verſtehen und<lb/> vorausſagen zu können. Und vieles haben wir ſchon erreicht, noch mehr werden wir<lb/> erreichen. Wir ſtehen erſt am Anfange einer methodiſchen Erkenntnis der Zuſammen-<lb/> hänge. Zu ihr gehört es nun vor allem, daß wir uns für jede volkswirtſchaftliche<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [107/0123]
Weſen von Urſache und Folge. Mechaniſche und pſychiſche Kauſalität.
Wir wiſſen heute, daß die pſychiſche Kauſalität eine andere iſt als die mechaniſche, aber
wir betrachten ſie als eine gleich notwendige. Wenn wir einen Menſchen ganz durch-
ſchauen, wenn wir einen Volkscharakter vollſtändig kennen, ſo deduzieren wir mit voll-
ſtändiger Sicherheit aus ihm. Wir glauben nicht mit den materialiſtiſchen Statiſtikern,
daß ein blindes Schickſal jährlich ſo vielen Menſchen die Piſtole zum Selbſtmord in die
Hand drücke, aber wohl, daß bei der gleichmäßigen Fortdauer beſtimmter moraliſcher
und materieller Zuſtände in der gleichen Zahl von Selbſtmorden und Verbrechen ein
notwendiges Kauſalergebnis liege. Wir finden die Freiheit des ſittlichen Charakters
nicht in der Leugnung der pſychiſchen Kauſalität, ſondern in der Anerkennung der
individuellen Energie als des wichtigſten Faktors unſerer Entſchließungen, in der
Garantie, die der edle, durchgebildete Charakter giebt, nur gut handeln zu können.
Wir finden die Berechtigung der Strafe für den Verbrecher gerade darin, daß die Strafe
nicht bloß die Antwort auf eine einzelne That, ſondern auf eine lange innere Geſchichte
iſt, die bis zum Verbrechen mit Notwendigkeit führt.
Aber wir fragen, wie iſt es möglich, den Menſchen, die Menſchen und alle Menſchen
ſo zu kennen, daß wir Sicheres aus ihrer Pſyche ſchließen können. Die Pſychologie iſt
uns der Schlüſſel zu allen Geiſteswiſſenſchaften und alſo auch zur Nationalökonomie.
Wir wiſſen, daß das Einfachere in ihr ſeit Jahrtauſenden allen Denkern klar iſt, weil
es auf der inneren Wahrnehmung, der ſicherſten Quelle aller Erkenntnis, beruht. Daher
iſt es auch erklärlich, daß das Verſtändnis für gewiſſe elementare pſychologiſche Ver-
urſachungen ſehr alt iſt; und ſo mußte es auch für die Nationalökonomie, die ſich in
der Epoche des Tauſch- und Geldverkehrs ausbildete, nahe liegen, aus dem egoiſtiſchen
Erwerbstrieb deduktiv zahlreiche Sätze abzuleiten; jeder Menſchenkenner und jeder Poli-
tiker wendet jeden Moment weitere derartige generelle pſychologiſche Wahrheiten an, um
deduktiv aus ihnen vieles zu erklären. Aber von einer empiriſchen, wiſſenſchaftlich
vollendeten Pſychologie, von einer ausreichenden pſychologiſchen Völker- und Klaſſenkunde
können wir leider heute doch noch entfernt nicht reden. Und gerade ſie müßten wir an
Stelle der wenigen zu Gemeinplätzen gewordenen pſychologiſchen Wahrheiten, mit denen
wir jetzt haushalten, beſitzen, um beſſeren Boden in der Volkswirtſchafts- und Staats-
lehre unter den Füßen zu haben. Jeder Forſcher, der uns die Induſtrie eines Volkes,
der uns nur die Arbeiter eines Fabrikzweiges vorführt, beginnt mit einer pſychologiſchen
Zeichnung; bei jedem allgemeinen Schluß über die Wirkung einer Inſtitution, einer
Veränderung von Angebot und Nachfrage auf die Entſchließungen der Menſchen handelt
es ſich darum, die pſychologiſchen Zwiſchenglieder der Unterſuchung richtig zu beſtimmen.
Aber die Frage iſt immer, ob und in wie weit man dieſe pſychiſchen Faktoren genau
genug kenne, in ihrer unendlichen Kompliziertheit beherrſche, ob man ihr Zuſammen-
wirken mit den entſprechenden natürlichen Urſachen überhaupt ganz verfolgen könne.
Und es wird kein Zweifel ſein, daß wir in Bezug auf die komplizierteſten Zu-
ſammenhänge in den Geiſteswiſſenſchaften überhaupt die Strenge der Naturwiſſenſchaften
nicht leicht erreichen können. Zumal das wenige, was wir über die entferntere Ver-
gangenheit wiſſen, wird uns nie in den Stand ſetzen, den Gang der Geſchichte als
einen abſolut notwendigen zu verſtehen, wir werden zufrieden ſein, wenn wir ihn nur
im allgemeinen begreiflich und verſtändlich finden. Das Individuelle, das das Schickſal
jedes Volkes hat, liegt eben in der Kompliziertheit der Kauſalitätsbeziehungen. Nirgends
wiederholt ſich da ganz dasſelbe Schauſpiel, wie freilich auch kein einziger Baum auf
Erden ganz das Abbild eines anderen iſt. Wir werden in Bezug auf das Geſamtſchickſal
der Völker, auch in Bezug auf ihr wirtſchaftliches, niemals zu einer ganz ſicheren Vor-
ausſagung kommen, weil wir nie die geſamten Urſachen einheitlich überblicken, ſie quan-
titativ meſſen können.
Aber trotzdem werden wir uns nicht abſchrecken laſſen, immer wieder die Kauſalitäts-
verhältniſſe ſo genau als möglich zu erfaſſen, um ſo viel als möglich zu verſtehen und
vorausſagen zu können. Und vieles haben wir ſchon erreicht, noch mehr werden wir
erreichen. Wir ſtehen erſt am Anfange einer methodiſchen Erkenntnis der Zuſammen-
hänge. Zu ihr gehört es nun vor allem, daß wir uns für jede volkswirtſchaftliche
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