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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Nominal- und Realdefinition. Klassifikation. Wert der Begriffsbildung.
unsicher sein, aber der Kern der Erscheinung, den man in den einzelnen Begriffen zu
fassen sucht, entspricht je einem eigenartigen Typus.

Richtige Begriffe und Klassifikationen sind eines der wichtigsten Hülfsmittel der
Wissenschaft, aber sie machen nicht die Wissenschaft als solche aus, sind nicht die
erste oder einzige Aufgabe derselben. Gute Definitionen könnte man scharfen Klingen
vergleichen; man muß sie immer wieder schärfen, aus neuem Metall neue Klingen
schmieden. Aber an alten Klingen immer nur herum zu hämmern, Klingen zu schmieden,
wo nichts zu schneiden und zu scheiden ist, Worte definieren, die man in der Wissen-
schaft nicht weiter gebraucht, hat wenig Sinn. Zeitweise Begriffsrevision ist nötig, wenn
neuer Erfahrungsstoff sich angesammelt hat und zu ordnen ist, wenn neue große Ge-
danken andere Klassifikationen bedingen. Als die englische Naturlehre der Volkswirtschaft
nach Deutschland übertragen wurde, waren schon wegen der Inkongruenz der deutschen
und englischen Worte scharfe Begriffsuntersuchungen, wie sie Hufeland, Lotz und Hermann
anstellten, wünschenswert. Auch heute wieder haben solche Untersuchungen ihren großen
Wert, und ein so scharfsinniger Gelehrter wie F. J. Neumann (Grundlagen der Volks-
wirtschaftslehre, 1889; Schönbergs Handbuch, Wirtschaftliche Grundbegriffe; Natur-
gesetz und Wirtschaftsgesetz. Z. f. St. 1892), der auch durch ausgezeichnete statistische und
methodologische Arbeiten sich auszeichnet, hat diese Teile unserer Wissenschaft erheblich
gefördert. Aber eine unheilvolle Verirrung ist es, wenn man die Nationalökonomie
für eine Wissenschaft erklärt, welche nur die Funktion weiterer Scheidung der Begriffe
oder des bloßen Schließens aus Axiomen und Begriffen habe. Dieselbe Bedeutung wie
in der Jurisprudenz kann die Begriffsentwickelung in unserer Wissenschaft nie erhalten;
denn jene hat ihren praktischen Hauptzweck in der richtigen Anwendung fest umgrenzter
Rechtsbegriffe, diese hat ihren wesentlichen Zweck in der Erklärung realer Vorgänge;
sie will deren typische Erscheinung beschreiben und kausale Verknüpfung aufhellen.

45. Die typischen Reihen und Formen, ihre Erklärung, die
Ursachen
. Wie es überhaupt keine menschliche Erkenntnis ohne die Wiederholung
des Gleichen oder Ähnlichen gibt, so knüpft auch alle eigentliche volkswirtschaftliche
Theorie an die Erfassung der typischen Vorgänge, der Wiederholung gleicher Einzel-
erscheinungen und Reihen von Erscheinungen, gleicher oder ähnlicher Formen an.

Die typischen Erscheinungen der Haus- und Gemeindewirtschaft, der socialen
Klassen und der Arbeitsteilung fielen der denkenden Betrachtung zuerst in die Augen;
dann der Geldverkehr, die Steuern, die staatliche Wirtschaftspolitik. Es entstand im
17. und 18. Jahrhundert das Bild einer tauschenden Gesellschaft mit Markt und Ver-
kehr, mit Stadt und Land, mit Grundbesitzern, Kapitalisten und Arbeitern. Diese
Grundformen wollte man als notwendige, stets sich einstellende begreifen, sie aus gewissen
Prämissen ableiten, ihre wirkliche Gestaltung im Einzelfalle an einem Ideale messen.
Auch als man begann, die historische und geographische Verschiedenheit der volkswirt-
schaftlichen Gestaltungen ins Auge zu fassen, richtete man sein Augenmerk zunächst auf
das im Wechsel sich Gleichbleibende, auf den typischen Rhythmus der Änderungen, auf
die regelmäßige Koexistenz gewisser Formen und Erscheinungen. Und als es der Statistik
gelungen war, neben die qualitative die quantitative Beobachtung der gesellschaftlichen
und volkswirtschaftlichen Verhältnisse zu stellen, war die typische Regelmäßigkeit der
Zahlenergebnisse von Jahr zu Jahr, wie von Land zu Land ebenfalls das, was zuerst
ins Auge fiel. Auch die Veränderungen, die man beobachten konnte, wiesen teilweise auf
einen typischen Gang hin, der bei verschiedenen Völkern in verschiedenen Epochen sich
gleichmäßig wiederholt, wie z. B. die Übervölkerung. Es lag der erste große Fortschritt
der Wissenschaft in dieser Erfassung qualitativer Formen und quantitativer Maßbestimmung
derselben; für einen erheblichen Teil unseres volkswirtschaftlichen Wissens sind wir heute
noch nicht weiter. Die Vorstellung solch' schematischer Formenbilder und Reihen ist
schon an sich ein Element der Ordnung der Vorstellungen, ein heuristisches Hülfsmittel,
Vergangenheit und Zukunft zu verstehen.

Aber natürlich weisen solche Typen und Reihen, solche Formen und Regelmäßig-
keiten auf eine tiefere Erklärung hin. Und so sehr man von Anfang an in ihnen die

Nominal- und Realdefinition. Klaſſifikation. Wert der Begriffsbildung.
unſicher ſein, aber der Kern der Erſcheinung, den man in den einzelnen Begriffen zu
faſſen ſucht, entſpricht je einem eigenartigen Typus.

Richtige Begriffe und Klaſſifikationen ſind eines der wichtigſten Hülfsmittel der
Wiſſenſchaft, aber ſie machen nicht die Wiſſenſchaft als ſolche aus, ſind nicht die
erſte oder einzige Aufgabe derſelben. Gute Definitionen könnte man ſcharfen Klingen
vergleichen; man muß ſie immer wieder ſchärfen, aus neuem Metall neue Klingen
ſchmieden. Aber an alten Klingen immer nur herum zu hämmern, Klingen zu ſchmieden,
wo nichts zu ſchneiden und zu ſcheiden iſt, Worte definieren, die man in der Wiſſen-
ſchaft nicht weiter gebraucht, hat wenig Sinn. Zeitweiſe Begriffsreviſion iſt nötig, wenn
neuer Erfahrungsſtoff ſich angeſammelt hat und zu ordnen iſt, wenn neue große Ge-
danken andere Klaſſifikationen bedingen. Als die engliſche Naturlehre der Volkswirtſchaft
nach Deutſchland übertragen wurde, waren ſchon wegen der Inkongruenz der deutſchen
und engliſchen Worte ſcharfe Begriffsunterſuchungen, wie ſie Hufeland, Lotz und Hermann
anſtellten, wünſchenswert. Auch heute wieder haben ſolche Unterſuchungen ihren großen
Wert, und ein ſo ſcharfſinniger Gelehrter wie F. J. Neumann (Grundlagen der Volks-
wirtſchaftslehre, 1889; Schönbergs Handbuch, Wirtſchaftliche Grundbegriffe; Natur-
geſetz und Wirtſchaftsgeſetz. Z. f. St. 1892), der auch durch ausgezeichnete ſtatiſtiſche und
methodologiſche Arbeiten ſich auszeichnet, hat dieſe Teile unſerer Wiſſenſchaft erheblich
gefördert. Aber eine unheilvolle Verirrung iſt es, wenn man die Nationalökonomie
für eine Wiſſenſchaft erklärt, welche nur die Funktion weiterer Scheidung der Begriffe
oder des bloßen Schließens aus Axiomen und Begriffen habe. Dieſelbe Bedeutung wie
in der Jurisprudenz kann die Begriffsentwickelung in unſerer Wiſſenſchaft nie erhalten;
denn jene hat ihren praktiſchen Hauptzweck in der richtigen Anwendung feſt umgrenzter
Rechtsbegriffe, dieſe hat ihren weſentlichen Zweck in der Erklärung realer Vorgänge;
ſie will deren typiſche Erſcheinung beſchreiben und kauſale Verknüpfung aufhellen.

45. Die typiſchen Reihen und Formen, ihre Erklärung, die
Urſachen
. Wie es überhaupt keine menſchliche Erkenntnis ohne die Wiederholung
des Gleichen oder Ähnlichen gibt, ſo knüpft auch alle eigentliche volkswirtſchaftliche
Theorie an die Erfaſſung der typiſchen Vorgänge, der Wiederholung gleicher Einzel-
erſcheinungen und Reihen von Erſcheinungen, gleicher oder ähnlicher Formen an.

Die typiſchen Erſcheinungen der Haus- und Gemeindewirtſchaft, der ſocialen
Klaſſen und der Arbeitsteilung fielen der denkenden Betrachtung zuerſt in die Augen;
dann der Geldverkehr, die Steuern, die ſtaatliche Wirtſchaftspolitik. Es entſtand im
17. und 18. Jahrhundert das Bild einer tauſchenden Geſellſchaft mit Markt und Ver-
kehr, mit Stadt und Land, mit Grundbeſitzern, Kapitaliſten und Arbeitern. Dieſe
Grundformen wollte man als notwendige, ſtets ſich einſtellende begreifen, ſie aus gewiſſen
Prämiſſen ableiten, ihre wirkliche Geſtaltung im Einzelfalle an einem Ideale meſſen.
Auch als man begann, die hiſtoriſche und geographiſche Verſchiedenheit der volkswirt-
ſchaftlichen Geſtaltungen ins Auge zu faſſen, richtete man ſein Augenmerk zunächſt auf
das im Wechſel ſich Gleichbleibende, auf den typiſchen Rhythmus der Änderungen, auf
die regelmäßige Koexiſtenz gewiſſer Formen und Erſcheinungen. Und als es der Statiſtik
gelungen war, neben die qualitative die quantitative Beobachtung der geſellſchaftlichen
und volkswirtſchaftlichen Verhältniſſe zu ſtellen, war die typiſche Regelmäßigkeit der
Zahlenergebniſſe von Jahr zu Jahr, wie von Land zu Land ebenfalls das, was zuerſt
ins Auge fiel. Auch die Veränderungen, die man beobachten konnte, wieſen teilweiſe auf
einen typiſchen Gang hin, der bei verſchiedenen Völkern in verſchiedenen Epochen ſich
gleichmäßig wiederholt, wie z. B. die Übervölkerung. Es lag der erſte große Fortſchritt
der Wiſſenſchaft in dieſer Erfaſſung qualitativer Formen und quantitativer Maßbeſtimmung
derſelben; für einen erheblichen Teil unſeres volkswirtſchaftlichen Wiſſens ſind wir heute
noch nicht weiter. Die Vorſtellung ſolch’ ſchematiſcher Formenbilder und Reihen iſt
ſchon an ſich ein Element der Ordnung der Vorſtellungen, ein heuriſtiſches Hülfsmittel,
Vergangenheit und Zukunft zu verſtehen.

Aber natürlich weiſen ſolche Typen und Reihen, ſolche Formen und Regelmäßig-
keiten auf eine tiefere Erklärung hin. Und ſo ſehr man von Anfang an in ihnen die

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[105/0121] Nominal- und Realdefinition. Klaſſifikation. Wert der Begriffsbildung. unſicher ſein, aber der Kern der Erſcheinung, den man in den einzelnen Begriffen zu faſſen ſucht, entſpricht je einem eigenartigen Typus. Richtige Begriffe und Klaſſifikationen ſind eines der wichtigſten Hülfsmittel der Wiſſenſchaft, aber ſie machen nicht die Wiſſenſchaft als ſolche aus, ſind nicht die erſte oder einzige Aufgabe derſelben. Gute Definitionen könnte man ſcharfen Klingen vergleichen; man muß ſie immer wieder ſchärfen, aus neuem Metall neue Klingen ſchmieden. Aber an alten Klingen immer nur herum zu hämmern, Klingen zu ſchmieden, wo nichts zu ſchneiden und zu ſcheiden iſt, Worte definieren, die man in der Wiſſen- ſchaft nicht weiter gebraucht, hat wenig Sinn. Zeitweiſe Begriffsreviſion iſt nötig, wenn neuer Erfahrungsſtoff ſich angeſammelt hat und zu ordnen iſt, wenn neue große Ge- danken andere Klaſſifikationen bedingen. Als die engliſche Naturlehre der Volkswirtſchaft nach Deutſchland übertragen wurde, waren ſchon wegen der Inkongruenz der deutſchen und engliſchen Worte ſcharfe Begriffsunterſuchungen, wie ſie Hufeland, Lotz und Hermann anſtellten, wünſchenswert. Auch heute wieder haben ſolche Unterſuchungen ihren großen Wert, und ein ſo ſcharfſinniger Gelehrter wie F. J. Neumann (Grundlagen der Volks- wirtſchaftslehre, 1889; Schönbergs Handbuch, Wirtſchaftliche Grundbegriffe; Natur- geſetz und Wirtſchaftsgeſetz. Z. f. St. 1892), der auch durch ausgezeichnete ſtatiſtiſche und methodologiſche Arbeiten ſich auszeichnet, hat dieſe Teile unſerer Wiſſenſchaft erheblich gefördert. Aber eine unheilvolle Verirrung iſt es, wenn man die Nationalökonomie für eine Wiſſenſchaft erklärt, welche nur die Funktion weiterer Scheidung der Begriffe oder des bloßen Schließens aus Axiomen und Begriffen habe. Dieſelbe Bedeutung wie in der Jurisprudenz kann die Begriffsentwickelung in unſerer Wiſſenſchaft nie erhalten; denn jene hat ihren praktiſchen Hauptzweck in der richtigen Anwendung feſt umgrenzter Rechtsbegriffe, dieſe hat ihren weſentlichen Zweck in der Erklärung realer Vorgänge; ſie will deren typiſche Erſcheinung beſchreiben und kauſale Verknüpfung aufhellen. 45. Die typiſchen Reihen und Formen, ihre Erklärung, die Urſachen. Wie es überhaupt keine menſchliche Erkenntnis ohne die Wiederholung des Gleichen oder Ähnlichen gibt, ſo knüpft auch alle eigentliche volkswirtſchaftliche Theorie an die Erfaſſung der typiſchen Vorgänge, der Wiederholung gleicher Einzel- erſcheinungen und Reihen von Erſcheinungen, gleicher oder ähnlicher Formen an. Die typiſchen Erſcheinungen der Haus- und Gemeindewirtſchaft, der ſocialen Klaſſen und der Arbeitsteilung fielen der denkenden Betrachtung zuerſt in die Augen; dann der Geldverkehr, die Steuern, die ſtaatliche Wirtſchaftspolitik. Es entſtand im 17. und 18. Jahrhundert das Bild einer tauſchenden Geſellſchaft mit Markt und Ver- kehr, mit Stadt und Land, mit Grundbeſitzern, Kapitaliſten und Arbeitern. Dieſe Grundformen wollte man als notwendige, ſtets ſich einſtellende begreifen, ſie aus gewiſſen Prämiſſen ableiten, ihre wirkliche Geſtaltung im Einzelfalle an einem Ideale meſſen. Auch als man begann, die hiſtoriſche und geographiſche Verſchiedenheit der volkswirt- ſchaftlichen Geſtaltungen ins Auge zu faſſen, richtete man ſein Augenmerk zunächſt auf das im Wechſel ſich Gleichbleibende, auf den typiſchen Rhythmus der Änderungen, auf die regelmäßige Koexiſtenz gewiſſer Formen und Erſcheinungen. Und als es der Statiſtik gelungen war, neben die qualitative die quantitative Beobachtung der geſellſchaftlichen und volkswirtſchaftlichen Verhältniſſe zu ſtellen, war die typiſche Regelmäßigkeit der Zahlenergebniſſe von Jahr zu Jahr, wie von Land zu Land ebenfalls das, was zuerſt ins Auge fiel. Auch die Veränderungen, die man beobachten konnte, wieſen teilweiſe auf einen typiſchen Gang hin, der bei verſchiedenen Völkern in verſchiedenen Epochen ſich gleichmäßig wiederholt, wie z. B. die Übervölkerung. Es lag der erſte große Fortſchritt der Wiſſenſchaft in dieſer Erfaſſung qualitativer Formen und quantitativer Maßbeſtimmung derſelben; für einen erheblichen Teil unſeres volkswirtſchaftlichen Wiſſens ſind wir heute noch nicht weiter. Die Vorſtellung ſolch’ ſchematiſcher Formenbilder und Reihen iſt ſchon an ſich ein Element der Ordnung der Vorſtellungen, ein heuriſtiſches Hülfsmittel, Vergangenheit und Zukunft zu verſtehen. Aber natürlich weiſen ſolche Typen und Reihen, ſolche Formen und Regelmäßig- keiten auf eine tiefere Erklärung hin. Und ſo ſehr man von Anfang an in ihnen die

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/121>, abgerufen am 09.11.2024.