Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.Einleitung. Begriff. Psychologische und sittliche Grundlage. Litteratur und Methode. ausschließlich eines von verschiedenen Merkmalen, so kommt die Gefahr, daß jedem fürseine wissenschaftlichen Zwecke ein anderes Merkmal als das wichtigste erscheint. Daher fast stets verschiedene Definitionen möglich sind, die nicht durch ihre Richtigkeit, sondern durch ihre Zweckmäßigkeit für bestimmte wissenschaftliche Zwecke sich unterscheiden. Die Gefahr wächst, je allgemeiner und abstrakter die Begriffe sind. Wie die Rechtswissen- schaft, welche für die einzelnen konkreten Rechtsinstitute das vollendetste Begriffssystem hat, für ihre allgemeinen Begriffe Recht, Staat etc. noch in keiner Weise zu allgemein anerkannten Begriffen kommen konnte, so ist es begreiflich, daß auch die Volkswirtschaft ein ähnliches Schicksal teilt; jeder fast definiert ihre allgemeinsten Begriffe, wie Wirt- schaft oder Arbeit, wieder in anderer Weise. Das hat nun nicht so sehr viel zu sagen für denjenigen, welcher nur Nominal- Deshalb enthält jede Begriffsbildung zugleich eine Klassifikation der Erscheinungen, Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode. ausſchließlich eines von verſchiedenen Merkmalen, ſo kommt die Gefahr, daß jedem fürſeine wiſſenſchaftlichen Zwecke ein anderes Merkmal als das wichtigſte erſcheint. Daher faſt ſtets verſchiedene Definitionen möglich ſind, die nicht durch ihre Richtigkeit, ſondern durch ihre Zweckmäßigkeit für beſtimmte wiſſenſchaftliche Zwecke ſich unterſcheiden. Die Gefahr wächſt, je allgemeiner und abſtrakter die Begriffe ſind. Wie die Rechtswiſſen- ſchaft, welche für die einzelnen konkreten Rechtsinſtitute das vollendetſte Begriffsſyſtem hat, für ihre allgemeinen Begriffe Recht, Staat ꝛc. noch in keiner Weiſe zu allgemein anerkannten Begriffen kommen konnte, ſo iſt es begreiflich, daß auch die Volkswirtſchaft ein ähnliches Schickſal teilt; jeder faſt definiert ihre allgemeinſten Begriffe, wie Wirt- ſchaft oder Arbeit, wieder in anderer Weiſe. Das hat nun nicht ſo ſehr viel zu ſagen für denjenigen, welcher nur Nominal- Deshalb enthält jede Begriffsbildung zugleich eine Klaſſifikation der Erſcheinungen, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0120" n="104"/><fw place="top" type="header">Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.</fw><lb/> ausſchließlich eines von verſchiedenen Merkmalen, ſo kommt die Gefahr, daß jedem für<lb/> ſeine wiſſenſchaftlichen Zwecke ein anderes Merkmal als das wichtigſte erſcheint. Daher<lb/> faſt ſtets verſchiedene Definitionen möglich ſind, die nicht durch ihre Richtigkeit, ſondern<lb/> durch ihre Zweckmäßigkeit für beſtimmte wiſſenſchaftliche Zwecke ſich unterſcheiden. Die<lb/> Gefahr wächſt, je allgemeiner und abſtrakter die Begriffe ſind. Wie die Rechtswiſſen-<lb/> ſchaft, welche für die einzelnen konkreten Rechtsinſtitute das vollendetſte Begriffsſyſtem<lb/> hat, für ihre allgemeinen Begriffe Recht, Staat ꝛc. noch in keiner Weiſe zu allgemein<lb/> anerkannten Begriffen kommen konnte, ſo iſt es begreiflich, daß auch die Volkswirtſchaft<lb/> ein ähnliches Schickſal teilt; jeder faſt definiert ihre allgemeinſten Begriffe, wie Wirt-<lb/> ſchaft oder Arbeit, wieder in anderer Weiſe.</p><lb/> <p>Das hat nun nicht ſo ſehr viel zu ſagen für denjenigen, welcher nur Nominal-<lb/> definitionen, d. h. Urteile über den Sprachgebrauch geben will, dieſen treu bleibt, mit<lb/> ihnen vom gewöhnlichen Gebrauche ſich nicht allzuweit entfernt. Von ganz anderer Be-<lb/> deutung wird es für die, welche Realdefinitionen, d. h. Urteile über das Weſen der<lb/> Sache abgeben wollen. Der Realdefinition in ihrer älteren, von den Alten wie von Hegel<lb/> und Lorenz Stein gebrauchten Bedeutung liegt die unhaltbare Vorſtellung zu Grunde,<lb/> die Worte und Begriffe enthielten, gleichſam wie in einem vollendeten Spiegel, das<lb/> erſchöpfende Abbild der Welt in ſich. In Wirklichkeit beruhen die Worte oft auf einem<lb/> unklaren oder falſchen Vorſtellungsinhalt, jedenfalls ſtets auf einem von dem geiſtigen<lb/> Horizont der Gebraucher abhängigen. Daraus erklärt es ſich, daß die genialſten, mit<lb/> dem reichſten Vorſtellungsinhalt ausgeſtatteten Menſchen beim Gebrauch der Worte, vor<lb/> allem der allgemeinen Begriffe, ſich am meiſten denken können und dementſprechend aus<lb/> dem Begriff, d. h. aus ihrem verhältnismäßig reichen Vorſtellungsinhalt, mehr entwickeln<lb/> können. Es iſt ferner richtig, daß, je weiter eine Wiſſenſchaft bereits iſt, ſie deſto mehr<lb/> die von ihr gewonnenen Wahrheiten und Kauſalzuſammenhänge in die Definition<lb/> ihrer oberſten Begriffe hineinverlegen kann; denn dieſe gehören zu den weſentlichſten<lb/> Merkmalen, zu den für das Wort weſentlichſten Vorſtellungen. Für die gewöhnlichen<lb/> Menſchen aber gehören die allgemeinſten Begriffe zu den leerſten; und es iſt daher die<lb/> Meinung, daß mit dem rechten Begriffe der Wirtſchaft oder der Arbeit, mit der Aus-<lb/> einanderlegung dieſes Begriffes das Weſen der Volkswirtſchaft gegeben ſei, eine außer-<lb/> ordentlich gefährliche und irreführende. Sie verbindet ſich überdies häufig mit der<lb/> ſchiefen myſtiſchen Vorſtellung eines einheitlichen Begriffsſchematismus, der rein logiſch<lb/> eine Erſcheinung aus der anderen ohne Zuhülfenahme der Erfahrung entſtehen laſſen könne.<lb/> Nur das iſt richtig, daß alle Begriffe innerlich zuſammenhängen, weil wir jedes Wort<lb/> wieder mit anderen definieren, weil die Abgrenzung des einen Wortes immer zugleich<lb/> die der Nachbarbegriffe einſchließt.</p><lb/> <p>Deshalb enthält jede Begriffsbildung zugleich eine Klaſſifikation der Erſcheinungen,<lb/> die um ſo bedeutungsvoller wird, wenn man eine Summe in Zuſammenhang ſtehender<lb/> Erſcheinungen nach einem beſtimmten Geſichtspunkte oder Syſteme ſo einteilen will, daß<lb/> die einzelnen Klaſſen gleiche Glieder einer Reihe bilden und die Geſamtheit planvoll<lb/> erſchöpfen. Hier wird eine Anordnung und Verteilung erſtrebt, um eine Gruppe von<lb/> Erſcheinungen in unſerem Geiſte am beſten zu ordnen; es handelt ſich um einen Kunſt-<lb/> griff, welchen die Gewalt über unſer Wiſſen mehren ſoll, um eine höchſt wichtige wiſſen-<lb/> ſchaftliche Thätigkeit, die nur auf Grund genaueſter Kenntnis alles einzelnen und auf<lb/> Grund eines Überblickes über das Ganze, über alle Urſachen und Folgen gut aus-<lb/> zuführen iſt. Da dieſe Vorausſetzung aber nicht leicht vollſtändig zutrifft, ſo ver-<lb/> fährt auch die klaſſifikatoriſche Begriffsbildung hypothetiſch und proviſoriſch und iſt<lb/> immer wieder neuer Verbeſſerungen fähig. Unter den Klaſſifikationen kann man die<lb/> analytiſchen und genetiſchen unterſcheiden. Wenn A. Wagner die geſamten volkswirt-<lb/> ſchaftlichen Erſcheinungen in ein privatwirtſchaftliches, gemeinwirtſchaftliches und karita-<lb/> tives Syſtem einteilt, ſo iſt das eine analytiſche; wenn Hildebrand Natural-, Geld-<lb/> und Kreditwirtſchaft trennt, wenn ich ſelbſt Dorf-, Stadt-, Territorial-, Volkswirtſchaft<lb/> als hiſtoriſche Reihenfolge aufſtellte, ſo ſind das genetiſche, die hiſtoriſche Entwickelung<lb/> andeutende Klaſſifikationen. Die Grenzen bei ſolcher Reihenbildung werden ſtets etwas<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [104/0120]
Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
ausſchließlich eines von verſchiedenen Merkmalen, ſo kommt die Gefahr, daß jedem für
ſeine wiſſenſchaftlichen Zwecke ein anderes Merkmal als das wichtigſte erſcheint. Daher
faſt ſtets verſchiedene Definitionen möglich ſind, die nicht durch ihre Richtigkeit, ſondern
durch ihre Zweckmäßigkeit für beſtimmte wiſſenſchaftliche Zwecke ſich unterſcheiden. Die
Gefahr wächſt, je allgemeiner und abſtrakter die Begriffe ſind. Wie die Rechtswiſſen-
ſchaft, welche für die einzelnen konkreten Rechtsinſtitute das vollendetſte Begriffsſyſtem
hat, für ihre allgemeinen Begriffe Recht, Staat ꝛc. noch in keiner Weiſe zu allgemein
anerkannten Begriffen kommen konnte, ſo iſt es begreiflich, daß auch die Volkswirtſchaft
ein ähnliches Schickſal teilt; jeder faſt definiert ihre allgemeinſten Begriffe, wie Wirt-
ſchaft oder Arbeit, wieder in anderer Weiſe.
Das hat nun nicht ſo ſehr viel zu ſagen für denjenigen, welcher nur Nominal-
definitionen, d. h. Urteile über den Sprachgebrauch geben will, dieſen treu bleibt, mit
ihnen vom gewöhnlichen Gebrauche ſich nicht allzuweit entfernt. Von ganz anderer Be-
deutung wird es für die, welche Realdefinitionen, d. h. Urteile über das Weſen der
Sache abgeben wollen. Der Realdefinition in ihrer älteren, von den Alten wie von Hegel
und Lorenz Stein gebrauchten Bedeutung liegt die unhaltbare Vorſtellung zu Grunde,
die Worte und Begriffe enthielten, gleichſam wie in einem vollendeten Spiegel, das
erſchöpfende Abbild der Welt in ſich. In Wirklichkeit beruhen die Worte oft auf einem
unklaren oder falſchen Vorſtellungsinhalt, jedenfalls ſtets auf einem von dem geiſtigen
Horizont der Gebraucher abhängigen. Daraus erklärt es ſich, daß die genialſten, mit
dem reichſten Vorſtellungsinhalt ausgeſtatteten Menſchen beim Gebrauch der Worte, vor
allem der allgemeinen Begriffe, ſich am meiſten denken können und dementſprechend aus
dem Begriff, d. h. aus ihrem verhältnismäßig reichen Vorſtellungsinhalt, mehr entwickeln
können. Es iſt ferner richtig, daß, je weiter eine Wiſſenſchaft bereits iſt, ſie deſto mehr
die von ihr gewonnenen Wahrheiten und Kauſalzuſammenhänge in die Definition
ihrer oberſten Begriffe hineinverlegen kann; denn dieſe gehören zu den weſentlichſten
Merkmalen, zu den für das Wort weſentlichſten Vorſtellungen. Für die gewöhnlichen
Menſchen aber gehören die allgemeinſten Begriffe zu den leerſten; und es iſt daher die
Meinung, daß mit dem rechten Begriffe der Wirtſchaft oder der Arbeit, mit der Aus-
einanderlegung dieſes Begriffes das Weſen der Volkswirtſchaft gegeben ſei, eine außer-
ordentlich gefährliche und irreführende. Sie verbindet ſich überdies häufig mit der
ſchiefen myſtiſchen Vorſtellung eines einheitlichen Begriffsſchematismus, der rein logiſch
eine Erſcheinung aus der anderen ohne Zuhülfenahme der Erfahrung entſtehen laſſen könne.
Nur das iſt richtig, daß alle Begriffe innerlich zuſammenhängen, weil wir jedes Wort
wieder mit anderen definieren, weil die Abgrenzung des einen Wortes immer zugleich
die der Nachbarbegriffe einſchließt.
Deshalb enthält jede Begriffsbildung zugleich eine Klaſſifikation der Erſcheinungen,
die um ſo bedeutungsvoller wird, wenn man eine Summe in Zuſammenhang ſtehender
Erſcheinungen nach einem beſtimmten Geſichtspunkte oder Syſteme ſo einteilen will, daß
die einzelnen Klaſſen gleiche Glieder einer Reihe bilden und die Geſamtheit planvoll
erſchöpfen. Hier wird eine Anordnung und Verteilung erſtrebt, um eine Gruppe von
Erſcheinungen in unſerem Geiſte am beſten zu ordnen; es handelt ſich um einen Kunſt-
griff, welchen die Gewalt über unſer Wiſſen mehren ſoll, um eine höchſt wichtige wiſſen-
ſchaftliche Thätigkeit, die nur auf Grund genaueſter Kenntnis alles einzelnen und auf
Grund eines Überblickes über das Ganze, über alle Urſachen und Folgen gut aus-
zuführen iſt. Da dieſe Vorausſetzung aber nicht leicht vollſtändig zutrifft, ſo ver-
fährt auch die klaſſifikatoriſche Begriffsbildung hypothetiſch und proviſoriſch und iſt
immer wieder neuer Verbeſſerungen fähig. Unter den Klaſſifikationen kann man die
analytiſchen und genetiſchen unterſcheiden. Wenn A. Wagner die geſamten volkswirt-
ſchaftlichen Erſcheinungen in ein privatwirtſchaftliches, gemeinwirtſchaftliches und karita-
tives Syſtem einteilt, ſo iſt das eine analytiſche; wenn Hildebrand Natural-, Geld-
und Kreditwirtſchaft trennt, wenn ich ſelbſt Dorf-, Stadt-, Territorial-, Volkswirtſchaft
als hiſtoriſche Reihenfolge aufſtellte, ſo ſind das genetiſche, die hiſtoriſche Entwickelung
andeutende Klaſſifikationen. Die Grenzen bei ſolcher Reihenbildung werden ſtets etwas
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