Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.Die individualistischen Tendenzen; die Physiokraten. liche Preisbestimmungen, gegen staatliche Zinsfußbeschränkungen; er sieht ein, daß derZinsfuß von der Geld- beziehungsweise Kapitalmenge abhänge, er sucht in der Arbeit die Ursache des Wertes und wird durch sein individualistisches Naturrecht, durch seine aus- schließliche Betonung von Freiheit und Eigentum "der Vater des modernen Liberalismus". Die Sorge für Ausbildung größerer Staaten und guter wirtschaftlicher Polizei Francois Quesnay (1694--1774, Hauptschriften 1756--58; OEuvres ed. A. Oncken, Im Anschluß an Quesnay und seine Schüler hat dann Turgot, ein Mann der Die individualiſtiſchen Tendenzen; die Phyſiokraten. liche Preisbeſtimmungen, gegen ſtaatliche Zinsfußbeſchränkungen; er ſieht ein, daß derZinsfuß von der Geld- beziehungsweiſe Kapitalmenge abhänge, er ſucht in der Arbeit die Urſache des Wertes und wird durch ſein individualiſtiſches Naturrecht, durch ſeine aus- ſchließliche Betonung von Freiheit und Eigentum „der Vater des modernen Liberalismus“. Die Sorge für Ausbildung größerer Staaten und guter wirtſchaftlicher Polizei François Quesnay (1694—1774, Hauptſchriften 1756—58; Œuvres ed. A. Oncken, Im Anſchluß an Quesnay und ſeine Schüler hat dann Turgot, ein Mann der <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0105" n="89"/><fw place="top" type="header">Die individualiſtiſchen Tendenzen; die Phyſiokraten.</fw><lb/> liche Preisbeſtimmungen, gegen ſtaatliche Zinsfußbeſchränkungen; er ſieht ein, daß der<lb/> Zinsfuß von der Geld- beziehungsweiſe Kapitalmenge abhänge, er ſucht in der Arbeit die<lb/> Urſache des Wertes und wird durch ſein individualiſtiſches Naturrecht, durch ſeine aus-<lb/> ſchließliche Betonung von Freiheit und Eigentum „der Vater des modernen Liberalismus“.</p><lb/> <p>Die Sorge für Ausbildung größerer Staaten und guter wirtſchaftlicher Polizei<lb/> lag nunmehr hinter der Generation, welche von 1750 an die Bühne betrat. Sie<lb/> betrachtete das Erreichte als ſelbſtverſtändlich, fühlte ſich gedrückt durch den träge<lb/> werdenden Polizeiſtaat und die von ihm noch nicht beſeitigten feudalen Geſellſchafts-<lb/> einrichtungen. Nach freier Bewegung des Individuums lechzend, konnte auf dieſem<lb/> Boden nun die Naturlehre der individualiſtiſchen Volkswirtſchaft entſtehen. Die Phyſio-<lb/> kraten in Frankreich, Hume und Adam Smith in England ſind die Begründer derſelben.<lb/> Es waren die erſten rein theoretiſchen und äußerlich vom Naturrecht, von den<lb/> übrigen Staatswiſſenſchaften losgelöſten volkswirtſchaftlichen Syſteme. Innerlich ſind<lb/> ſie freilich ganz abhängig von der damals vorherrſchenden Anſchauung eines Natur-<lb/> zuſtandes, aus dem durch Staatsvertrag die bürgerliche Geſellſchaft entſtanden ſei; die<lb/> Verfaſſer glauben als Theiſten an eine harmoniſche Einrichtung der Welt und der Ge-<lb/> ſellſchaft, an das Überwiegen guter, geſelliger Triebe, die, ſich ſelbſt überlaſſen, das<lb/> Richtige finden; die natürliche und die ſittliche Ordnung der Dinge fällt für ſie<lb/> zuſammen; Rückkehr zur Natur, Waltenlaſſen der Natur iſt ihnen das höchſte Ideal;<lb/> die meiſten beſtehenden volkswirtſchaftlichen Einrichtungen erſcheinen ihnen als künſtliche<lb/> und verkehrte Abweichungen von der Naturordnung, die ſie wiederherſtellen wollen.<lb/> Dabei unterſcheidet ſich freilich die etwas ältere franzöſiſche Schule doch noch weſentlich<lb/> von der engliſchen.</p><lb/> <p>Fran<hi rendition="#aq">ç</hi>ois Quesnay (1694—1774, Hauptſchriften 1756—58; <hi rendition="#aq">Œuvres ed.</hi> A. Oncken,<lb/> 1888) war Arzt und Naturforſcher, Autodidakt und Ideologe, ſchwärmte für Naturleben<lb/> und Landwirtſchaft, glaubte die Quadratur des Cirkels gefunden zu haben; er war wie<lb/> ſeine Schüler ein treuer Anhänger des abſoluten Königtums, dem er freilich einen ganz<lb/> anderen Charakter geben wollte; dasſelbe ſollte eine Geſetzgebung und Verwaltung ent-<lb/> ſprechend der vernünftigen Naturordnung durchführen, die durch Fron und Steuern<lb/> überlaſteten Bauern erleichtern, in erſter Linie perſönliche Freiheit und freies Eigentum<lb/> gewährleiſten, freien Verkehr und Handel durchführen. Aus der Vorſtellung, daß phyſiſch<lb/> alle Menſchen von den Produkten des Landbaues leben, aus der Beobachtung, daß<lb/> Grundherren und große Pächter erhebliche Überſchüſſe für andere Zwecke haben, und<lb/> aus der privatwirtſchaftlichen Unterſuchung des landwirtſchaftlichen Roh- und Reinertrages<lb/> folgerte er, daß alle übrigen Klaſſen der Geſellſchaft ſtets nur in ihren Einnahmen erſetzt<lb/> erhielten, was ſie verbrauchten, alſo ſteril ſeien, der Landbau allein einen disponibeln<lb/> Überſchuß gebe, alſo produktiv ſei; da alle Steuern auf dieſen Überſchuß zuletzt fallen,<lb/> ſoll lieber gleich eine einzige gerechte Grundſteuer alle anderen erſetzen. Alle bisherige<lb/> Politik war ihm eine falſche Beförderung der Induſtrie, der Städte, des Luxus. Vor<lb/> allem erſchien ihm die Hemmung der Getreideausfuhr in Frankreich falſch; höhere<lb/> Getreidepreiſe ſollen durch die Ausfuhrfreiheit geſchaffen werden. Die von Hume bereits<lb/> bekämpfte Handelsbilanztheorie iſt ihm eine Thorheit, „denn“, ſagt er, „ein gerechter<lb/> und guter Gott hat gewollt, daß der Handel immer nur die Frucht eines offenbar<lb/> gegenſeitigen Handelsvorteils ſei“. In dem ſogenannten <hi rendition="#aq">tableau économique</hi> werden die<lb/> wirtſchaftlichen Klaſſen Frankreichs, ihr Einkommen und die Cirkulation der wirtſchaftlichen<lb/> Güter in einem willkürlichen Zahlenbeiſpiele dargeſtellt mit der faſt kindlichen Hoffnung,<lb/> damit eine arithmetiſch-geometriſche, feſte Methode in die Wiſſenſchaft eingeführt zu haben.<lb/> Es bezeichnet den überſpannten Sektenglauben, daß der ältere Mirabeau als Haupt-<lb/> ſchüler dieſe wunderliche Tafel mit ihren Zahlen, Strichen und Zickzackfiguren für die<lb/> dritte große Erfindung der Menſchheit — nach Schrift und Geld — bezeichnete.</p><lb/> <p>Im Anſchluß an Quesnay und ſeine Schüler hat dann Turgot, ein Mann der<lb/> allgemeinſten philoſophiſchen Bildung, mit Eleganz und Klarheit <hi rendition="#aq">(Réflexions sur la<lb/> formation et la distribution des richesses, 1766)</hi> das Bild einer Tauſchgeſellſchaft ohne<lb/> die extremen phyſiokratiſchen Schrullen entwickelt. Tauſch, Verſchiedenheit der Menſchen<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [89/0105]
Die individualiſtiſchen Tendenzen; die Phyſiokraten.
liche Preisbeſtimmungen, gegen ſtaatliche Zinsfußbeſchränkungen; er ſieht ein, daß der
Zinsfuß von der Geld- beziehungsweiſe Kapitalmenge abhänge, er ſucht in der Arbeit die
Urſache des Wertes und wird durch ſein individualiſtiſches Naturrecht, durch ſeine aus-
ſchließliche Betonung von Freiheit und Eigentum „der Vater des modernen Liberalismus“.
Die Sorge für Ausbildung größerer Staaten und guter wirtſchaftlicher Polizei
lag nunmehr hinter der Generation, welche von 1750 an die Bühne betrat. Sie
betrachtete das Erreichte als ſelbſtverſtändlich, fühlte ſich gedrückt durch den träge
werdenden Polizeiſtaat und die von ihm noch nicht beſeitigten feudalen Geſellſchafts-
einrichtungen. Nach freier Bewegung des Individuums lechzend, konnte auf dieſem
Boden nun die Naturlehre der individualiſtiſchen Volkswirtſchaft entſtehen. Die Phyſio-
kraten in Frankreich, Hume und Adam Smith in England ſind die Begründer derſelben.
Es waren die erſten rein theoretiſchen und äußerlich vom Naturrecht, von den
übrigen Staatswiſſenſchaften losgelöſten volkswirtſchaftlichen Syſteme. Innerlich ſind
ſie freilich ganz abhängig von der damals vorherrſchenden Anſchauung eines Natur-
zuſtandes, aus dem durch Staatsvertrag die bürgerliche Geſellſchaft entſtanden ſei; die
Verfaſſer glauben als Theiſten an eine harmoniſche Einrichtung der Welt und der Ge-
ſellſchaft, an das Überwiegen guter, geſelliger Triebe, die, ſich ſelbſt überlaſſen, das
Richtige finden; die natürliche und die ſittliche Ordnung der Dinge fällt für ſie
zuſammen; Rückkehr zur Natur, Waltenlaſſen der Natur iſt ihnen das höchſte Ideal;
die meiſten beſtehenden volkswirtſchaftlichen Einrichtungen erſcheinen ihnen als künſtliche
und verkehrte Abweichungen von der Naturordnung, die ſie wiederherſtellen wollen.
Dabei unterſcheidet ſich freilich die etwas ältere franzöſiſche Schule doch noch weſentlich
von der engliſchen.
François Quesnay (1694—1774, Hauptſchriften 1756—58; Œuvres ed. A. Oncken,
1888) war Arzt und Naturforſcher, Autodidakt und Ideologe, ſchwärmte für Naturleben
und Landwirtſchaft, glaubte die Quadratur des Cirkels gefunden zu haben; er war wie
ſeine Schüler ein treuer Anhänger des abſoluten Königtums, dem er freilich einen ganz
anderen Charakter geben wollte; dasſelbe ſollte eine Geſetzgebung und Verwaltung ent-
ſprechend der vernünftigen Naturordnung durchführen, die durch Fron und Steuern
überlaſteten Bauern erleichtern, in erſter Linie perſönliche Freiheit und freies Eigentum
gewährleiſten, freien Verkehr und Handel durchführen. Aus der Vorſtellung, daß phyſiſch
alle Menſchen von den Produkten des Landbaues leben, aus der Beobachtung, daß
Grundherren und große Pächter erhebliche Überſchüſſe für andere Zwecke haben, und
aus der privatwirtſchaftlichen Unterſuchung des landwirtſchaftlichen Roh- und Reinertrages
folgerte er, daß alle übrigen Klaſſen der Geſellſchaft ſtets nur in ihren Einnahmen erſetzt
erhielten, was ſie verbrauchten, alſo ſteril ſeien, der Landbau allein einen disponibeln
Überſchuß gebe, alſo produktiv ſei; da alle Steuern auf dieſen Überſchuß zuletzt fallen,
ſoll lieber gleich eine einzige gerechte Grundſteuer alle anderen erſetzen. Alle bisherige
Politik war ihm eine falſche Beförderung der Induſtrie, der Städte, des Luxus. Vor
allem erſchien ihm die Hemmung der Getreideausfuhr in Frankreich falſch; höhere
Getreidepreiſe ſollen durch die Ausfuhrfreiheit geſchaffen werden. Die von Hume bereits
bekämpfte Handelsbilanztheorie iſt ihm eine Thorheit, „denn“, ſagt er, „ein gerechter
und guter Gott hat gewollt, daß der Handel immer nur die Frucht eines offenbar
gegenſeitigen Handelsvorteils ſei“. In dem ſogenannten tableau économique werden die
wirtſchaftlichen Klaſſen Frankreichs, ihr Einkommen und die Cirkulation der wirtſchaftlichen
Güter in einem willkürlichen Zahlenbeiſpiele dargeſtellt mit der faſt kindlichen Hoffnung,
damit eine arithmetiſch-geometriſche, feſte Methode in die Wiſſenſchaft eingeführt zu haben.
Es bezeichnet den überſpannten Sektenglauben, daß der ältere Mirabeau als Haupt-
ſchüler dieſe wunderliche Tafel mit ihren Zahlen, Strichen und Zickzackfiguren für die
dritte große Erfindung der Menſchheit — nach Schrift und Geld — bezeichnete.
Im Anſchluß an Quesnay und ſeine Schüler hat dann Turgot, ein Mann der
allgemeinſten philoſophiſchen Bildung, mit Eleganz und Klarheit (Réflexions sur la
formation et la distribution des richesses, 1766) das Bild einer Tauſchgeſellſchaft ohne
die extremen phyſiokratiſchen Schrullen entwickelt. Tauſch, Verſchiedenheit der Menſchen
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