ganze Sammlung als verdächtig erscheinen, und jede einzelne Schrift sich anders als dadurch, daß sie in der Sammlung steht, rechtfertigen muß. Im Alterthum finden wir fast überall in den operibus omnibus falsche Werke. Auf der anderen Seite aber entstehen oft Zweifel, die näher betrachtet keinen Grund haben. Dieser unsichere Gang der Kritik fordert eine bestimmte Regel. Dem Bisherigen zu Folge kann man feststellen, daß eine Samm- lung, sobald notorisch ist, daß sie nicht von dem Verfasser selbst ist, keine Authentie hat; ferner, daß, wenn sie noch zur Zeit seiner Zeitgenossen gemacht ist, diese den Verfasser in dem Grade vertreten, als der Sammlung öffentliche Aufmerksamkeit geschenkt worden ist; endlich daß, wenn sie später gemacht ist, sie gar keine ursprüngliche Sicherheit und nur in sofern Auctorität hat, als wir dem Sammler richtiges Urtheil und die relative Unmög- lichkeit sich zu irren zuschreiben können. Auf die Weise erscheint die Präsumtion, daß ein Werk des Alterthums dem wirklich zu- gehört, dem es zugeschrieben wird, sehr verringert.
Wenn ein Werk aus älterer Zeit einem Schriftsteller zuge- schrieben wird, so ist freilich zunächst das Auge bestochen und da- mit auch das Urtheil eben durch den der Schrift oder Sammlung vorgesezten Namen. Von dieser Bestechung muß man sich im Lesen der Schrift zu befreien suchen. Eben so aber kann auch ein schon vorhandener Verdacht mein Urtheil bestechen. So ent- steht ein zweifaches Verfahren, zwei einander entgegengesezte, gleich einseitige Maximen. Die Anhänger der einen werden von den Andern die Auctoritätsgläubigen genannt, welche alles festhalten was überliefert ist und so vieles wirklich Verdächtige übergehen. Die entgegengesezten sind die Hyperkritischen, von denen die An- dern sagen, daß sie, weil sie nur darauf ausgehen, Verdachts- gründe zu finden, alles ruhige und einfache Studium aufheben. Es ist eben so schwer, dieser Duplicität auszuweichen, als ein Mittleres zwischen beiden Richtungen aufzustellen. Allerdings hat der Gegensaz sein Nachtheiliges, denn so lange Streit ist auf die- sem Gebiet, kann die hermeneutische Operation nicht ruhig fort-
ganze Sammlung als verdaͤchtig erſcheinen, und jede einzelne Schrift ſich anders als dadurch, daß ſie in der Sammlung ſteht, rechtfertigen muß. Im Alterthum finden wir faſt uͤberall in den operibus omnibus falſche Werke. Auf der anderen Seite aber entſtehen oft Zweifel, die naͤher betrachtet keinen Grund haben. Dieſer unſichere Gang der Kritik fordert eine beſtimmte Regel. Dem Bisherigen zu Folge kann man feſtſtellen, daß eine Samm- lung, ſobald notoriſch iſt, daß ſie nicht von dem Verfaſſer ſelbſt iſt, keine Authentie hat; ferner, daß, wenn ſie noch zur Zeit ſeiner Zeitgenoſſen gemacht iſt, dieſe den Verfaſſer in dem Grade vertreten, als der Sammlung oͤffentliche Aufmerkſamkeit geſchenkt worden iſt; endlich daß, wenn ſie ſpaͤter gemacht iſt, ſie gar keine urſpruͤngliche Sicherheit und nur in ſofern Auctoritaͤt hat, als wir dem Sammler richtiges Urtheil und die relative Unmoͤg- lichkeit ſich zu irren zuſchreiben koͤnnen. Auf die Weiſe erſcheint die Praͤſumtion, daß ein Werk des Alterthums dem wirklich zu- gehoͤrt, dem es zugeſchrieben wird, ſehr verringert.
Wenn ein Werk aus aͤlterer Zeit einem Schriftſteller zuge- ſchrieben wird, ſo iſt freilich zunaͤchſt das Auge beſtochen und da- mit auch das Urtheil eben durch den der Schrift oder Sammlung vorgeſezten Namen. Von dieſer Beſtechung muß man ſich im Leſen der Schrift zu befreien ſuchen. Eben ſo aber kann auch ein ſchon vorhandener Verdacht mein Urtheil beſtechen. So ent- ſteht ein zweifaches Verfahren, zwei einander entgegengeſezte, gleich einſeitige Maximen. Die Anhaͤnger der einen werden von den Andern die Auctoritaͤtsglaͤubigen genannt, welche alles feſthalten was uͤberliefert iſt und ſo vieles wirklich Verdaͤchtige uͤbergehen. Die entgegengeſezten ſind die Hyperkritiſchen, von denen die An- dern ſagen, daß ſie, weil ſie nur darauf ausgehen, Verdachts- gruͤnde zu finden, alles ruhige und einfache Studium aufheben. Es iſt eben ſo ſchwer, dieſer Duplicitaͤt auszuweichen, als ein Mittleres zwiſchen beiden Richtungen aufzuſtellen. Allerdings hat der Gegenſaz ſein Nachtheiliges, denn ſo lange Streit iſt auf die- ſem Gebiet, kann die hermeneutiſche Operation nicht ruhig fort-
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ganze Sammlung als verdaͤchtig erſcheinen, und jede einzelne
Schrift ſich anders als dadurch, daß ſie in der Sammlung ſteht,
rechtfertigen muß. Im Alterthum finden wir faſt uͤberall in den
operibus omnibus falſche Werke. Auf der anderen Seite aber
entſtehen oft Zweifel, die naͤher betrachtet keinen Grund haben.
Dieſer unſichere Gang der Kritik fordert eine beſtimmte Regel.
Dem Bisherigen zu Folge kann man feſtſtellen, daß eine Samm-
lung, ſobald notoriſch iſt, daß ſie nicht von dem Verfaſſer ſelbſt
iſt, keine Authentie hat; ferner, daß, wenn ſie noch zur Zeit
ſeiner Zeitgenoſſen gemacht iſt, dieſe den Verfaſſer in dem Grade
vertreten, als der Sammlung oͤffentliche Aufmerkſamkeit geſchenkt
worden iſt; endlich daß, wenn ſie ſpaͤter gemacht iſt, ſie gar
keine urſpruͤngliche Sicherheit und nur in ſofern Auctoritaͤt hat,
als wir dem Sammler richtiges Urtheil und die relative Unmoͤg-
lichkeit ſich zu irren zuſchreiben koͤnnen. Auf die Weiſe erſcheint
die Praͤſumtion, daß ein Werk des Alterthums dem wirklich zu-
gehoͤrt, dem es zugeſchrieben wird, ſehr verringert.
Wenn ein Werk aus aͤlterer Zeit einem Schriftſteller zuge-
ſchrieben wird, ſo iſt freilich zunaͤchſt das Auge beſtochen und da-
mit auch das Urtheil eben durch den der Schrift oder Sammlung
vorgeſezten Namen. Von dieſer Beſtechung muß man ſich im
Leſen der Schrift zu befreien ſuchen. Eben ſo aber kann auch
ein ſchon vorhandener Verdacht mein Urtheil beſtechen. So ent-
ſteht ein zweifaches Verfahren, zwei einander entgegengeſezte, gleich
einſeitige Maximen. Die Anhaͤnger der einen werden von den
Andern die Auctoritaͤtsglaͤubigen genannt, welche alles feſthalten
was uͤberliefert iſt und ſo vieles wirklich Verdaͤchtige uͤbergehen.
Die entgegengeſezten ſind die Hyperkritiſchen, von denen die An-
dern ſagen, daß ſie, weil ſie nur darauf ausgehen, Verdachts-
gruͤnde zu finden, alles ruhige und einfache Studium aufheben.
Es iſt eben ſo ſchwer, dieſer Duplicitaͤt auszuweichen, als ein
Mittleres zwiſchen beiden Richtungen aufzuſtellen. Allerdings hat
der Gegenſaz ſein Nachtheiliges, denn ſo lange Streit iſt auf die-
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 364. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/388>, abgerufen am 22.12.2024.
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