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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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schreiten. Es fragt sich aber, ob das ganze Verfahren nur in
Beziehung auf die hermeneutische Operation zu betrachten ist,
oder ob es für sich selbst Werth hat? Geht man von der Be-
ziehung auf die hermeneutische Operation aus, so folgt, daß man
den kritischen Streit nicht führen dürfe über Dinge, welche für
die hermeneutische Operation keinen Werth haben, und sodann,
daß man die hermeneutische Lösung nicht eher aufhalten dürfe,
als bis die Verdachtsgründe einen gewissen Grad von Bestimmt-
heit erreicht haben. Dadurch wird allerdings das kritische Ver-
fahren zurückgedrängt und auf eine spätere Zeit verwiesen. Da-
gegen aber erhebt sich wiederum das allgemeine philologische In-
teresse. Denn wenn eine Schrift hermeneutisch auch noch so un-
bedeutend ist, so ist sie doch, wenn der bestimmte Kreis und die
Zeit, der sie angehört, nachgewiesen ist, eben für diesen Kreis
und diese Zeit ein Sprachdokument. Kann das freilich nicht nach-
gewiesen werden, so ist auch das philologische Interesse null.
Man sieht aber, wie verschieden sich das Interesse abstuft, wenn
man von dem allgemeinen philologischen Standpunkt ausgeht.
So giebt es in der Sammlung der Platonischen Werke mehrere,
von denen wahrscheinlich gemacht worden ist, daß sie nicht Pla-
tonisch sind, aber doch der unmittelbaren Schule des Sokrates
angehören. An und für sich verliert für den allgemeinen philolo-
gischen Standpunkt die Frage dadurch an Interesse, weil jene
Werke doch in das Gebiet des Atticismus jener Zeit gehören.
In dieser Hinsicht ist ihr Werth nur mit geringer Differenz be-
stimmt. Wir können wol sagen, Platon war ein ganz anderer
Virtuos in Beziehung auf die Sprache, als jeder andere Sokra-
tische Schüler. Allein dieß würde sich doch mehr auf den Styl,
als auf die Sprache beziehen. Hingegen für den, der mit der
Geschichte der Philosophie zu thun hat, wird die Frage auch so
von Wichtigkeit sein. Er erkennt darin eine besondere Lehre, die
neben der Platonischen aus der Sokratischen Schule hervorge-
gangen ist. So stuft sich das Interesse verschieden ab, je nach-
dem sich der Gesichtspunkt stellt.

ſchreiten. Es fragt ſich aber, ob das ganze Verfahren nur in
Beziehung auf die hermeneutiſche Operation zu betrachten iſt,
oder ob es fuͤr ſich ſelbſt Werth hat? Geht man von der Be-
ziehung auf die hermeneutiſche Operation aus, ſo folgt, daß man
den kritiſchen Streit nicht fuͤhren duͤrfe uͤber Dinge, welche fuͤr
die hermeneutiſche Operation keinen Werth haben, und ſodann,
daß man die hermeneutiſche Loͤſung nicht eher aufhalten duͤrfe,
als bis die Verdachtsgruͤnde einen gewiſſen Grad von Beſtimmt-
heit erreicht haben. Dadurch wird allerdings das kritiſche Ver-
fahren zuruͤckgedraͤngt und auf eine ſpaͤtere Zeit verwieſen. Da-
gegen aber erhebt ſich wiederum das allgemeine philologiſche In-
tereſſe. Denn wenn eine Schrift hermeneutiſch auch noch ſo un-
bedeutend iſt, ſo iſt ſie doch, wenn der beſtimmte Kreis und die
Zeit, der ſie angehoͤrt, nachgewieſen iſt, eben fuͤr dieſen Kreis
und dieſe Zeit ein Sprachdokument. Kann das freilich nicht nach-
gewieſen werden, ſo iſt auch das philologiſche Intereſſe null.
Man ſieht aber, wie verſchieden ſich das Intereſſe abſtuft, wenn
man von dem allgemeinen philologiſchen Standpunkt ausgeht.
So giebt es in der Sammlung der Platoniſchen Werke mehrere,
von denen wahrſcheinlich gemacht worden iſt, daß ſie nicht Pla-
toniſch ſind, aber doch der unmittelbaren Schule des Sokrates
angehoͤren. An und fuͤr ſich verliert fuͤr den allgemeinen philolo-
giſchen Standpunkt die Frage dadurch an Intereſſe, weil jene
Werke doch in das Gebiet des Atticismus jener Zeit gehoͤren.
In dieſer Hinſicht iſt ihr Werth nur mit geringer Differenz be-
ſtimmt. Wir koͤnnen wol ſagen, Platon war ein ganz anderer
Virtuos in Beziehung auf die Sprache, als jeder andere Sokra-
tiſche Schuͤler. Allein dieß wuͤrde ſich doch mehr auf den Styl,
als auf die Sprache beziehen. Hingegen fuͤr den, der mit der
Geſchichte der Philoſophie zu thun hat, wird die Frage auch ſo
von Wichtigkeit ſein. Er erkennt darin eine beſondere Lehre, die
neben der Platoniſchen aus der Sokratiſchen Schule hervorge-
gangen iſt. So ſtuft ſich das Intereſſe verſchieden ab, je nach-
dem ſich der Geſichtspunkt ſtellt.

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[365/0389] ſchreiten. Es fragt ſich aber, ob das ganze Verfahren nur in Beziehung auf die hermeneutiſche Operation zu betrachten iſt, oder ob es fuͤr ſich ſelbſt Werth hat? Geht man von der Be- ziehung auf die hermeneutiſche Operation aus, ſo folgt, daß man den kritiſchen Streit nicht fuͤhren duͤrfe uͤber Dinge, welche fuͤr die hermeneutiſche Operation keinen Werth haben, und ſodann, daß man die hermeneutiſche Loͤſung nicht eher aufhalten duͤrfe, als bis die Verdachtsgruͤnde einen gewiſſen Grad von Beſtimmt- heit erreicht haben. Dadurch wird allerdings das kritiſche Ver- fahren zuruͤckgedraͤngt und auf eine ſpaͤtere Zeit verwieſen. Da- gegen aber erhebt ſich wiederum das allgemeine philologiſche In- tereſſe. Denn wenn eine Schrift hermeneutiſch auch noch ſo un- bedeutend iſt, ſo iſt ſie doch, wenn der beſtimmte Kreis und die Zeit, der ſie angehoͤrt, nachgewieſen iſt, eben fuͤr dieſen Kreis und dieſe Zeit ein Sprachdokument. Kann das freilich nicht nach- gewieſen werden, ſo iſt auch das philologiſche Intereſſe null. Man ſieht aber, wie verſchieden ſich das Intereſſe abſtuft, wenn man von dem allgemeinen philologiſchen Standpunkt ausgeht. So giebt es in der Sammlung der Platoniſchen Werke mehrere, von denen wahrſcheinlich gemacht worden iſt, daß ſie nicht Pla- toniſch ſind, aber doch der unmittelbaren Schule des Sokrates angehoͤren. An und fuͤr ſich verliert fuͤr den allgemeinen philolo- giſchen Standpunkt die Frage dadurch an Intereſſe, weil jene Werke doch in das Gebiet des Atticismus jener Zeit gehoͤren. In dieſer Hinſicht iſt ihr Werth nur mit geringer Differenz be- ſtimmt. Wir koͤnnen wol ſagen, Platon war ein ganz anderer Virtuos in Beziehung auf die Sprache, als jeder andere Sokra- tiſche Schuͤler. Allein dieß wuͤrde ſich doch mehr auf den Styl, als auf die Sprache beziehen. Hingegen fuͤr den, der mit der Geſchichte der Philoſophie zu thun hat, wird die Frage auch ſo von Wichtigkeit ſein. Er erkennt darin eine beſondere Lehre, die neben der Platoniſchen aus der Sokratiſchen Schule hervorge- gangen iſt. So ſtuft ſich das Intereſſe verſchieden ab, je nach- dem ſich der Geſichtspunkt ſtellt.

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 365. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/389>, abgerufen am 22.12.2024.