ebenfalls gehemmt in der Voraussezung, in der ich bisher gelesen habe. Wie im vorigen Falle angenommen werden mußte, daß der Verfasser von der fraglichen Thatsache durchaus keine Notiz haben konnte, so muß ich auch hier annehmen, der Verfasser habe in seinem ganzen Leben nie so gedacht. Darin liegt eine Be- schränkung des Falles. Denn es giebt wenig Gegenstände, wor- über der Mensch nicht seine Meinung änderte. Aber der Fall ist ganz derselbe, wie bei dem Historischen, nur daß hier die Be- hauptung des Widerspruchs schwieriger ist, nicht bloß weil innere Gedankenverhältnisse schwerer nachzuweisen sind als äußere That- sachen, sondern auch weil die Interpretation der Gedanken an sich schwerer ist. Kann ich mir denken, daß eine solche Stelle Zusaz ist, so ist's damit, wie im obigen Falle; je mehr solcher verdächtigen Stellen vorkommen, desto wahrscheinlicher wird, daß sie ursprünglich zur Schrift gehören und diese unächt ist.
Dieß sind die wesentlichen Anwendungen der allgemeinen Formel auf den beiden Hauptgebieten der Interpretation.
Dasselbe kann nun eintreten in Beziehung auf die Sprache mit analoger Duplicität.
Kommt ein Wort vor, welches wo und wann der Verfasser schrieb, nicht in Gebrauch war, das Wort ist aber diplomatisch sicher, und nicht aus einer mechanischen Irrung entstanden, so ist das ein schlagendes Moment gegen die Ächtheit der Schrift. Allein eben der vollständige Beweis daß das Wort in jener Zeit nicht vorkommen könne, ist sehr schwierig. Der andere Fall wäre der, daß Ausdrücke, Wendungen vorkommen, welche zwar nicht außerhalb des Sprachgebiets des Verfassers liegen, aber außerhalb seiner Eigenthümlichkeit. Wenn dann dafür in seinen übrigen Schriften keine Analogie zu finden ist, vielmehr zahlreiche dage- gen, so daß man für dieselben Begriffe solenne andere Ausdrücke findet, so kann eine einzige Stelle genügen zur Begründung des Verdachts. Allein dazu gehört eine sehr ins Einzelne und Indi- viduelle gehende vollständige Sprachkenntniß. Hier läßt sich nun der Gang in solcher Untersuchung genauer bezeichnen. Es kann
ebenfalls gehemmt in der Vorausſezung, in der ich bisher geleſen habe. Wie im vorigen Falle angenommen werden mußte, daß der Verfaſſer von der fraglichen Thatſache durchaus keine Notiz haben konnte, ſo muß ich auch hier annehmen, der Verfaſſer habe in ſeinem ganzen Leben nie ſo gedacht. Darin liegt eine Be- ſchraͤnkung des Falles. Denn es giebt wenig Gegenſtaͤnde, wor- uͤber der Menſch nicht ſeine Meinung aͤnderte. Aber der Fall iſt ganz derſelbe, wie bei dem Hiſtoriſchen, nur daß hier die Be- hauptung des Widerſpruchs ſchwieriger iſt, nicht bloß weil innere Gedankenverhaͤltniſſe ſchwerer nachzuweiſen ſind als aͤußere That- ſachen, ſondern auch weil die Interpretation der Gedanken an ſich ſchwerer iſt. Kann ich mir denken, daß eine ſolche Stelle Zuſaz iſt, ſo iſt's damit, wie im obigen Falle; je mehr ſolcher verdaͤchtigen Stellen vorkommen, deſto wahrſcheinlicher wird, daß ſie urſpruͤnglich zur Schrift gehoͤren und dieſe unaͤcht iſt.
Dieß ſind die weſentlichen Anwendungen der allgemeinen Formel auf den beiden Hauptgebieten der Interpretation.
Daſſelbe kann nun eintreten in Beziehung auf die Sprache mit analoger Duplicitaͤt.
Kommt ein Wort vor, welches wo und wann der Verfaſſer ſchrieb, nicht in Gebrauch war, das Wort iſt aber diplomatiſch ſicher, und nicht aus einer mechaniſchen Irrung entſtanden, ſo iſt das ein ſchlagendes Moment gegen die Ächtheit der Schrift. Allein eben der vollſtaͤndige Beweis daß das Wort in jener Zeit nicht vorkommen koͤnne, iſt ſehr ſchwierig. Der andere Fall waͤre der, daß Ausdruͤcke, Wendungen vorkommen, welche zwar nicht außerhalb des Sprachgebiets des Verfaſſers liegen, aber außerhalb ſeiner Eigenthuͤmlichkeit. Wenn dann dafuͤr in ſeinen uͤbrigen Schriften keine Analogie zu finden iſt, vielmehr zahlreiche dage- gen, ſo daß man fuͤr dieſelben Begriffe ſolenne andere Ausdruͤcke findet, ſo kann eine einzige Stelle genuͤgen zur Begruͤndung des Verdachts. Allein dazu gehoͤrt eine ſehr ins Einzelne und Indi- viduelle gehende vollſtaͤndige Sprachkenntniß. Hier laͤßt ſich nun der Gang in ſolcher Unterſuchung genauer bezeichnen. Es kann
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ebenfalls gehemmt in der Vorausſezung, in der ich bisher geleſen
habe. Wie im vorigen Falle angenommen werden mußte, daß
der Verfaſſer von der fraglichen Thatſache durchaus keine Notiz
haben konnte, ſo muß ich auch hier annehmen, der Verfaſſer habe
in ſeinem ganzen Leben nie ſo gedacht. Darin liegt eine Be-
ſchraͤnkung des Falles. Denn es giebt wenig Gegenſtaͤnde, wor-
uͤber der Menſch nicht ſeine Meinung aͤnderte. Aber der Fall iſt
ganz derſelbe, wie bei dem Hiſtoriſchen, nur daß hier die Be-
hauptung des Widerſpruchs ſchwieriger iſt, nicht bloß weil innere
Gedankenverhaͤltniſſe ſchwerer nachzuweiſen ſind als aͤußere That-
ſachen, ſondern auch weil die Interpretation der Gedanken an
ſich ſchwerer iſt. Kann ich mir denken, daß eine ſolche Stelle
Zuſaz iſt, ſo iſt's damit, wie im obigen Falle; je mehr ſolcher
verdaͤchtigen Stellen vorkommen, deſto wahrſcheinlicher wird, daß
ſie urſpruͤnglich zur Schrift gehoͤren und dieſe unaͤcht iſt.
Dieß ſind die weſentlichen Anwendungen der allgemeinen
Formel auf den beiden Hauptgebieten der Interpretation.
Daſſelbe kann nun eintreten in Beziehung auf die Sprache
mit analoger Duplicitaͤt.
Kommt ein Wort vor, welches wo und wann der Verfaſſer
ſchrieb, nicht in Gebrauch war, das Wort iſt aber diplomatiſch
ſicher, und nicht aus einer mechaniſchen Irrung entſtanden, ſo
iſt das ein ſchlagendes Moment gegen die Ächtheit der Schrift.
Allein eben der vollſtaͤndige Beweis daß das Wort in jener Zeit
nicht vorkommen koͤnne, iſt ſehr ſchwierig. Der andere Fall waͤre
der, daß Ausdruͤcke, Wendungen vorkommen, welche zwar nicht
außerhalb des Sprachgebiets des Verfaſſers liegen, aber außerhalb
ſeiner Eigenthuͤmlichkeit. Wenn dann dafuͤr in ſeinen uͤbrigen
Schriften keine Analogie zu finden iſt, vielmehr zahlreiche dage-
gen, ſo daß man fuͤr dieſelben Begriffe ſolenne andere Ausdruͤcke
findet, ſo kann eine einzige Stelle genuͤgen zur Begruͤndung des
Verdachts. Allein dazu gehoͤrt eine ſehr ins Einzelne und Indi-
viduelle gehende vollſtaͤndige Sprachkenntniß. Hier laͤßt ſich nun
der Gang in ſolcher Unterſuchung genauer bezeichnen. Es kann
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 361. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/385>, abgerufen am 22.12.2024.
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