der Schrift, wofern jene Unmöglichkeit wirklich da ist, und diese ist da, wenn die Stelle wirklich der Schrift angehört. So ent- steht also die Frage, ob die Stelle der Schrift ursprünglich an- gehört, oder ein Zusaz von anderwärts her. Wenn diplomatisch gar nichts diesen Zweifel bestätigt, so ist noch denkbar, daß die Stelle in den Text gekommen sei vor allen den Abschrif- ten die wir haben. Wird dieß wahrscheinlich, so verliert die Stelle alle ihre Beweiskraft. Hier kommen wir auf einen Punkt, wo wir die Richtigkeit eines gewissen kritischen Verfah- rens beurtheilen können. Man sagt oft, es gebe Fälle, wo je- der einzelne Verdachtsgrund nichts beweise, aber mehrere zusam- men einen vollen Beweis geben. Diese Regel billigt wol jeder mit seinem Gefühl, unterwirft man sie aber dem Calcul, so scheint sie falsch. Indessen gehen wir von unsrer Position aus, so rechtfertigt sie sich doch. Wir haben gesagt, die Beweiskraft einer Zweifel erregenden Stelle werde in dem Grade geschwächt, nicht aufgehoben, in welchem die Wahrscheinlichkeit entsteht, daß sie späterer Zusaz sei. Denke ich mir aber sechs solcher Stellen, so sind das eben so viel Gründe, und jeder von ihnen wäre allein hinreichend, wenn nicht jedem inwohnte, was eine entgegenge- sezte Möglichkeit giebt. Es fragt sich also, was ist überwiegend wahrscheinlicher, die Wiederholung solcher beweisenden Stellen, oder die Interpolation derselben? Offenbar nimmt die Wahr- scheinlichkeit der Interpolation in dem Grade ab, in welchem viele falsche Stellen vorkommen. Denn dazu würde eine Gedan- kenlosigkeit gehören, die gar nicht sehr wahrscheinlich ist. Unter solchen Verhältnissen hat also jene Regel ihre vollkommene Rich- tigkeit.
Der bezeichnete Fall ist hergenommen aus dem Gebiet der historischen Interpretation. Dazu gehört als Apparat die mög- lichst genaue Kenntniß der Lebensverhältnisse des Verfassers. Ähn- liches aber bietet die psychologische Interpretation dar. Wenn ich in einer Schrift auf einen Gedanken stoße, der mit der Denk- weise ihres Verfassers nicht übereinstimmt, so werde ich dadurch
der Schrift, wofern jene Unmoͤglichkeit wirklich da iſt, und dieſe iſt da, wenn die Stelle wirklich der Schrift angehoͤrt. So ent- ſteht alſo die Frage, ob die Stelle der Schrift urſpruͤnglich an- gehoͤrt, oder ein Zuſaz von anderwaͤrts her. Wenn diplomatiſch gar nichts dieſen Zweifel beſtaͤtigt, ſo iſt noch denkbar, daß die Stelle in den Text gekommen ſei vor allen den Abſchrif- ten die wir haben. Wird dieß wahrſcheinlich, ſo verliert die Stelle alle ihre Beweiskraft. Hier kommen wir auf einen Punkt, wo wir die Richtigkeit eines gewiſſen kritiſchen Verfah- rens beurtheilen koͤnnen. Man ſagt oft, es gebe Faͤlle, wo je- der einzelne Verdachtsgrund nichts beweiſe, aber mehrere zuſam- men einen vollen Beweis geben. Dieſe Regel billigt wol jeder mit ſeinem Gefuͤhl, unterwirft man ſie aber dem Calcul, ſo ſcheint ſie falſch. Indeſſen gehen wir von unſrer Poſition aus, ſo rechtfertigt ſie ſich doch. Wir haben geſagt, die Beweiskraft einer Zweifel erregenden Stelle werde in dem Grade geſchwaͤcht, nicht aufgehoben, in welchem die Wahrſcheinlichkeit entſteht, daß ſie ſpaͤterer Zuſaz ſei. Denke ich mir aber ſechs ſolcher Stellen, ſo ſind das eben ſo viel Gruͤnde, und jeder von ihnen waͤre allein hinreichend, wenn nicht jedem inwohnte, was eine entgegenge- ſezte Moͤglichkeit giebt. Es fragt ſich alſo, was iſt uͤberwiegend wahrſcheinlicher, die Wiederholung ſolcher beweiſenden Stellen, oder die Interpolation derſelben? Offenbar nimmt die Wahr- ſcheinlichkeit der Interpolation in dem Grade ab, in welchem viele falſche Stellen vorkommen. Denn dazu wuͤrde eine Gedan- kenloſigkeit gehoͤren, die gar nicht ſehr wahrſcheinlich iſt. Unter ſolchen Verhaͤltniſſen hat alſo jene Regel ihre vollkommene Rich- tigkeit.
Der bezeichnete Fall iſt hergenommen aus dem Gebiet der hiſtoriſchen Interpretation. Dazu gehoͤrt als Apparat die moͤg- lichſt genaue Kenntniß der Lebensverhaͤltniſſe des Verfaſſers. Ähn- liches aber bietet die pſychologiſche Interpretation dar. Wenn ich in einer Schrift auf einen Gedanken ſtoße, der mit der Denk- weiſe ihres Verfaſſers nicht uͤbereinſtimmt, ſo werde ich dadurch
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der Schrift, wofern jene Unmoͤglichkeit wirklich da iſt, und dieſe
iſt da, wenn die Stelle wirklich der Schrift angehoͤrt. So ent-
ſteht alſo die Frage, ob die Stelle der Schrift urſpruͤnglich an-
gehoͤrt, oder ein Zuſaz von anderwaͤrts her. Wenn diplomatiſch
gar nichts dieſen Zweifel beſtaͤtigt, ſo iſt noch denkbar, daß
die Stelle in den Text gekommen ſei vor allen den Abſchrif-
ten die wir haben. Wird dieß wahrſcheinlich, ſo verliert die
Stelle alle ihre Beweiskraft. Hier kommen wir auf einen
Punkt, wo wir die Richtigkeit eines gewiſſen kritiſchen Verfah-
rens beurtheilen koͤnnen. Man ſagt oft, es gebe Faͤlle, wo je-
der einzelne Verdachtsgrund nichts beweiſe, aber mehrere zuſam-
men einen vollen Beweis geben. Dieſe Regel billigt wol jeder
mit ſeinem Gefuͤhl, unterwirft man ſie aber dem Calcul, ſo
ſcheint ſie falſch. Indeſſen gehen wir von unſrer Poſition aus,
ſo rechtfertigt ſie ſich doch. Wir haben geſagt, die Beweiskraft
einer Zweifel erregenden Stelle werde in dem Grade geſchwaͤcht,
nicht aufgehoben, in welchem die Wahrſcheinlichkeit entſteht, daß
ſie ſpaͤterer Zuſaz ſei. Denke ich mir aber ſechs ſolcher Stellen,
ſo ſind das eben ſo viel Gruͤnde, und jeder von ihnen waͤre allein
hinreichend, wenn nicht jedem inwohnte, was eine entgegenge-
ſezte Moͤglichkeit giebt. Es fragt ſich alſo, was iſt uͤberwiegend
wahrſcheinlicher, die Wiederholung ſolcher beweiſenden Stellen,
oder die Interpolation derſelben? Offenbar nimmt die Wahr-
ſcheinlichkeit der Interpolation in dem Grade ab, in welchem
viele falſche Stellen vorkommen. Denn dazu wuͤrde eine Gedan-
kenloſigkeit gehoͤren, die gar nicht ſehr wahrſcheinlich iſt. Unter
ſolchen Verhaͤltniſſen hat alſo jene Regel ihre vollkommene Rich-
tigkeit.
Der bezeichnete Fall iſt hergenommen aus dem Gebiet der
hiſtoriſchen Interpretation. Dazu gehoͤrt als Apparat die moͤg-
lichſt genaue Kenntniß der Lebensverhaͤltniſſe des Verfaſſers. Ähn-
liches aber bietet die pſychologiſche Interpretation dar. Wenn
ich in einer Schrift auf einen Gedanken ſtoße, der mit der Denk-
weiſe ihres Verfaſſers nicht uͤbereinſtimmt, ſo werde ich dadurch
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 360. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/384>, abgerufen am 22.12.2024.
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