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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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solche anerkenne, befrage, unter sich einig sind. Um zu entschei-
den, muß jeder Principien der Entscheidung für sich selbst haben.
Worauf ist nun da zu sehen? Es kommen hier zwei Punkte in
Betracht. Der erste ist, daß man wissen muß, ob das kritische
Urtheil das Eine oder Andere durch andere Rücksichten, z. B. Par-
theyansichten, benachtheiligt ist oder nicht. Also man muß die
Principien der verschiedenen Kritik kennen. Ist dieß beseitigt, so
fragt sich ferner, welchem Kritiker soll man am meisten vertrauen?
Da ist also eigenes Urtheil über den Werth der kritischen Arbei-
ten etwas Unerläßliches. Dieß ist unmöglich ohne Kenntniß ihrer
Principien. Wer aber darüber urtheilen will, muß selbst wieder
die Principien der Kritik im Großen und Ganzen kennen. Zu
dem Ende muß sich jeder Theolog schon vorher um das Kritische
bekümmert haben, nicht erst an der Stelle, wo die hermeneutische
Operation es erfordert. Darnach hat er zu beurtheilen, worin
er dem einzelnen Kritiker zu trauen hat und worin nicht. Um
dieß methodisch zu treiben, mache man sich eine Classification der
Auctoritäten, denen man folgt. Das Wesentliche dabei wäre Folgendes.

Bei der Lesung des N. T. zur Lösung der hermeneutischen
Aufgabe ist das Nächste die Hülfe der Commentatoren. Die Com-
mentare sind zwar eigentlich exegetischer Art, aber sie kommen
immer in den Fall, die verschiedenen Lesearten zu beurtheilen.
Hat man nun einen Commentar, von dem man glaubt, daß man
sich auf sein kritisches Urtheil verlassen kann, so hat man nicht
nöthig, die kritische Operation selbst zu machen, aber die Grund-
säze seines kritischen Verfahrens muß man kennen und ihn da-
nach beurtheilen und classificiren. Sagt ein Commentator, ich
halte mich ganz an Griesbach, so hat er eben gar kein eigenes
Urtheil. Beruft er sich aber bald auf diese, bald auf jene kriti-
sche Auctorität, oder er entscheidet für sich selbst ohne Auctorität,
so hat er in beiden Fällen ein eigenes Urtheil, ist kritisch, und
ich muß wissen, welchen Principien er folgt. So haben wir also
eine Classe, die sich selbst als Kritiker darstellenden Commentato-
ren. Die zweite Classe ist dann die der eigentlichen kritischen Her-


ſolche anerkenne, befrage, unter ſich einig ſind. Um zu entſchei-
den, muß jeder Principien der Entſcheidung fuͤr ſich ſelbſt haben.
Worauf iſt nun da zu ſehen? Es kommen hier zwei Punkte in
Betracht. Der erſte iſt, daß man wiſſen muß, ob das kritiſche
Urtheil das Eine oder Andere durch andere Ruͤckſichten, z. B. Par-
theyanſichten, benachtheiligt iſt oder nicht. Alſo man muß die
Principien der verſchiedenen Kritik kennen. Iſt dieß beſeitigt, ſo
fragt ſich ferner, welchem Kritiker ſoll man am meiſten vertrauen?
Da iſt alſo eigenes Urtheil uͤber den Werth der kritiſchen Arbei-
ten etwas Unerlaͤßliches. Dieß iſt unmoͤglich ohne Kenntniß ihrer
Principien. Wer aber daruͤber urtheilen will, muß ſelbſt wieder
die Principien der Kritik im Großen und Ganzen kennen. Zu
dem Ende muß ſich jeder Theolog ſchon vorher um das Kritiſche
bekuͤmmert haben, nicht erſt an der Stelle, wo die hermeneutiſche
Operation es erfordert. Darnach hat er zu beurtheilen, worin
er dem einzelnen Kritiker zu trauen hat und worin nicht. Um
dieß methodiſch zu treiben, mache man ſich eine Claſſification der
Auctoritaͤten, denen man folgt. Das Weſentliche dabei waͤre Folgendes.

Bei der Leſung des N. T. zur Loͤſung der hermeneutiſchen
Aufgabe iſt das Naͤchſte die Huͤlfe der Commentatoren. Die Com-
mentare ſind zwar eigentlich exegetiſcher Art, aber ſie kommen
immer in den Fall, die verſchiedenen Leſearten zu beurtheilen.
Hat man nun einen Commentar, von dem man glaubt, daß man
ſich auf ſein kritiſches Urtheil verlaſſen kann, ſo hat man nicht
noͤthig, die kritiſche Operation ſelbſt zu machen, aber die Grund-
ſaͤze ſeines kritiſchen Verfahrens muß man kennen und ihn da-
nach beurtheilen und claſſificiren. Sagt ein Commentator, ich
halte mich ganz an Griesbach, ſo hat er eben gar kein eigenes
Urtheil. Beruft er ſich aber bald auf dieſe, bald auf jene kriti-
ſche Auctoritaͤt, oder er entſcheidet fuͤr ſich ſelbſt ohne Auctoritaͤt,
ſo hat er in beiden Faͤllen ein eigenes Urtheil, iſt kritiſch, und
ich muß wiſſen, welchen Principien er folgt. So haben wir alſo
eine Claſſe, die ſich ſelbſt als Kritiker darſtellenden Commentato-
ren. Die zweite Claſſe iſt dann die der eigentlichen kritiſchen Her-

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[351/0375] ſolche anerkenne, befrage, unter ſich einig ſind. Um zu entſchei- den, muß jeder Principien der Entſcheidung fuͤr ſich ſelbſt haben. Worauf iſt nun da zu ſehen? Es kommen hier zwei Punkte in Betracht. Der erſte iſt, daß man wiſſen muß, ob das kritiſche Urtheil das Eine oder Andere durch andere Ruͤckſichten, z. B. Par- theyanſichten, benachtheiligt iſt oder nicht. Alſo man muß die Principien der verſchiedenen Kritik kennen. Iſt dieß beſeitigt, ſo fragt ſich ferner, welchem Kritiker ſoll man am meiſten vertrauen? Da iſt alſo eigenes Urtheil uͤber den Werth der kritiſchen Arbei- ten etwas Unerlaͤßliches. Dieß iſt unmoͤglich ohne Kenntniß ihrer Principien. Wer aber daruͤber urtheilen will, muß ſelbſt wieder die Principien der Kritik im Großen und Ganzen kennen. Zu dem Ende muß ſich jeder Theolog ſchon vorher um das Kritiſche bekuͤmmert haben, nicht erſt an der Stelle, wo die hermeneutiſche Operation es erfordert. Darnach hat er zu beurtheilen, worin er dem einzelnen Kritiker zu trauen hat und worin nicht. Um dieß methodiſch zu treiben, mache man ſich eine Claſſification der Auctoritaͤten, denen man folgt. Das Weſentliche dabei waͤre Folgendes. Bei der Leſung des N. T. zur Loͤſung der hermeneutiſchen Aufgabe iſt das Naͤchſte die Huͤlfe der Commentatoren. Die Com- mentare ſind zwar eigentlich exegetiſcher Art, aber ſie kommen immer in den Fall, die verſchiedenen Leſearten zu beurtheilen. Hat man nun einen Commentar, von dem man glaubt, daß man ſich auf ſein kritiſches Urtheil verlaſſen kann, ſo hat man nicht noͤthig, die kritiſche Operation ſelbſt zu machen, aber die Grund- ſaͤze ſeines kritiſchen Verfahrens muß man kennen und ihn da- nach beurtheilen und claſſificiren. Sagt ein Commentator, ich halte mich ganz an Griesbach, ſo hat er eben gar kein eigenes Urtheil. Beruft er ſich aber bald auf dieſe, bald auf jene kriti- ſche Auctoritaͤt, oder er entſcheidet fuͤr ſich ſelbſt ohne Auctoritaͤt, ſo hat er in beiden Faͤllen ein eigenes Urtheil, iſt kritiſch, und ich muß wiſſen, welchen Principien er folgt. So haben wir alſo eine Claſſe, die ſich ſelbſt als Kritiker darſtellenden Commentato- ren. Die zweite Claſſe iſt dann die der eigentlichen kritiſchen Her-

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 351. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/375>, abgerufen am 22.12.2024.