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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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Außerdem waren die Cursivhandschriften mehr für den Privatge-
brauch, die Uncialhandschriften für den öffentlichen. Auch deßhalb
haben die lezteren mehr Präsumtion für sich.

Aber es ist nicht bloß auf das Alter der Handschriften zu
sehen, sondern auch auf das Vaterland. Hier kommt denn, wie
schon bemerkt, der Unterschied der rein griechischen und griechischla-
teinischen in Betracht. Was sich in den Handschriften der ältern
Zeit und in griechischen wie lateinischgriechischen findet, das ist
eine mit möglichster Vollkommenheit bezeugte Leseart.

In dem textus receptus finden wir eine Menge der bestbe-
zeugten Lesearten nicht. Unter diesen sind freilich viele nicht von
großer Wichtigkeit, sie enthalten oft nur eine Eigenthümlichkeit
der grammatischen Form. Aber oft kann man auch die bestbe-
zeugte Leseart nicht so lassen. Schlechtere Handschriften geben
Besseres dem Sinne nach. Aber jenes ist doch das Sichere, das
Spätere wahrscheinlich Correctur, die in den späteren Handschrif-
ten oft sehr leichtfertig gemacht ist. Man muß sich deßhalb
an das beglaubigt Alte, Verbreitete halten, und wenn es keinen
Sinn giebt, die Conjectur darauf bauen. Man bauet aber die
Conjecturalkritik hierauf viel sicherer, als auf den späteren Text.

Lassen sich für die Conjecturalkritik Regeln geben? Nein,
keine positiven Regeln, sondern nur Cautelen. Positive Regeln
aber so wenig, als es für das Erfinden eine Kunstlehre giebt.
Die Conjectur ist Sache des durch Übung gebildeten Talents.

Läßt sich das Ursprüngliche, was gesucht wird, durch Con-
jectur aus einer schwierigen Stelle allein herausbringen, oder
muß man Anderes zu Hülfe nehmen? Schon die Frage führt
auf das analoge Gebiet der hermeneutischen Operationen. Hier
soll man aus den Umgebungen den schwierigen Punkt zu ver-
stehen suchen. Diese Umgebungen reichen oft hin, oft nicht.
So gerade in der Kritik. Bisweilen braucht man nichts zu Hülfe
zu nehmen und erräth aus der Stelle selbst, was der Sinn sein
muß. Da gilt es denn aber, den entsprechenden Text zu finden,
woraus sich die Entstehung des Vorliegenden am leichtesten er-

Außerdem waren die Curſivhandſchriften mehr fuͤr den Privatge-
brauch, die Uncialhandſchriften fuͤr den oͤffentlichen. Auch deßhalb
haben die lezteren mehr Praͤſumtion fuͤr ſich.

Aber es iſt nicht bloß auf das Alter der Handſchriften zu
ſehen, ſondern auch auf das Vaterland. Hier kommt denn, wie
ſchon bemerkt, der Unterſchied der rein griechiſchen und griechiſchla-
teiniſchen in Betracht. Was ſich in den Handſchriften der aͤltern
Zeit und in griechiſchen wie lateiniſchgriechiſchen findet, das iſt
eine mit moͤglichſter Vollkommenheit bezeugte Leſeart.

In dem textus receptus finden wir eine Menge der beſtbe-
zeugten Leſearten nicht. Unter dieſen ſind freilich viele nicht von
großer Wichtigkeit, ſie enthalten oft nur eine Eigenthuͤmlichkeit
der grammatiſchen Form. Aber oft kann man auch die beſtbe-
zeugte Leſeart nicht ſo laſſen. Schlechtere Handſchriften geben
Beſſeres dem Sinne nach. Aber jenes iſt doch das Sichere, das
Spaͤtere wahrſcheinlich Correctur, die in den ſpaͤteren Handſchrif-
ten oft ſehr leichtfertig gemacht iſt. Man muß ſich deßhalb
an das beglaubigt Alte, Verbreitete halten, und wenn es keinen
Sinn giebt, die Conjectur darauf bauen. Man bauet aber die
Conjecturalkritik hierauf viel ſicherer, als auf den ſpaͤteren Text.

Laſſen ſich fuͤr die Conjecturalkritik Regeln geben? Nein,
keine poſitiven Regeln, ſondern nur Cautelen. Poſitive Regeln
aber ſo wenig, als es fuͤr das Erfinden eine Kunſtlehre giebt.
Die Conjectur iſt Sache des durch Übung gebildeten Talents.

Laͤßt ſich das Urſpruͤngliche, was geſucht wird, durch Con-
jectur aus einer ſchwierigen Stelle allein herausbringen, oder
muß man Anderes zu Huͤlfe nehmen? Schon die Frage fuͤhrt
auf das analoge Gebiet der hermeneutiſchen Operationen. Hier
ſoll man aus den Umgebungen den ſchwierigen Punkt zu ver-
ſtehen ſuchen. Dieſe Umgebungen reichen oft hin, oft nicht.
So gerade in der Kritik. Bisweilen braucht man nichts zu Huͤlfe
zu nehmen und erraͤth aus der Stelle ſelbſt, was der Sinn ſein
muß. Da gilt es denn aber, den entſprechenden Text zu finden,
woraus ſich die Entſtehung des Vorliegenden am leichteſten er-

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[338/0362] Außerdem waren die Curſivhandſchriften mehr fuͤr den Privatge- brauch, die Uncialhandſchriften fuͤr den oͤffentlichen. Auch deßhalb haben die lezteren mehr Praͤſumtion fuͤr ſich. Aber es iſt nicht bloß auf das Alter der Handſchriften zu ſehen, ſondern auch auf das Vaterland. Hier kommt denn, wie ſchon bemerkt, der Unterſchied der rein griechiſchen und griechiſchla- teiniſchen in Betracht. Was ſich in den Handſchriften der aͤltern Zeit und in griechiſchen wie lateiniſchgriechiſchen findet, das iſt eine mit moͤglichſter Vollkommenheit bezeugte Leſeart. In dem textus receptus finden wir eine Menge der beſtbe- zeugten Leſearten nicht. Unter dieſen ſind freilich viele nicht von großer Wichtigkeit, ſie enthalten oft nur eine Eigenthuͤmlichkeit der grammatiſchen Form. Aber oft kann man auch die beſtbe- zeugte Leſeart nicht ſo laſſen. Schlechtere Handſchriften geben Beſſeres dem Sinne nach. Aber jenes iſt doch das Sichere, das Spaͤtere wahrſcheinlich Correctur, die in den ſpaͤteren Handſchrif- ten oft ſehr leichtfertig gemacht iſt. Man muß ſich deßhalb an das beglaubigt Alte, Verbreitete halten, und wenn es keinen Sinn giebt, die Conjectur darauf bauen. Man bauet aber die Conjecturalkritik hierauf viel ſicherer, als auf den ſpaͤteren Text. Laſſen ſich fuͤr die Conjecturalkritik Regeln geben? Nein, keine poſitiven Regeln, ſondern nur Cautelen. Poſitive Regeln aber ſo wenig, als es fuͤr das Erfinden eine Kunſtlehre giebt. Die Conjectur iſt Sache des durch Übung gebildeten Talents. Laͤßt ſich das Urſpruͤngliche, was geſucht wird, durch Con- jectur aus einer ſchwierigen Stelle allein herausbringen, oder muß man Anderes zu Huͤlfe nehmen? Schon die Frage fuͤhrt auf das analoge Gebiet der hermeneutiſchen Operationen. Hier ſoll man aus den Umgebungen den ſchwierigen Punkt zu ver- ſtehen ſuchen. Dieſe Umgebungen reichen oft hin, oft nicht. So gerade in der Kritik. Bisweilen braucht man nichts zu Huͤlfe zu nehmen und erraͤth aus der Stelle ſelbſt, was der Sinn ſein muß. Da gilt es denn aber, den entſprechenden Text zu finden, woraus ſich die Entſtehung des Vorliegenden am leichteſten er-

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 338. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/362>, abgerufen am 22.12.2024.