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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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soll nach der obigen Regel die kürzere Leseart vorziehen, aber die
längere enthält etwas, wodurch von der Stelle ein heterodoxer
Schein abgewendet wird. Sie wäre also die orthodoxere. Da
ziehe ich die kürzere vor, aber aus einem ganz andern Grunde.
Es kann indeß auch etwas weggelassen sein, weil es einen hetero-
doxen Sinn gäbe. Soweit wäre also die Auslassung, weil sie
aus einem orthodoxen Motif entstanden wäre, zu verwerfen, und
die längere Leseart vorzuziehen. Eben so kann es sein in Bezie-
hung auf das Ascetische. Aus dem allen aber folgt, daß man
erst eine Rangordnung zwischen den beiden Voraussezungen und
somit zwischen den Regeln selbst feststellen müßte.

Was hat die Präsumtion für sich öfter vorzukommen, mecha-
nische Irrungen, oder direkte oder indirekt absichtliche Änderungen?

Die ersteren sind fast unvermeidlich gewesen. Die indirekt
absichtlichen Änderungen können nur aus dem Privatgebrauch her-
vorgehen und können nicht allgemein gedacht werden. Die direkt
absichtlichen Änderungen sind die seltensten.

Man denkt sich gewöhnlich, daß die leztern besonders häufig
in den kirchlichen Streigkeiten geschehen seien. Aber diese gehören
einer Zeit an, wo es schon eine Menge von Abweichungen im
N. T. gab. Und was hätte einer gewinnen können durch Ver-
fälschung seines Exemplars? Andere hätten es, wenn er sich dar-
auf berufen, gar nicht anerkannt. Oder hätte er hoffen sollen,
eine verderbliche Saat für eine künftige Ernte zu säen, die er
gar nicht mehr hätte erleben können?

Es giebt freilich Beispiele von absichtlicher Verfälschung.
Die sind aber anderer Art und gehen weiter, als was wir bis-
her behandelt haben. So giebt man dem Marcion schuld, er habe
nicht nur den neutest. Kanon einer bestimmten Theorie gemäß
zugestuzt, sondern auch die einzelnen Schriften darnach zurecht-
gemacht, namentlich viel daraus weggeschnitten. Das wäre frei-
lich eins der stärksten Exempel. Aber wie steht es damit? Um
die Anschuldigung zu beweisen, müßten alle Differenzen eine be-
stimmte Physiognomie haben und sich aus seinen Principien er-

ſoll nach der obigen Regel die kuͤrzere Leſeart vorziehen, aber die
laͤngere enthaͤlt etwas, wodurch von der Stelle ein heterodoxer
Schein abgewendet wird. Sie waͤre alſo die orthodoxere. Da
ziehe ich die kuͤrzere vor, aber aus einem ganz andern Grunde.
Es kann indeß auch etwas weggelaſſen ſein, weil es einen hetero-
doxen Sinn gaͤbe. Soweit waͤre alſo die Auslaſſung, weil ſie
aus einem orthodoxen Motif entſtanden waͤre, zu verwerfen, und
die laͤngere Leſeart vorzuziehen. Eben ſo kann es ſein in Bezie-
hung auf das Aſcetiſche. Aus dem allen aber folgt, daß man
erſt eine Rangordnung zwiſchen den beiden Vorausſezungen und
ſomit zwiſchen den Regeln ſelbſt feſtſtellen muͤßte.

Was hat die Praͤſumtion fuͤr ſich oͤfter vorzukommen, mecha-
niſche Irrungen, oder direkte oder indirekt abſichtliche Änderungen?

Die erſteren ſind faſt unvermeidlich geweſen. Die indirekt
abſichtlichen Änderungen koͤnnen nur aus dem Privatgebrauch her-
vorgehen und koͤnnen nicht allgemein gedacht werden. Die direkt
abſichtlichen Änderungen ſind die ſeltenſten.

Man denkt ſich gewoͤhnlich, daß die leztern beſonders haͤufig
in den kirchlichen Streigkeiten geſchehen ſeien. Aber dieſe gehoͤren
einer Zeit an, wo es ſchon eine Menge von Abweichungen im
N. T. gab. Und was haͤtte einer gewinnen koͤnnen durch Ver-
faͤlſchung ſeines Exemplars? Andere haͤtten es, wenn er ſich dar-
auf berufen, gar nicht anerkannt. Oder haͤtte er hoffen ſollen,
eine verderbliche Saat fuͤr eine kuͤnftige Ernte zu ſaͤen, die er
gar nicht mehr haͤtte erleben koͤnnen?

Es giebt freilich Beiſpiele von abſichtlicher Verfaͤlſchung.
Die ſind aber anderer Art und gehen weiter, als was wir bis-
her behandelt haben. So giebt man dem Marcion ſchuld, er habe
nicht nur den neuteſt. Kanon einer beſtimmten Theorie gemaͤß
zugeſtuzt, ſondern auch die einzelnen Schriften darnach zurecht-
gemacht, namentlich viel daraus weggeſchnitten. Das waͤre frei-
lich eins der ſtaͤrkſten Exempel. Aber wie ſteht es damit? Um
die Anſchuldigung zu beweiſen, muͤßten alle Differenzen eine be-
ſtimmte Phyſiognomie haben und ſich aus ſeinen Principien er-

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[333/0357] ſoll nach der obigen Regel die kuͤrzere Leſeart vorziehen, aber die laͤngere enthaͤlt etwas, wodurch von der Stelle ein heterodoxer Schein abgewendet wird. Sie waͤre alſo die orthodoxere. Da ziehe ich die kuͤrzere vor, aber aus einem ganz andern Grunde. Es kann indeß auch etwas weggelaſſen ſein, weil es einen hetero- doxen Sinn gaͤbe. Soweit waͤre alſo die Auslaſſung, weil ſie aus einem orthodoxen Motif entſtanden waͤre, zu verwerfen, und die laͤngere Leſeart vorzuziehen. Eben ſo kann es ſein in Bezie- hung auf das Aſcetiſche. Aus dem allen aber folgt, daß man erſt eine Rangordnung zwiſchen den beiden Vorausſezungen und ſomit zwiſchen den Regeln ſelbſt feſtſtellen muͤßte. Was hat die Praͤſumtion fuͤr ſich oͤfter vorzukommen, mecha- niſche Irrungen, oder direkte oder indirekt abſichtliche Änderungen? Die erſteren ſind faſt unvermeidlich geweſen. Die indirekt abſichtlichen Änderungen koͤnnen nur aus dem Privatgebrauch her- vorgehen und koͤnnen nicht allgemein gedacht werden. Die direkt abſichtlichen Änderungen ſind die ſeltenſten. Man denkt ſich gewoͤhnlich, daß die leztern beſonders haͤufig in den kirchlichen Streigkeiten geſchehen ſeien. Aber dieſe gehoͤren einer Zeit an, wo es ſchon eine Menge von Abweichungen im N. T. gab. Und was haͤtte einer gewinnen koͤnnen durch Ver- faͤlſchung ſeines Exemplars? Andere haͤtten es, wenn er ſich dar- auf berufen, gar nicht anerkannt. Oder haͤtte er hoffen ſollen, eine verderbliche Saat fuͤr eine kuͤnftige Ernte zu ſaͤen, die er gar nicht mehr haͤtte erleben koͤnnen? Es giebt freilich Beiſpiele von abſichtlicher Verfaͤlſchung. Die ſind aber anderer Art und gehen weiter, als was wir bis- her behandelt haben. So giebt man dem Marcion ſchuld, er habe nicht nur den neuteſt. Kanon einer beſtimmten Theorie gemaͤß zugeſtuzt, ſondern auch die einzelnen Schriften darnach zurecht- gemacht, namentlich viel daraus weggeſchnitten. Das waͤre frei- lich eins der ſtaͤrkſten Exempel. Aber wie ſteht es damit? Um die Anſchuldigung zu beweiſen, muͤßten alle Differenzen eine be- ſtimmte Phyſiognomie haben und ſich aus ſeinen Principien er-

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 333. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/357>, abgerufen am 05.05.2024.