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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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klären lassen. Ist dieß möglich? Es ist eine unrichtige Behaup-
tung, daß Marcion den ganzen Kanon des N. T., wie wir ihn
haben, gekannt habe. Sein Kanon gehört in die Bildungszeit
des neutest. Kanons und konnte wol nach den Verhältnissen der
Zeit nicht anders sein. Liest man Tertullian und Epiphanius
gegen Marcion, so bleibt man schwankend, ob das Evangelium
des Marcion das des Lukas gewesen, oder nur ein sehr ähnliches.
Selbst die Hahnsche Untersuchung giebt noch keine Gewißheit,
daß Marcion wirklich unsern Lukas vor sich gehabt und daß alles
Abweichende sein Werk sei. Die Differenzen, welche Tertullian
ihm alle als absichtlich zuschreibt, sind nicht alle von der Art,
daß sie sich aus seinen Ideen ableiten lassen. Was sich aber
nicht als absichtliche Änderung aus Marcions persönlicher Ansicht
erklären läßt, ist auch überhaupt nicht als absichtliche Änderung
anzusehen. Wir wissen nicht, wie in dieser Beziehung sein Text
ausgesehen, und so wie man Zusäze hat, die zweifelhaft sind, so
wird auch alles Übrige zweifelhaft.

Bei Marcion handelt es sich übrigens um den Text eines
einzigen Mannes. Das ist aber etwas anderes, als wenn man
allgemein aufstellt, daß von Orthodoxen und Heterodoxen absicht-
liche Änderungen gemacht seien. Dieß ist um so unwahrscheinli-
cher, als die kirchlichen Streitigkeiten gar nicht auf dem Boden
versirten, daß sie durch eine einzelne Schriftstelle zu entscheiden
wären. Man sieht dieß besonders aus den Arianischen Streitig-
keiten. Ein bedeutender Theil des Abendlandes war Arianisch.
Hätte nun diese Doctrin nöthig gehabt, den Text zu ändern, so
müßte ja in den occidentalischen Texten eine Menge Verfälschun-
gen der Art vorhanden sein, was aber gar nicht der Fall ist.
Es drehete sich aber in den Streitigkeiten überhaupt nicht um
die Leseart, sondern um die Exegese.

Liegt die Sache nun gar so, daß eine Stelle auf zweierlei
Art anzusehen ist, nemlich so, daß die eine Leseart als Beweis
für eine bestimmte Lehre anzusehen ist, die andere nicht, so habe
ich gleiches Recht zu sagen, die eine Partei hat zu Gunsten ihrer

klaͤren laſſen. Iſt dieß moͤglich? Es iſt eine unrichtige Behaup-
tung, daß Marcion den ganzen Kanon des N. T., wie wir ihn
haben, gekannt habe. Sein Kanon gehoͤrt in die Bildungszeit
des neuteſt. Kanons und konnte wol nach den Verhaͤltniſſen der
Zeit nicht anders ſein. Lieſt man Tertullian und Epiphanius
gegen Marcion, ſo bleibt man ſchwankend, ob das Evangelium
des Marcion das des Lukas geweſen, oder nur ein ſehr aͤhnliches.
Selbſt die Hahnſche Unterſuchung giebt noch keine Gewißheit,
daß Marcion wirklich unſern Lukas vor ſich gehabt und daß alles
Abweichende ſein Werk ſei. Die Differenzen, welche Tertullian
ihm alle als abſichtlich zuſchreibt, ſind nicht alle von der Art,
daß ſie ſich aus ſeinen Ideen ableiten laſſen. Was ſich aber
nicht als abſichtliche Änderung aus Marcions perſoͤnlicher Anſicht
erklaͤren laͤßt, iſt auch uͤberhaupt nicht als abſichtliche Änderung
anzuſehen. Wir wiſſen nicht, wie in dieſer Beziehung ſein Text
ausgeſehen, und ſo wie man Zuſaͤze hat, die zweifelhaft ſind, ſo
wird auch alles Übrige zweifelhaft.

Bei Marcion handelt es ſich uͤbrigens um den Text eines
einzigen Mannes. Das iſt aber etwas anderes, als wenn man
allgemein aufſtellt, daß von Orthodoxen und Heterodoxen abſicht-
liche Änderungen gemacht ſeien. Dieß iſt um ſo unwahrſcheinli-
cher, als die kirchlichen Streitigkeiten gar nicht auf dem Boden
verſirten, daß ſie durch eine einzelne Schriftſtelle zu entſcheiden
waͤren. Man ſieht dieß beſonders aus den Arianiſchen Streitig-
keiten. Ein bedeutender Theil des Abendlandes war Arianiſch.
Haͤtte nun dieſe Doctrin noͤthig gehabt, den Text zu aͤndern, ſo
muͤßte ja in den occidentaliſchen Texten eine Menge Verfaͤlſchun-
gen der Art vorhanden ſein, was aber gar nicht der Fall iſt.
Es drehete ſich aber in den Streitigkeiten uͤberhaupt nicht um
die Leſeart, ſondern um die Exegeſe.

Liegt die Sache nun gar ſo, daß eine Stelle auf zweierlei
Art anzuſehen iſt, nemlich ſo, daß die eine Leſeart als Beweis
fuͤr eine beſtimmte Lehre anzuſehen iſt, die andere nicht, ſo habe
ich gleiches Recht zu ſagen, die eine Partei hat zu Gunſten ihrer

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[334/0358] klaͤren laſſen. Iſt dieß moͤglich? Es iſt eine unrichtige Behaup- tung, daß Marcion den ganzen Kanon des N. T., wie wir ihn haben, gekannt habe. Sein Kanon gehoͤrt in die Bildungszeit des neuteſt. Kanons und konnte wol nach den Verhaͤltniſſen der Zeit nicht anders ſein. Lieſt man Tertullian und Epiphanius gegen Marcion, ſo bleibt man ſchwankend, ob das Evangelium des Marcion das des Lukas geweſen, oder nur ein ſehr aͤhnliches. Selbſt die Hahnſche Unterſuchung giebt noch keine Gewißheit, daß Marcion wirklich unſern Lukas vor ſich gehabt und daß alles Abweichende ſein Werk ſei. Die Differenzen, welche Tertullian ihm alle als abſichtlich zuſchreibt, ſind nicht alle von der Art, daß ſie ſich aus ſeinen Ideen ableiten laſſen. Was ſich aber nicht als abſichtliche Änderung aus Marcions perſoͤnlicher Anſicht erklaͤren laͤßt, iſt auch uͤberhaupt nicht als abſichtliche Änderung anzuſehen. Wir wiſſen nicht, wie in dieſer Beziehung ſein Text ausgeſehen, und ſo wie man Zuſaͤze hat, die zweifelhaft ſind, ſo wird auch alles Übrige zweifelhaft. Bei Marcion handelt es ſich uͤbrigens um den Text eines einzigen Mannes. Das iſt aber etwas anderes, als wenn man allgemein aufſtellt, daß von Orthodoxen und Heterodoxen abſicht- liche Änderungen gemacht ſeien. Dieß iſt um ſo unwahrſcheinli- cher, als die kirchlichen Streitigkeiten gar nicht auf dem Boden verſirten, daß ſie durch eine einzelne Schriftſtelle zu entſcheiden waͤren. Man ſieht dieß beſonders aus den Arianiſchen Streitig- keiten. Ein bedeutender Theil des Abendlandes war Arianiſch. Haͤtte nun dieſe Doctrin noͤthig gehabt, den Text zu aͤndern, ſo muͤßte ja in den occidentaliſchen Texten eine Menge Verfaͤlſchun- gen der Art vorhanden ſein, was aber gar nicht der Fall iſt. Es drehete ſich aber in den Streitigkeiten uͤberhaupt nicht um die Leſeart, ſondern um die Exegeſe. Liegt die Sache nun gar ſo, daß eine Stelle auf zweierlei Art anzuſehen iſt, nemlich ſo, daß die eine Leſeart als Beweis fuͤr eine beſtimmte Lehre anzuſehen iſt, die andere nicht, ſo habe ich gleiches Recht zu ſagen, die eine Partei hat zu Gunſten ihrer

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 334. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/358>, abgerufen am 22.12.2024.