Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

da man nicht recht weiß, ob eine Änderung der Art aus mecha-
nischer Irrung oder absichtlich entstanden ist. Allein häufig ist
das erstere der Fall. Deßhalb ist die Handschrift, wo sich der-
gleichen findet, nicht geradezu für schlecht zu halten, aber in
solchen Punkten muß man sich dann in Acht nehmen. Weiter
werden wir auf dieser Seite der Aufgabe nicht gehen können.
Nach jener Regel ist bei Differenzen aus mechanischen Irrungen
zu verfahren, um mit so viel Sicherheit als der Zustand der
Dinge zuläßt aus dem Vorhandenen zu wählen, und so einen,
in der Zeit, woraus die ältesten Handschriften sind, verbreitet
gewesenen Text zu gewinnen. Wo dann kein geschlossener Sinn
ist, da kann die Conjectur helfen, oder auch aus späteren Hand-
schriften genommen werden, was richtig zu sein scheint.

Alle bisher aufgestellten Regeln sind aber, wie man sieht,
nicht sehr positiver Natur, sondern sie gehen mehr auf das
Eliminiren alles dessen, was einen schlechten, illegitimen Ursprung
zu haben scheint. Aber schwerlich werden sich immer alle Ver-
schiedenheiten eliminiren lassen bis auf Eine Leseart. Wir müssen
froh sein, das zu erkennen, was in der möglich frühesten Zeit
am allgemeinsten verbreitet gewesen ist.

Wir bezeichneten vorher Fälle, wo man schwanken kann, ob
der Fehler auf eine mechanische Irrung oder auf Absicht zurückzu-
führen sei. Dieß führt zu dem zweiten Theile der Kritik. Ehe
wir aber dazu übergehen, noch einige Bemerkungen über den
Gesammtzustand der neutest. Kritik. Dieser ist noch gar sehr
verworren. Besonders sind es zwei Extreme, die man häufig
findet, -- der etwas leichtfertige und doch auch wieder
schwerfällige Glaube an die Theorie von den verschiedenen
Recensionen des neutest. Textes. Schwerfällig, weil die
ganze Hypothese so unsicher ist, daß man die Recension nur
schäzen kann durch eine Mannigfaltigkeit von Ausnahmen und
Übergängen; leichtfertig, weil es an aller wahren Begründung
fehlt. Die Abschriften mögen in gewissen Provinzen überwiegend
ähnlich gewesen sein, das sind aber noch keine Recensionen.

da man nicht recht weiß, ob eine Änderung der Art aus mecha-
niſcher Irrung oder abſichtlich entſtanden iſt. Allein haͤufig iſt
das erſtere der Fall. Deßhalb iſt die Handſchrift, wo ſich der-
gleichen findet, nicht geradezu fuͤr ſchlecht zu halten, aber in
ſolchen Punkten muß man ſich dann in Acht nehmen. Weiter
werden wir auf dieſer Seite der Aufgabe nicht gehen koͤnnen.
Nach jener Regel iſt bei Differenzen aus mechaniſchen Irrungen
zu verfahren, um mit ſo viel Sicherheit als der Zuſtand der
Dinge zulaͤßt aus dem Vorhandenen zu waͤhlen, und ſo einen,
in der Zeit, woraus die aͤlteſten Handſchriften ſind, verbreitet
geweſenen Text zu gewinnen. Wo dann kein geſchloſſener Sinn
iſt, da kann die Conjectur helfen, oder auch aus ſpaͤteren Hand-
ſchriften genommen werden, was richtig zu ſein ſcheint.

Alle bisher aufgeſtellten Regeln ſind aber, wie man ſieht,
nicht ſehr poſitiver Natur, ſondern ſie gehen mehr auf das
Eliminiren alles deſſen, was einen ſchlechten, illegitimen Urſprung
zu haben ſcheint. Aber ſchwerlich werden ſich immer alle Ver-
ſchiedenheiten eliminiren laſſen bis auf Eine Leſeart. Wir muͤſſen
froh ſein, das zu erkennen, was in der moͤglich fruͤheſten Zeit
am allgemeinſten verbreitet geweſen iſt.

Wir bezeichneten vorher Faͤlle, wo man ſchwanken kann, ob
der Fehler auf eine mechaniſche Irrung oder auf Abſicht zuruͤckzu-
fuͤhren ſei. Dieß fuͤhrt zu dem zweiten Theile der Kritik. Ehe
wir aber dazu uͤbergehen, noch einige Bemerkungen uͤber den
Geſammtzuſtand der neuteſt. Kritik. Dieſer iſt noch gar ſehr
verworren. Beſonders ſind es zwei Extreme, die man haͤufig
findet, — der etwas leichtfertige und doch auch wieder
ſchwerfaͤllige Glaube an die Theorie von den verſchiedenen
Recenſionen des neuteſt. Textes. Schwerfaͤllig, weil die
ganze Hypotheſe ſo unſicher iſt, daß man die Recenſion nur
ſchaͤzen kann durch eine Mannigfaltigkeit von Ausnahmen und
Übergaͤngen; leichtfertig, weil es an aller wahren Begruͤndung
fehlt. Die Abſchriften moͤgen in gewiſſen Provinzen uͤberwiegend
aͤhnlich geweſen ſein, das ſind aber noch keine Recenſionen.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0343" n="319"/>
da man nicht recht weiß, ob eine Änderung der Art aus mecha-<lb/>
ni&#x017F;cher Irrung oder ab&#x017F;ichtlich ent&#x017F;tanden i&#x017F;t. Allein ha&#x0364;ufig i&#x017F;t<lb/>
das er&#x017F;tere der Fall. Deßhalb i&#x017F;t die Hand&#x017F;chrift, wo &#x017F;ich der-<lb/>
gleichen findet, nicht geradezu fu&#x0364;r &#x017F;chlecht zu halten, aber in<lb/>
&#x017F;olchen Punkten muß man &#x017F;ich dann in Acht nehmen. Weiter<lb/>
werden wir auf die&#x017F;er Seite der Aufgabe nicht gehen ko&#x0364;nnen.<lb/>
Nach jener Regel i&#x017F;t bei Differenzen aus mechani&#x017F;chen Irrungen<lb/>
zu verfahren, um mit &#x017F;o viel Sicherheit als der Zu&#x017F;tand der<lb/>
Dinge zula&#x0364;ßt aus dem Vorhandenen zu wa&#x0364;hlen, und &#x017F;o einen,<lb/>
in der Zeit, woraus die a&#x0364;lte&#x017F;ten Hand&#x017F;chriften &#x017F;ind, verbreitet<lb/>
gewe&#x017F;enen Text zu gewinnen. Wo dann kein ge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;ener Sinn<lb/>
i&#x017F;t, da kann die Conjectur helfen, oder auch aus &#x017F;pa&#x0364;teren Hand-<lb/>
&#x017F;chriften genommen werden, was richtig zu &#x017F;ein &#x017F;cheint.</p><lb/>
            <p>Alle bisher aufge&#x017F;tellten Regeln &#x017F;ind aber, wie man &#x017F;ieht,<lb/>
nicht &#x017F;ehr po&#x017F;itiver Natur, &#x017F;ondern &#x017F;ie gehen mehr auf das<lb/>
Eliminiren alles de&#x017F;&#x017F;en, was einen &#x017F;chlechten, illegitimen Ur&#x017F;prung<lb/>
zu haben &#x017F;cheint. Aber &#x017F;chwerlich werden &#x017F;ich immer alle Ver-<lb/>
&#x017F;chiedenheiten eliminiren la&#x017F;&#x017F;en bis auf Eine Le&#x017F;eart. Wir mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en<lb/>
froh &#x017F;ein, das zu erkennen, was in der mo&#x0364;glich fru&#x0364;he&#x017F;ten Zeit<lb/>
am allgemein&#x017F;ten verbreitet gewe&#x017F;en i&#x017F;t.</p><lb/>
            <p>Wir bezeichneten vorher Fa&#x0364;lle, wo man &#x017F;chwanken kann, ob<lb/>
der Fehler auf eine mechani&#x017F;che Irrung oder auf Ab&#x017F;icht zuru&#x0364;ckzu-<lb/>
fu&#x0364;hren &#x017F;ei. Dieß fu&#x0364;hrt zu dem zweiten Theile der Kritik. Ehe<lb/>
wir aber dazu u&#x0364;bergehen, noch einige Bemerkungen u&#x0364;ber den<lb/>
Ge&#x017F;ammtzu&#x017F;tand der neute&#x017F;t. Kritik. Die&#x017F;er i&#x017F;t noch gar &#x017F;ehr<lb/>
verworren. Be&#x017F;onders &#x017F;ind es zwei Extreme, die man ha&#x0364;ufig<lb/>
findet, &#x2014; der etwas <hi rendition="#g">leichtfertige</hi> und doch auch wieder<lb/><hi rendition="#g">&#x017F;chwerfa&#x0364;llige</hi> Glaube an die Theorie von den ver&#x017F;chiedenen<lb/>
Recen&#x017F;ionen des neute&#x017F;t. Textes. <hi rendition="#g">Schwerfa&#x0364;llig</hi>, weil die<lb/>
ganze Hypothe&#x017F;e &#x017F;o un&#x017F;icher i&#x017F;t, daß man die Recen&#x017F;ion nur<lb/>
&#x017F;cha&#x0364;zen kann durch eine Mannigfaltigkeit von Ausnahmen und<lb/>
Überga&#x0364;ngen; <hi rendition="#g">leichtfertig</hi>, weil es an aller wahren Begru&#x0364;ndung<lb/>
fehlt. Die Ab&#x017F;chriften mo&#x0364;gen in gewi&#x017F;&#x017F;en Provinzen u&#x0364;berwiegend<lb/>
a&#x0364;hnlich gewe&#x017F;en &#x017F;ein, das &#x017F;ind aber noch keine Recen&#x017F;ionen.<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[319/0343] da man nicht recht weiß, ob eine Änderung der Art aus mecha- niſcher Irrung oder abſichtlich entſtanden iſt. Allein haͤufig iſt das erſtere der Fall. Deßhalb iſt die Handſchrift, wo ſich der- gleichen findet, nicht geradezu fuͤr ſchlecht zu halten, aber in ſolchen Punkten muß man ſich dann in Acht nehmen. Weiter werden wir auf dieſer Seite der Aufgabe nicht gehen koͤnnen. Nach jener Regel iſt bei Differenzen aus mechaniſchen Irrungen zu verfahren, um mit ſo viel Sicherheit als der Zuſtand der Dinge zulaͤßt aus dem Vorhandenen zu waͤhlen, und ſo einen, in der Zeit, woraus die aͤlteſten Handſchriften ſind, verbreitet geweſenen Text zu gewinnen. Wo dann kein geſchloſſener Sinn iſt, da kann die Conjectur helfen, oder auch aus ſpaͤteren Hand- ſchriften genommen werden, was richtig zu ſein ſcheint. Alle bisher aufgeſtellten Regeln ſind aber, wie man ſieht, nicht ſehr poſitiver Natur, ſondern ſie gehen mehr auf das Eliminiren alles deſſen, was einen ſchlechten, illegitimen Urſprung zu haben ſcheint. Aber ſchwerlich werden ſich immer alle Ver- ſchiedenheiten eliminiren laſſen bis auf Eine Leſeart. Wir muͤſſen froh ſein, das zu erkennen, was in der moͤglich fruͤheſten Zeit am allgemeinſten verbreitet geweſen iſt. Wir bezeichneten vorher Faͤlle, wo man ſchwanken kann, ob der Fehler auf eine mechaniſche Irrung oder auf Abſicht zuruͤckzu- fuͤhren ſei. Dieß fuͤhrt zu dem zweiten Theile der Kritik. Ehe wir aber dazu uͤbergehen, noch einige Bemerkungen uͤber den Geſammtzuſtand der neuteſt. Kritik. Dieſer iſt noch gar ſehr verworren. Beſonders ſind es zwei Extreme, die man haͤufig findet, — der etwas leichtfertige und doch auch wieder ſchwerfaͤllige Glaube an die Theorie von den verſchiedenen Recenſionen des neuteſt. Textes. Schwerfaͤllig, weil die ganze Hypotheſe ſo unſicher iſt, daß man die Recenſion nur ſchaͤzen kann durch eine Mannigfaltigkeit von Ausnahmen und Übergaͤngen; leichtfertig, weil es an aller wahren Begruͤndung fehlt. Die Abſchriften moͤgen in gewiſſen Provinzen uͤberwiegend aͤhnlich geweſen ſein, das ſind aber noch keine Recenſionen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/343
Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 319. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/343>, abgerufen am 04.05.2024.